Tichys Einblick
Drei Gruppen „westlicher” Länder

Warum „der” Westen nicht geeint ist gegen Putin

Interessenkalkül bestimmt die Haltung einzelner Länder im Ukraine-Krieg. Die Frage ist dabei immer, ob das Kalkül auch stimmt. Eine Replik auf einen Beitrag von Arnold Vaatz.

Am 14. Juni erschien auf Tichy’s Einblick ein leidenschaftlicher Beitrag des langjährigen CDU-Bundestagsabgeordneten Arnold Vaatz, der der Frage nachging, warum es in Europa so viele „Putin-Versteher” gibt. Vaatz zeichnete ein regelrechtes Psychogramm diverser Gesellschaftsschichten – etwa frustrierte Konservative, die Putin immer noch besser finden als rot-grüne Antibürgerlichkeit.

Da war viel Wahres dran, aber die relevantere Frage ist vielleicht: Warum scheinen manche Staaten so zögerlich, wenn es darum geht, der Ukraine zu helfen und Putin zum Teufel zu schicken?

Bestimmt nicht weil sie sich von Emotionen übermannen lassen. Die Haltung von Regierungen in diesem Konflikt ist geleitet vom jeweiligen nationalen Interesse. Was sie dafür halten, hängt von ihrer jeweiligen Lageanalyse ab. Wer wird gewinnen? Wie wird die Sache ausgehen? Wie werden die Konsequenzen dieser und jener eigener Handlungen oder Unterlassungen aussehen?

Schlicht gesagt, gibt es drei Gruppen „westlicher” Länder mit jeweils unterschiedlichen Strategien. Eine vierte Gruppe sind Länder wie Indien, Mexiko und die Türkei, die ihr Interesse darin sehen, nicht an den Sanktionen gegen Russland teilzunehmen, sondern von ihnen zu profitieren. Warum? Weil sie Russland nicht als Bedrohung für sich selbst sehen, und weil jeder immer zuerst auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist.

Letzteres gilt auch für das westliche Lager. Niemandem, aber auch wirklich niemandem geht es zuerst um die Ukraine, egal was sie behaupten.

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Die „Pragmatiker” in Europa sind unter anderem Frankreich, Deutschland (dort vor allem die Kanzlerpartei von Olaf Scholz), Österreich, Italien und die Schweiz, und Ungarn. Für sie gilt die Grundprämisse von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán: Der Krieg wird irgendwann aufhören, und wenn er aufhört, wird Russland immer noch da sein. Man wird immer noch mit ihm auskommen müssen. Also besser nicht komplett die Brücken abbrennen. Also, um Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu zitieren: Man dürfe Russland nicht „demütigen”.

Dann gibt es jene wild entschlossenen Mitteleuropäer, die am liebsten selbst in den Krieg ziehen würden: Polen, Tschechien, die baltischen Republiken. Aufgrund ihrer historischen Erfahrungen sehen sie Russland als eine existentielle Gefahr. Sie gehen davon aus, dass Putin nicht halt machen wird, falls er in der Ukraine siegt. Sie wären dann als nächste dran. Das ist nachvollziehbar, und belegbar an diversen öffentlichen Ausführungen des Kreml-Chefs – wie Vaatz in seinem Aufsatz klar darlegt. Für diese Länder wäre es die beste Lebensversicherung, wenn Russland als Folge einer Niederlage politisch kollabiert und in mehrere Teile zerfällt.
Es ist auch Vaatz’ eigene Position: Er ist überzeugt, dass Russland Deutschland angreifen würde, wenn ihm nicht Einhalt geboten wird. Daher müsse man alles tun, um Putins (erhofften) Niedergang zu beschleunigen, also der Ukraine maximal unter die Arme greifen.

Dann gibt es die USA und Großbritannien. Auch sie wollen am liebsten Russland in Kleinstaaten zerfallen sehen. Nicht, weil sie sich wie Polen existentiell bedroht fühlen, sondern weil dies eine unverhoffte Chance für sie darstellt, die angelsächsische Welt wieder zur unbestrittenen Weltmacht zu machen. Nicht nur wäre Russland als potentieller Rivale auf absehbare Zeit ausgeschaltet, auch das aufstrebende China wäre davor gewarnt, Amerika auf die Probe zu stellen.

Gastbeitrag von Arnold Vaatz
Das Menetekel aus dem Osten
Nebenbei wäre mit einem Sieg über Russland – aus Sicht der USA und Großbritanniens – auch die EU zurechtgestutzt in ihren Bestrebungen in jüngster Zeit, eine „Großmacht” mit „strategischer Autonomie” neben den USA werden zu wollen. Dass die Ukraine überhaupt noch kämpfen kann, liegt fast ausschließlich an umfassender finanzieller und Militärhilfe der beiden angelsächsischen Länder (und in geringerem Maße Polens). Der Beweis ist somit erbracht, dass die EU ein militärischer Zwerg ist, noch dazu ohne eigenen Willen angesichts innerer Bruchlinien. Jeder in Europa müsste erkennen: Ohne die USA geht es nicht, im Ernstfall führt Amerika und Europa trottet hinterher.

Großbritannien wäre versucht zu lachen, wenn es nicht so traurig wäre: Niemand in Europa hat der Ukraine so viel und so schnell geholfen wie das Vereinigte Königreich. Das ging nur deswegen, weil es nicht mehr zur EU gehört. Brexit hilft siegen.

