Tichys Einblick
Stimmen und Stimmungen

Was wir von den Briten lernen können

Die deutschen Leitmedien reagieren mit Unverständnis auf die Lebendigkeit der Demokratie im Vereinigten Königreich. Dabei ist es der stete Kampf der Institutionen, der die britische Demokratie über 300 Jahre immer entscheidungsfähig hielt.

imago images / Xinhua

Die vergangenen drei Jahre, in denen das Vereinigte Königreich sich zunächst zu einem Austritt aus der Europäischen Union entschloss, diesen Beschluss dann anfangs auf die eine Weise und nun auf eine andere Weise in die Tat umzusetzen versuchte, waren im wesentlichen durch drei kollektive Stimmungen geprägt, in denen sich Staat und Nation gemeinsam wiederfanden.

1. So basierte schon der von vielen Kommentatoren nicht eben für wahrscheinlich gehaltene Austrittsbeschluss vom 23. Juni 2016 auf einem auch jenseits des Ärmelkanals verbreiteten Unmut über die EU und ihr Hineinregieren in nationale Belange, sei es durch Parlaments- oder Gerichtsbeschlüsse. Daneben spielten die einsamen Entscheidungen einzelner Mitgliedstaaten hier sicher eine Rolle, namentlich jener Entschluss der deutschen Bundeskanzlerin, als sie im Herbst 2015 den Schutz der EU-Außengrenzen in verschiedenen Äußerungen als nicht realisierbar hinstellte. Die EU-Skepsis der Briten, die zuvor (teilweise auch seither) eine Terra incognita für die politische Klasse wie auch für einen Großteil der veröffentlichten Meinung darstellte, hatte sich damit in einem Verfassungsakt ersten Ranges manifestiert.

Immer wieder gilt es hier daran zu erinnern, dass »das Volk« (also die Gesamtheit der Bürger) eigentlich nicht revolutionär ist, vielmehr für gewöhnlich – darin der Politik gleich, die es ihm vorbetet – am bestehenden Status quo der Dinge festhält. Das gilt, solange es keine ernsthaften Probleme in diesen erkennt. Wenn es aber erkennt, dann erkennt das Volk langsam, aber beständig. Seine wachsende Überzeugung wird ihm nur allmählich zur Gewissheit. Immer horcht es auf den Rat jener, die »Expertenwissen« – bald ökonomischer, bald politischer Art –  zu besitzen scheinen, weil sie den Kreisen der Macht in beiden Bereichen ein Deut näher sind. Das Volk wankt deshalb und fragt sich beständig, ob das eigene Bauchgefühl auch richtig ist. Dies ist folglich ein Prozess, den man als Ausprägung einer kollektiven Stimmung beschreiben kann, die sich in den Dialog mit der technischen Intelligenz begibt. Wer von beiden sich behauptet, ist dabei stets eine offene Frage.

2. Die zweite Stimmung der Briten war daher eine gewisse Furchtsamkeit, welche die Güte des eigenen Entschlusses in Frage stellte und – von technisch versierten Beratern beeinflusst – ihr Heil in einem Abwiegeln des Referendums sah. Theresa Mays Regierungsstil war Ausdruck dieser im Kern furchtsamen Stimmung. Auch wenn es die Parteioberen waren, die sie im Sommer 2016 relativ zügig als Vorsitzende und damit als Premierministerin auserkoren hatten, entsprach ihr schwankender Politikstil zugleich dem Schwanken der gesamten Nation, die ihr kein Mandat für eine etwas inhaltsleere Position (»Brexit means Brexit«) gab, aber auch den Konkurrenten kein gegenteiliges Mandat erteilte.

3. Die furchtsame Stimmung scheint nun gewichen. Schon im Juli wunderte sich der konservative Kolumnist und Remain-Befürworter Matthew Parris über den schwindenden Horror der Briten vor einem drohenden Austritt ohne Abkommen, während Douglas Murray, Herausgeber des nicht minder konservativen Spectator, von der BBC-Moderatorin als »No-Deal-Purist« verdächtigt wurde, jedoch darauf beharrte, keiner zu sein: Jede Art von Austritt sei inzwischen dem Nicht-Austritt vorzuziehen.

In der deutschen veröffentlichten Meinung mag man dies meist noch nicht so sehen. Zu groß ist noch der Abschiedsschmerz von den Briten, die uns in vielen ordnungspolitischen Fragen zur Seite gestanden waren. Zu groß bei vielen auch die Enttäuschung über die eigenständige, souveräne Entscheidung der Briten und Nordiren gegen den Staatenbund EU. Es wird daher fleißig polemisiert und moralisiert gegen soviel Eigensinn, doch auch und vor allem gegen so viel Selbstbewusstsein und Mut; denn so könnte die dritte der Stimmungen des britischen Volks überschrieben werden.

