Tichys Einblick
Ein Szenario im Rückblick

Was wäre, wenn 1989 Schröder, Lafontaine und Fischer regiert hätten?

In Bonn hätte ein Krisenstab unter der Leitung des Kanzlers Schröder getagt. Lafontaine, Superminister für Finanzen, Wirtschaft und Frieden hätte seinen kurz zuvor bereits öffentlich gemachten Vorschlag wiederholt. Die beste Lösung für alle sei es, endlich den Realitäten in Europa Rechnung zu tragen.

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Das wiedervereinigte Deutschland feierte die dreißigste Wiederkehr des formalen Untergangs der DDR und ihres Aufgehens in der Bundesrepublik Deutschland. Dies stand am Ende einer langen internationalen und nationalen Entwicklung, die zur Schwächung der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetunion und schließlich zum Zusammenbruch des bankrotten Systems auch in Moskaus Vorhof geführt hat. Das in der Folge des Zweiten Weltkrieges geteilte Deutschland stand im Mittelpunkt der dramatischen Ereignisse.

Die Zügel in Bonn hatten der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und sein Koalitionsvize Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) fest in der Hand. Beide waren sich in Einem absolut einig: Die Wiedervereinigung Deutschlands in freier Selbstbestimmung ist obererstes Ziel. Das ganze Deutschland vereint und fest eingebunden in die Europäische Union und das transatlantische Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika bei gleichzeitig guter Partnerschaft mit der Sowjetunion. Viele Hürden mussten durch geschickte Diplomatie und gegenseitiges Vertrauen bis zum Erreichen dieses Zieles überwunden werden.

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Doch man stelle sich vor, im Kanzleramt am Rhein hätte als Nummer 1 Gerhard Schröder, assistiert von Oskar Lafontaine und im Bunde mit dem Grünen Josef Fischer gesessen. SPD wie Grüne hatten das Gebot des Grundgesetzes zum Streben nach der Wiedervereinigung Deutschlands längst aufgegeben und die Zweistaatlichkeit akzeptiert, das Bestehen des Unrechtsstaates DDR in Kauf genommen.

Doch die Auflockerungen und Reformschritte des neuen sowjetischen KP-Chefs Gorbatschow waren auch an den Satellitenstaaten Osteuropas einschließlich der DDR nicht spurlos vorbeigegangen. Die Menschen schöpften Hoffnung auf Veränderungen bei ihnen, zumal die wirtschaftliche Situation immer bedrückender wurde. Hunderttausende Deutsche in der DDR hatten Ausreiseanträge in die Bundesrepublik gestellt. Immer mehr Menschen suchten in den bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Warschau und Prag Zuflucht. Auch sie hatten nur einen Wunsch: Die Ausreise in den Westen.

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Also stellen wir uns die kontrafaktische Geschichte des Herbstes 1989 unter einer Regierung Schrödere-Lafontaine-Fischer vor:

In Bonn tagt ein Krisenstab unter der Leitung des Kanzlers Schröder. Oskar Lafontaine, Superminister für Finanzen, Wirtschaft und Frieden wiederholt seinen kurz zuvor bereits öffentlich gemachten Vorschlag. Die beste Lösung für alle sei es, endlich den Realitäten in Europa Rechnung zu tragen. Als erstes müsse das Festhalten an einer gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit aufgegeben werden. Die Deutschen in der DDR würden damit von einer Minute zur anderen Ausländer. Zugang zur und Aufnahme in der Bundesrepublik könnten sie ab sofort nur nach positiver Prüfung eines Asylantrages gewährt bekommen. Dazu würden allerdings auch nur eng begrenzte Kontingente vorgesehen. Auch werde die Abwicklung in enger Übereinstimmung mit den Sicherheitsorganen der DDR vor sich gehen. Versuchten Grenzübertritten sei mit aller Härte entgegenzutreten.

Den DDR-Bürgern in den diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik sei ein Zeitpunkt vorzugeben, bis zu dem sie die Gebäude zu verlassen hätten. Kämen Betroffene dem nicht nach, würden die Regierungen der betreffenden Staaten um Amtshilfe bei der Räumung der Botschaftsgebäude gebeten. Der Regierung der DDR sei zuvor mitzuteilen, wann diese Maßnahmen erfolgten, um ihre Bürger entsprechend in Empfang nehmen zu können. In der Runde lösen Lafontaines Vorschläge allgemeine Zustimmung aus. Einzelne Bedenken, es könnte vielleicht in der DDR zum Chaos kommen, quittiert Schröder mit der Bemerkung: „Das kriegen Erich Honecker und der Egon Krenz schon hin.“ Insbesondere mit Letzterem stand der Kanzler seit längerem im guten Kontakt. Auch Lafontaine verfügt über beste Kontakte zu seinem saarländischen Landsmann Honecker und anderen SED-Spitzen. Fischer zeigte sich desinteressiert. Für ihn war das ganze Deutsch-Deutsche Thema ein Stück reaktionäre Vergangenheit und von der Geschichte überholt. Die entsprechenden Beschlüsse erfolgten dann einstimmig.

