Tichys Einblick
Dem Tribunal entkommt er nicht

Was für ein Horst

Jetzt muss Tacheles geredet werden: über ein taugliches Einwanderungsgesetz, eine trennscharfe Differenzierung zwischen Einwanderern, Asylsuchenden, Flüchtlingen und subsidiär Geschützten sowie die künftigen Anforderungen hinsichtlich des Arbeitsmarktes.

Horst Seehofer reacts prior a board meeting of the German Christian Social Union party (CSU) in Munich on September 25, 2017, one day after the German general elections

© Christof Stache/AFP/Getty Images

Was sich in den letzten paar Wochen im politischen Betrieb getan hat, ist erstaunlich. Man konnte eine Abkehr von einem scheinbar über Jahrzehnte gefestigten stillschweigenden und parteiübergreifenden Kodex erkennen: Wer nicht liefert, muss abgeben. Wer nicht performt, muss die Bühne verlassen. Dies gilt aber nicht nur für die Politik, sondern für nahezu jede Branche, in der es um Führung und Erfolg geht.

Im Fall der Union haben die Führungsspitzen unstreitig nicht geliefert. Und dennoch ist es sowohl Angela Merkel als auch Horst Seehofer auf eine wundersame Weise gelungen, ihre großen Verluste als vermeintlichen Sieg und als gemeinsamen Konsens zu verkaufen.

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Merkel tat dies, indem sie in gewohnt stoischer Manier ein Wahlergebnis schönredete, das angeblich nach zwölf Jahren Kanzlerschaft äußerst akzeptabel sei. Seehofer legte mit einigen Startschwierigkeiten nach, indem er die Verhandlungen der Union vom vergangenen Wochenende als einen Durchbruch im Obergrenzen-Streit zu inszenieren wusste. Und das, obwohl jedem, dem das sogenannten „Regelwerk zur Migration“ vorliegt, klar ist, dass es sich hierbei um ein ebenso wenig aussagekräftiges wie bindendes Papier im Bezug auf die anstehenden Sondierungsgespräche handelt.

Die so viel gepriesene Zahl von 200.000 ist nicht nur Makulatur; weder Seehofer noch Merkel sind in ihrer Pressekonferenz in der Lage gewesen, bei deren Bedeutung konkret zu werden. Alt bekannt ist, dass man sich dafür einsetzen wolle, dass sich eine Situation wie im Herbst 2015 nicht wiederhole. Man wolle erreichen, dass die Gesamtzahl der aus humanitären Gründen Aufzunehmenden eine Zahl von 200.000 nicht übersteige. Gleichzeitig wird aber erklärt, dass eine Anpassung nach unten wie auch nach oben für den Fall möglich sein soll, dass internationale und nationale Entwicklungen diesem Ziel entgegenstünden. Dabei soll eine entsprechende Anpassung durch den Bundestag erfolgen können. Aber auch durch die Bundesregierung.

Um es bildlich auszudrücken: Die Katze beisst sich hier in den Schwanz. Man vereinbart einen vermeintlichen Richtwert, den man sich zu erreichen bemühen möchte, lässt dann aber eine ebenso laxe Hintertür für etwaige Sondersituationen, die in ihrer Definition ebenso vage bleiben, wie die Begrenzung der Zuwanderung und der dazu angestrebten Mechanismen aussehen soll.

Trotz eines damit wie auch immer gefundenen „Wischi-Waschi-Kompromisses“ will man nun das so Verhandelte unter lautem Siegesgeheul eines Andreas Scheuer und Alexander Dobrindt als Sieg der CSU über Angela Merkel verbuchen. Man kann lesen „Seehofer hat den Obergrenzen-Streit mit Merkel gewonnen“. Aber ist es nicht vielmehr eine Art Pyrrhussieg?

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Wenn etwa ein Markus Söder erklärt, es handle sich um eine Vereinbarung, in der viel Gutes stecke und die einen wichtigen Schritt nach vorne bedeute, da sie bei den anstehenden Sondierungsgesprächen für eine gewisse Glaubhaftigkeit der Union stünde, dann ist das wohl eher als eine Art Parteiräson zu deuten, denn als ernst gemeinte Einschätzung eines Politikers, der unzweifelhaft beabsichtigt, das Zepter früher oder später zu übernehmen.