Fassungslose ARD und der »Spinner« Corbyn

WDR-Chefredakteurin Ellen Ehni, eigentlich nur Moderatorin im sonntäglichen »Presseclub«, war nun vor allem »fassungslos« und ließ das nicht nur alle und mehrfach wissen, sondern erwartete zudem von ihren Gästen, in denselben Panikmodus zu verfallen. Die Aufgabe, das überbordende Gefühl der Moderatorin in Worte zu fassen, kam zunächst dem Auslands-Engländer Grahame Lucas zu, den Ehni danach befragte, was die Situation »mit ihm« mache. Auch sonst blieb Ehni unfähig, einmal eine offene, nicht suggestive Frage zu stellen. Daneben auch viele »Verständnisfragen« einer Moderatorin, die offenbar ganz aus dem Häuschen war. Was der Backstop ist, hatte sie sich jedenfalls »noch mal schwarz auf weiß aufgeschrieben«, um es ja nicht in der Aufregung ihrer Sendung zu vergessen. Die Journalistenrunde bestand dabei weitgehend aus Bedenkenträgern. Den Johnson-kritischen Zungenschlag der Sendung begrenzte nur die gemäßigte Kritikerin Ursula Weidenfeld, die darauf hinwies, dass ein festes Bündnis der Oppositionsparteien derzeit unwahrscheinlich sei: »… weil Corbyn auch ein Spinner ist… [räusper] für einen Spinner gehalten wird«, der für viele nicht wählbar sei.

Abends bei »Anne Will« wurde dann erneut auf die Tränendrüse gedrückt. In der Tat ist nichts so schlimm, wie wenn Rolf-Dieter Krause – alterndes Brüssler ARD-Menetekel – an das Schicksal der »Menschen!« (mit tränentropfendem Ausrufezeichen) erinnert, die angeblich unter die Räder von Johnsons Politik kämen, wenn ein Austritt ohne Abkommen stattfände. Der britische Abgeordnete Greg Hands konnte dagegen nur die Wichtigkeit des demokratischen Gedankens in Großbritannien hervorheben und auf die steigenden Umfragewerte der Konservativen unter Johnsons Führung verweisen. Hands, der weder für den Brexit noch für Johnson als Premier gestimmt hat, verteidigte dennoch tapfer die Notwendigkeit einer endlichen Lösung für das Ausstiegsdilemma.

Schließlich schwang sich der für immer und ewig geschniegelte Norbert Röttgen, der heimliche Chefdiplomat der Unionsfraktion, zum Vorkämpfer (oder selbsternannten Entwicklungshelfer) für Demokratie in Großbritannien auf. Ein zweites Referendum müsse her, um die Bereitschaft der Briten zum Austritt nochmals zu überprüfen. Wer sagt eigentlich, dass eine Mehrheit der Briten ihre Meinung dann ändern würde? Doch dass man das Volk gegen die Parlamentarier in Stellung bringt (wie es der finstere Dominic Cummings tue), gilt Röttgen in gut obrigkeitsstaatlicher Tradition als anstößig und als Verrat an der »Demokratie«. Auch Anne Will hält ja den Volkswillen für etwas Verdächtiges …

Fluide statt kristalliner Intelligenz

Das etwas mehr als unruhige Geschehen in Westminster rief in diesen Runden naturgemäß Kopfschütteln hervor. Dabei ist die Möglichkeit derart ungeordneter Zustände gerade ein Verdienst, nicht ein Mangel der britischen Demokratie, die nach gut 300 Jahren immer noch quicklebendig neben den kontinentalen Nachzüglern steht. Die Verfassungslosigkeit des britischen Staatswesens  sorgt gleichsam für den Erhalt der fluiden Intelligenz, die im Gegensatz zur kristallinen an viele Umstände anpassungsfähig bleibt. So zeigt sich auch in diesem historischen Moment die Vitalität der politischen Institutionen des Königreichs, namentlich von Unterhaus und Regierung, die sich im Oktober wohl noch die eine oder andere – nicht nur für uns höchst unterhaltsame – Schlacht liefern werden.

Dass »Chaos« ein solches Reizwort in der deutschen Öffentlichkeit ist, hätte ich wissen können. Doch war mir diese Fixierung auf den Grundwert »Ordnung« in den letzten Berliner Jahren mehr und mehr entschwunden. (Ein Schelm, wer Böses dabei denkt …) Dabei sagte doch schon Nietzsche: »Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären.« Wohl doch eher ein Antideutscher.

Inzwischen melden sich erste Stimmen, die einem Austritt der Briten auch Positives abgewinnen können. So gab der Präsident der Britischen Handelskammer in Deutschland zu bedenken, dass jeder weitere Tag der Unsicherheit die Wirtschaft Nerven koste. Dagegen würde der vollendete Austritt zugleich den Druck auf verschiedene Wirtschaftszweige erhöhen, die dann endlich saniert werden müssten: »In Großbritannien wird die Inlandsproduktion steigen müssen.« Das gelte vor allem für Landwirtschaft, Fischfang und verarbeitende Industrie. Doch warum sollte sich nicht auch der Rest der Inselwirtschaft neu und produktiv aufstellen und in der Folge auch auf dem Kontinent?

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