Eine EU als „Großmacht mit strategischer Autonomie” – das ist eine auch in Deutschland populäre Vision des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Was dessen Worte bedeuten, erklärte im vergangenen Jahr Viktor Orbán (der sich mit Macron gut versteht) auf einer internen Veranstaltung seiner Parteigänger: Macrons Formulierung ergebe nur Sinn vor dem Hintergrund der Annahme, dass die USA unwiderruflich im Niedergang seien. Ein deutliches Indiz sei der katastrophale, chaotische Rückzug der USA letztes Jahr aus Afghanistan.
Dass Frankreich und viele andere dies als Zeichen zunehmender amerikanischer Schwäche interpretierten, liegt auf der Hand. Diese Annahme ist ein wesentliches Element in der Lageanalyse der „Pragmatiker”. Dass auch Putin den Afghanistan-Rückzug als Indiz amerikanischer Schwäche verstand, ist sicher. Gut möglich, dass diese Fehlleistung der USA letztlich zu Putins Entscheidung beitrug, die Ukraine jetzt anzugreifen.

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Und die EU? Auch sie reagiert institutionell interessengeleitet. Das Interesse der Eurokraten liegt vor allem darin, der Union immer mehr Kompetenzen zuzuschieben und die Nationalstaaten immer enger einzuhegen, immer mehr in Richtung eines föderalen Staatenbundes zu gehen. Da dies teilweise gegen die Interessen der Mitgliedsländer geht, müssen die Föderalisten möglichst populistisch auf der Welle der Leidenschaften reiten, die der Ukrainekrieg in der Bevölkerung ausgelöst hat, und den Nationalstaaten voranpreschen. Also: Mal wieder ein gemeinsamer Geldtopf, der das Gewicht der EU gegenüber den Nationalstaaten stärkt, mal wieder die Forderung nach mehr Eigenmitteln für die Union, gemeinsame Sanktionen. Politischer Druck auf jene Länder, die ihre Souveränität und ihr nationales Interesse verteidigen wollen, und viel Gerede über europäische Einheit und ein Ende des Veto-Rechts.

In Wahrheit hätte jedes Land für sich schon am ersten Tag des Kriegs unilateral Sanktionen gegen Russland verhängen können. Dafür braucht es die EU im Prinzip überhaupt nicht. Aber niemand hat es getan. Das ermöglicht es Brüssel, sich in Szene zu setzen als Bannerträger Europas.

Noch ein Wort zu Ungarn. In Vaatz’ Aufsatz verführt ihn die Macht der Gefühle zu der Formulierung, Ungarn habe „offenbar schon einen Sieg Putins fest eingeplant” und distanziere sich immer mehr vom Westen.

Angesichts dessen, dass Vaatz sich in Ungarn einigermaßen auskennt (wo ich ihn vor nicht allzu langer Zeit kennenlernte) ist das eine erstaunlich uninformierte Aussage. Erst am 10. Juni sprach Staatspräsidentin Katalin Novák unmissverständlich von „Russlands Krieg gegen die Ukraine”, der „Europas Frieden ruiniert” habe. „Wir verurteilen Putins Aggression”, hiess es ferner, „und sagen für immer Nein zu Bemühungen, die Sowjetunion zu restaurieren”.

Der Abgeordnete Zsolt Németh, ein Mitgründer der heutigen Regierungspartei Fidesz schrieb schon vor Wochen, ein Sieg Russlands könne niemals in Ungarns Interesse sein, Putins Truppen müssten das gesamte ukrainische Staatsgebiet verlassen. Orbán selbst hat klar gesagt, dass seine Russlandstrategie niemals davon ausging, dass es zum Krieg kommen werde, und dass der Krieg Ungarn zwinge, seine Russlandstrategie und Handelspolitik komplett zu überdenken. Diese Politik bestand bisher darin, allen für Ungarn relevanten Großmächten – also auch Russland – etwas zu geben, aber auch etwas dafür zu fordern. Vorbild für diese Politik war immer Deutschland.

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Und nun zurück zur Grundsatzfrage: Stimmen die Analysen, die der Interessenpolitik der verschiedenen Länder zugrunde liegen? Wie sehen diese Analysen überhaupt aus? Immerhin gingen sämtliche Länder Kontinantaleuropas noch Anfang Februar davon aus, Putin werde sicher nicht angreifen. Offenbar wollte man es nicht glauben. Eine so kollossale Fehlinterpretation ist nur damir zu erklären, dass hier kulturelle Faktoren eine Rolle spielten. Amerikaner und Engländer waren sich ganz sicher, dass es auf jeden Fall zum Krieg kommen würde, und teilten ihre Geheimdienstinformationen mit der ganzen Welt.

Gegenwärtig dominiert in Europa offenbar die Ansicht, dass die Ukraine einen großen Teil ihres Staatsgebietes verlieren wird. Danach – so glauben viele Experten – könnte es zu einem „eingefrorenen” Konflikt kommen wie nach dem ersten Ukrainekrieg 2014.

Die langfristigen Folgen der Sanktionen gegen Russland kann niemand absehen, schon deswegen nicht, weil die EU sich nie die Mühe gemacht hat, dazu eine Impaktstudie durchzuführen. Man entscheidet aufs Geratewohl – so lief es auch 2014. Die damaligen Sanktionen haben Russland nicht nur nicht geschwächt, sondern das Land konnte so weit erstarken, dass es sich für den Angriffskrieg gegen die Ukraine entschloss.

Solange nicht klar ist, dass Russland vor dem Abgrund steht, wird sich auch die Position der „Pragmatiker” nicht ändern. Auch nicht die Haltung Deutschlands.

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