Noch unglaubwürdiger erscheint die Aussage von Ilse Aigner, die in der Vereinbarung die Verkörperung der Durchsetzungskraft und Erfahrung Horst Seehofers im politischen Betrieb sehen möchte. Das einzige, was hier gegebenenfalls verkörpert wurde, waren zwei höchst unsichere Charaktere Merkel und Seehofer, die sich nach ihrem Kompromiss einer Hufe scharrenden Schar an Journalisten stellen mussten. Warum gescharrt wurde? Weil es offenbar nicht nur der Bürger, sondern auch der Journalist satthat, in einer immerwährenden „Schweigespirale“ weiterzudümpeln. Soziale Isolation als größte Angst des modernen Menschen von heute scheint zwar das dominante Paradigma des aktuellen Diskurses, was es einer Angela Merkel nur noch leichter zu machen scheint (man werfe nur einen Blick auf den Deutschlandtag der JU und die Handhabe Merkels mit kritischen Stimmen). Aber auch, wenn man den Eindruck gewinnen kann, dass der Einzelne die ganze Zeit damit zubrächte, seine Umgebung nach der gerade herrschenden Meinung abzuklopfen, um sich dann daran anzupassen – seit dem Abend der Bundestagswahl gärt etwas im vermeintlich so unisono klingenden Einheitsbrei der öffentlichen Meinung. Die Tabus werden angetastet seit den fast 13% der AfD.

Wenn man tatsächlich nach den Unionsverhandlungen einen Sieger ausmachen möchte, dann ist es wohl nötig, noch ein wenig Zeit vergehen und die Wirkung der Vereinbarung sich entfalten zu lassen. Denn die schlichte Feststellung, Seehofer hätte Wort gehalten, nur weil auf einem Blatt Papier plötzlich irgendwo eine „200.000“ auftaucht, ist kurzsichtig. Geboten wäre vielmehr eine genaue Beobachtung der nächsten Schritte, die aber jedenfalls im Fall von Horst Seehofer auf alles andere als einen Sieg schließen lassen.

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Denn welchen Grund gibt es realiter dafür, einen Parteitag nach hinten zu verschieben? Ein plötzliches Bewusstsein für Kosten scheint in diesem Zusammenhang mehr als vorgeschoben, wo doch gerade ein verschwendungssüchtiger Generalssekretär von Seehofer kontinuierlich verteidigt und gestützt wurde. Viel eher auf der Hand liegt, dass Seehofer um seine eigene Stellung bangen muss. Mit dem fadenscheinigen Richtungskompromiss, bei dem in keiner Weise Licht in das Dunkel des künftigen Kurses der Union gebracht wurde, konnte Seehofer sich vielleicht eine letzte Verschnaufpause verschaffen.

Seinen Hals aus der Schlinge ziehen konnte er hingegen nicht; vielmehr ist es so, dass Merkel die Schlinge noch ein wenig enger gezurrt hat – natürlich wie sie es gern macht, nämlich so, dass sie den Würgegriff als freundliche Umarmung erscheinen lässt.

Sollte Seehofer tatsächlich damit liebäugeln, eine Entscheidung des Parteitages über die künftige Parteiführung auf diese unseriöse Art und Weise hinauszögern und sich einer Entmachtung als Parteichef womöglich dadurch entziehen zu wollen, indem er selbst ein Regierungsamt beansprucht, hat er die Rechnung ohne die Kanzlerin gemacht.

Denn auch, wenn diese sich jetzt hinter ein Papier gestellt hat, in dem eine ominöse Zahl enthalten ist, drängt sich jedem der herbe Verdacht auf, dass Merkel in den Verhandlungen mit FDP und Grünen alles tun wird, um so weitermachen zu können, wie es ihr beliebt. Da diese Verhandlungen von CDU und CSU jeweils getrennt erfolgen sollen, man also gerade nicht als Union gemeinsam auftreten will, fragt sich, wofür dieses politische Theater vom Wochenende überhaupt nötig war.

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Ungeachtet eines tieferen Sinnes wird der Kompromiss, der keiner ist, jedenfalls ein Ziel verfehlen: die so viel beschworene Einigkeit und Eintracht der Union zu fundamentieren. Fraglich ist, wie lange derartige politische, inhaltlich wenig konkrete Mogel-Kompromisse noch in der Lage sind, den Schein der Union aufrechtzuerhalten und den lösungsorientierten Wähler zu befriedigen. Anstelle mit Zahlen zu jonglieren und Scheindebatten zu führen (deren Ergebnis man auch schon vor über einem Jahr hätte finden können), sollte jetzt endlich einmal Tacheles geredet werden: nämlich über neue Regelungen mit dezidierten Inhalten, über ein taugliches Einwanderungsgesetz, über eine trennscharfe Differenzierung zwischen Einwanderern, Asylsuchenden, Flüchtlingen und subsidiär Geschützten sowie über die künftigen Anforderungen hinsichtlich des Arbeitsmarktes.

Was Seehofer angeht, so steht jedenfalls fest, dass er seinem Tribunal in Gestalt des Parteitages nicht wird entgehen können. Egal wie weit er ihn nach hinten verschieben will.