Tichys Einblick
„Vertraue, aber prüfe nach“

Berlin: Wahlprüfung oder Wahlergebnis-Überarbeitung?

Dieter Schneider, Wahlbeobachter mit langjähriger Erfahrung, kommentiert die Recherchen des TE-Teams zu den Berliner Wahlergebnissen, die zwingend zu Neuwahlen führen müssen, soll das Recht vor der Macht stehen.

Wahllokal in Berlin, 26.9.2021

IMAGO / Emmanuele Contini
Lenin verwendete häufiger den Satz: „Vertraue, aber prüfe nach“. Möglicherweise hat er damit auch gemeint: Vertraue den Staatsbürgern, dass sie „richtig“ wählen, überprüfe oder kontrolliere die Wahlergebnisse trotzdem und überarbeite sie, wenn nötig.

Berlin, Berlin, wir schauen nach Berlin!

Was das TE-Team aber bisher aufgedeckt hat, liest sich weniger als rechtsstaatliche Überprüfung des Ablaufes der Wahl und der Wahlergebnisse und mehr nach Überarbeitung der Wahlergebnisse hinterher durch diejenigen Institutionen, die die Wahl vorher schlampig ausgerichtet haben.

Bei den Bundestagswahlen und städtischen Wahlen im September 2021 gab es in Berlin noch nie dagewesene Schlampereien, die hier nicht nochmal aufgetischt werden sollen. An dieser Stelle geht es darum, wie nach dem eigentlichen Wahlvorgang mit den dokumentierten Ereignissen und Ergebnissen umgegangen wurde. Bei einer Anhörung im Wahlprüfungssauschuss des Bundestages und Recherchen eines TE-Teams kamen Dinge an das Licht einer freilich limitierten Öffentlichkeit, die eine vollständige oder teilweise Wiederholung der Wahl als unumgänglich nahelegen. So forderte das für mehrere Berliner Wahlkreise auch der Bundeswahlleiter.

Das TE-Team sah die Wahlniederschriften aus allen Berliner Stimmbezirken ein. Das ist ungewöhnlich. Diese Wahlniederschriften sind in erster Linie Ergebnisprotokolle und nur in Ausnahmefällen auch „Erlebnisprotokolle“, wenn etwas „Unregelmäßiges“ während des Wahlvorganges im Wahllokal passiert ist, z.B. fehlende Stimmzettel (wie in Berlin geschehen), zurückgewiesene Wähler (wie in Berlin geschehen), nicht zu erklärende Differenzen bei dem Abgleich von Wählern und abgegebenen Stimmzetteln (wie in Berlin geschehen), Überschreitung der gesetzlich vorgeschriebenen Öffnungszeiten der Wahllokale bis 18.00 Uhr (wie in Berlin geschehen). In einigen Wahllokalen ist so etwas mehr oder weniger sauber protokolliert worden, in den meisten nicht. Bei der Anhörung im Wahlausschuss des Bundestages wurde immer wieder folgender Sachverhalt von offizieller Seite vorgetragen:

Viele Wähler legten aufgrund persönlicher Erfahrung am Wahltag danach Wahl-Einspruch ein, z. B. wegen fehlender Stimmzettel oder stundenlanger Wartezeiten. Keine Vermerke dazu in den Wahlniederschriften. Weigerung der Wahlvorstände, dazu auf Nachfrage Stellung zu nehmen.

Die vorläufigen amtlichen Ergebnisse, um die sich am Wahlabend publikumswirksam alles dreht, haben eigentlich keine wahlrechtliche Bedeutung. Sie basieren auf telefonischen Durchsagen, bei denen sowohl die Wahlvorsteher unzutreffende Ergebnisse „senden“ als auch die Gemeinde-Mitarbeiter am Telefon andere Ergebnisse weiterleiten können.

Selbst telefonisch durchgegebene vorläufige Schätzungen auf Druck von oben (wie in Berlin nachweislich geschehen) sind nicht von Bedeutung, wenn in den Wahlniederschriften dann die endgültigen Ergebnisse festgehalten sind und weiterverarbeitet werden. Und das geschieht meistens nicht. Ursächlich dafür ist:
Für die Durchführung von Wahlen – von Gemeindewahlen bis zu EU-Wahlen – sind allein die Gemeinden mit Bürgermeistern und Oberbürgermeistern an der Spitze zuständig. Ab der unverbindlichen Durchgabe der Wahlergebnisse durch die örtlichen Wahlvorstände in den einzelnen Stimmbezirken befinden sich die Wahlstimmen der Bürgerinnen und Bürger nur noch in der Hand der Gemeinden und damit der „Rathausparteien“.

Das ist nicht nur in Berlin, sondern überall in Deutschland so.

In Deutschland besteht noch großes Vertrauen in die Gemeindebehörden, dass sie alle Arten von Wahlen korrekt abwickeln, einschließlich aller Tätigkeiten am Wahltag nach 18 Uhr bis hin zur Ermittlung des endgültigen amtlichen Ergebnisses. Zweifel daran werden als Verschwörungstheorien abgetan. Das endgültige amtliche Ergebnis basiert rechtstheoretisch auf den Wahlniederschriften. In der Praxis ist es fast überall nicht so.

Die vorläufigen amtliche Wahlergebnisse werden in der Praxis mit geringfügigen und nicht ergebniswirksamen Korrekturen meistens als endgültige Ergebnisse fortgeschrieben.