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In der DDR verbreitete sich diese Entscheidung wie ein Lauffeuer. Im ersten Moment wirkte das Land wie eingefroren. Erst nach und nach wurde den Menschen bewusst, was geschehen war. Nur Stunden später verhängte die DDR-Führung den Ausnahmezustand über das gesamte Land. Eine Verhaftungswelle ungeheuren Ausmaßes rollte an. Betroffen waren an erster Stelle Bürgerrechtsgruppen, hartnäckige Ausreiseantragssteller und andere vom Staatssicherheitsdienst als unsichere Kantonisten eingestufte Personen. Die Sowjettruppen verblieben in ihren Kasernen. Gleichzeitig verkündete der zum Nachfolger Erich Honeckers ernannte Egon Krenz baldige Reformschritte in allen Bereichen. Insbesondere soll die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern schnell verbessert werden. Noch am gleichen Tage wendet sich Krenz an die westliche Welt, die DDR im Sinne der Erhaltung des Friedens und der stabilen Nachkriegsordnung materiell zu unterstützen. Jeder Gedanke an die deutsche Einheit wäre brandgefährlich, zumal in der Bundesrepublik erste Proteste gegen die Beschlüsse der Bundesregierung laut werden.

CDU, CSU und FDP riefen zu Demonstrationen auf. In Berlin berufen sich die West-Alliierten auf ihre Zuständigkeit für Sicherheit und Ordnung in der Stadt. Am darauffolgenden Tag trifft Bundeskanzler Schröder in Bonn mit der Premierministerin Großbritanniens und dem Präsidenten Frankreichs, Margret Thatcher und François Mitterand, zusammen. Am späten Nachmittag stößt auch Egon Krenz zu dieser Runde, der als erstes erklärt, dass jeder seiner Schritte mit den Genossen in Moskau abgestimmt worden sei und auch weiterhin werde. Die Beratungen ziehen sich durch die ganze Nacht. Am Ende steht ein sofortiges Hilfspaket von 60 Mrd. DM an die DDR. Die Hälfte davon zahlt die Bundesrepublik, je 15 Mrd. kommen aus London und Paris. Krenz bedankt sich im Namen der DDR und ihre Bürger mit Tränen in den Augen bei seinen neuen westlichen Freunden.

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Thatcher und Mitterand erklären während eines vertraulichen Mittagessens in der britischen Botschaft, dass der Krug einer neuen Größe Deutschlands noch einmal an allen vorübergegangen sei. Die Menschen in der DDR trauen ihren Augen nicht. Die Regale der HO-Kaufhallen sind mit einem Mal gefüllt. Selbst elektronische Unterhaltungsgeräte, die man nur von Fotos kannte, waren plötzlich für wenig Geld zu haben. Die Menschen zogen sich in ihre Nischen zurück. Unübersehbar hatte die Stasi alles unter Kontrolle. In Moskau herrschte unter den Gegnern Gorbatschows freudige Erregung. Der Erhalt der DDR und damit die Schwächung des Westens gab auch ihnen neue Kraft. Eilends wurde ein Spitzentreffen des Warschauer Paktes nach Moskau einberufen. Kurz nach Rückkehr der kommunistischen Spitzenkader in ihre Hauptstädte wurde auch dort jede Form von Aufbruch zum Stillstand gebracht.

Mittlerweile hatte man sich auch in Washington wieder gefasst. Die Haltung der Bundesrepublik wie auch Großbritanniens und Frankreichs stellten das Wertekonzept der NATO in Frage. Zudem stand eine Stabilisierung des sowjetischen Blocks und seiner Diktatoren nicht auf der Agenda des amerikanischen Präsidenten George Bush (senior). Der Westen geriet in eine Krise, zumal immer klarer wurde, dass nur durch eine dauerhafte massive wirtschaftliche Unterstützung des Ostens die Stabilität aufrechterhalten werden konnte.

Lassen wir das Szenario, das längst nicht alle Aspekte berücksichtigt, an dieser Stelle enden. Bekanntlich hießen die Verantwortlichen damals nicht Schröder, Lafontaine und Fischer, sondern Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher.

Manchmal kommt es eben doch auf Personen an.

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