Richtig wäre, völlig unabhängig vom vorläufigen Ergebnis, die Zahlen aus den amtlichen Wahlniederschriften von unabhängigen Institutionen (z. B. Wirtschaftsprüfungsgesellschaften) zusammenzuzählen, um sie dann mit den vorläufigen Ergebnissen zu vergleichen. Bei Differenzen sind die Wahlniederschriften maßgeblich, die von allen Mitgliedern der Wahlvorstände unterschrieben werden mussten. Gravierende Differenzen könnten dann nach § 107a (2) und (3) auch strafrechtliche Konsequenzen haben:
„(2) Ebenso wird bestraft, wer das Ergebnis einer Wahl unrichtig verkündet oder verkünden lässt.
(3) Der Versuch ist strafbar“

Eine solche zahlenmäßige Zusammenfassung aller Wahlergebnisse auf Grund der Wahlniederschriften steht noch aus. Dabei ist auch interessant, wie sich die Gesamtergebnisse unterscheiden:
• Die Wahlprognosen um 18.00 Uhr
• Die vorläufigen amtlichen Wahlergebnisse noch in der Wahlnacht
• Die Gesamtergebnisse auf Grund der noch nicht überarbeiteten Wahlniederschriften
• Das Gesamtergebnis auf Grund der überarbeiteten Wahlniederschriften
• Die von den jeweiligen Wahlleitern verkündeten endgültigen amtlichen Wahlergebnisse einige Tage später

Selbst wenn das Zusammenzählen der Wahlniederschriften amtlich erfolgte, ist das keine Kontrolle von außen, sondern Eigenkontrolle, die von den Gemeinden im Auftrag des Wahlleiters vorgenommen werden. Die ehrenamtlichen Wahlleiter auf Kreis- oder Gemeindeebene haben keine eigene personelle Ausstattung, um solche Nachprüfungen vorzunehmen.

Beispiel Darmstadt

Dort gibt es eine Besonderheit: Der direkt gewählte Oberbürgermeister ist zugleich Kreiswahlleiter bzw. Gemeindewahlleiter.
Ein Beispiel aus der selbst erlebten Praxis fehlender bzw. unzureichender Fremdkontrolle bei der letzten Kommunalwahl in Darmstadt hat der Autor dieses Beitrages bei Tichys Einblick leider ohne nennenswerte Resonanz am 27. Mai 2021 nach der Wahl publiziert – mit Abdruck des Originaltextes eines Schreibens an den Wahlleiter und gleichzeitigen Oberbürgermeister.

Dazu an dieser Stelle ergänzend und aktualisierend die Reaktion des die Wahl leitenden und kontrollierenden Oberbürgermeisters:

• Ein Brief an den Autoren dieses Beitrages persönlich, indem dessen Kritik pauschal zurückgewiesen wurde. Kein Wort zu zwei besonders schwerwiegenden Vorwürfen:

• Zu meiner Überraschung befanden sich in den Ordnern, nach Stimmbezirken zusammengestellt, nicht nur die erwarteten Wahlniederschriften, sondern auch
Original-Stimmzettel mit datierten Kontrollvermerken in roter Schrift durch Dritte direkt auf der Rückseite der Stimmzettel und auch Korrekturen der Wahlniederschriften durch Dritte. …
• Als Gemeinde-Chef müsste es Ihre Hauptzielsetzung sein, ein ergebnisfehlerfreies und damit rechtlich unanfechtbares Wahlergebnis abzuliefern. Da stört Öffentlichkeit.
 Als Wahlleiter müsste es Ihre Hauptzielsetzung sein, ein dem Wählerwillen exakt widerspiegelndes Wahlergebnis zu erreichen. Da nutzt Öffentlichkeit.
Die erste Zielsetzung führt dazu, die öffentlichen Kontrollmöglichkeiten der Gemeindearbeit bei der Abwicklung von Wahlen von außen, also von den Wählern und Wählerinnen, auszuschalten, die zu Wahlanfechtungen führen könnten.
 Eine fehlende öffentliche Kontrolle kann potenzielle Wahlbetrüger in Sicherheit wiegen, beim Wahlbetrug nicht entdeckt zu werden.

• Eine folgende Neubesetzung des Wahlausschusses durch den Wahlleiter, um ein Mitglied des Wahlausschusses loszuwerden, der sich die Wahlniederschriften stichprobenartig angesehen hatte und deshalb als Einziger das ermittelte Wahlergebnis nicht absegnete. Da passt der dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, Walter Ulbricht zugeschriebene, schon oft kolportierte Satz wie die Faust auf das Auge des Wählers:
„Es muss demokratisch aussehen. Aber wir müssen alles in der Hand behalten“.
WIR, das sind Berlin oder Darmstadt und überall in Deutschland die jeweiligen regierenden Parteien.

Mit dem in Deutschland praktizierten Ablauf von Wahlen am Wahltag und der Behandlung der Stimmergebnisse danach kann absichtlicher Wahlbetrug nicht aufgedeckt und sanktioniert werden.

Wenn also in Berlin neugewählt werden müsste, könnten bei den nächsten Wahlen Pannen vermieden oder zumindest stark eingeschränkt werden, zielgerichteter Wahlbetrug aber nicht verhindert oder ergebniswirksam aufgedeckt werden.

Dazu müssten allerdings rechtlich einwandfreie, öffentlich nachprüfbare Verfahren bei Wahlen her, die freie und geheime Wahlen und ihre korrekte Auszählung gewährleisten; Briefwahlen nach bisherigem Verfahren dürften da aus systemischen Gründen nicht dabei sein.

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