Tichys Einblick
Wahlprogramm der Grünen

Die Welt als Waldspaziergang – über das grüne Menschenbild

Der Entwurf für das grüne Wahlprogramm ist gespickt mit Aufregern. Geschenkt, denn interessanter als die politische Rhetorik ist die weltanschauliche Grundierung. Man sieht eine Gesellschaft ohne Bürger, in der das Individuum nur als Objekt vorkommt.

IMAGO / Metodi Popow
Die Grünen regieren in Deutschland gefühlt seit Jahren schon mit. Offenbar empfinden sie das auch selbst so: Nur die Anhänger der Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD sind mit der Politik von Angela Merkel so zufrieden wie die Anhänger der Grünen. Und die Forderung der Kanzlerin nach einem härteren Lockdown unterstützen sogar ungefähr genauso viele Grüne wie Unionisten, während selbst sozialdemokratische Wähler da viel skeptischer sind.

„Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.“
(Kurt Tucholsky: Die Weltbühne, 07. März 1931)

Bei den kommenden Bundestagswahlen soll aus der gefühlten Regierungspartei eine tatsächliche werden. Die Grünen streben ins Kanzleramt. Dort wird zwar schon länger inhaltlich grüne Politik gemacht, aber eben noch nicht formal. Das soll sich jetzt ändern, und die Chancen dafür stehen nicht schlecht.

„Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik kämpfen wir, Bündnis‘90/Die Grünen, um die politische Führung in diesem Land, inhaltlich und personell.“
(Bündnis‘90/Grüne: Programmentwurf zur Bundestagswahl 2021, Seite 6)

Derzeit ist in Deutschland sehr vieles möglich, was noch vor kurzem absolut undenkbar schien (außerhalb von Berlin jedenfalls). Zeitgeistig haben die Grünen den Entwurf zu ihrem Wahlprogramm denn auch „Deutschland. Alles ist drin.“ genannt. Sprachlich sind solche PR-Broschüren von Parteien verlässlich eine Qual. Niemand mag sie lesen – ich selbst habe es auch nur getan, damit Sie es nicht müssen.

Der grüne Programmentwurf zur Bundestagswahl ist gespickt mit schlagzeilenträchtigen Einzelforderungen, darum geht es bei Parteiwerbung ja. Aber interessanter als die politische Rhetorik ist die weltanschauliche Grundierung: Denn da manifestiert sich das Bild einer Gesellschaft ohne Bürger, in der das Individuum nur als Objekt vorkommt.

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Und das wichtigste Leitmotiv ist Angst.

„Wie beim Klimaschutz zählt beim Naturschutz jeder Tag.“ (Seite 21)

In apokalyptischen Sprachbildern und mit alarmistischem Duktus spiegelt sich eine pathologische Angst vor – ja, eigentlich vor fast allem.

„Die globalen Krisen dieser Zeit – zuallererst die Klimakrise als wahre Menschheitskrise – wirken in unser aller Leben hinein und gefährden Freiheit, Sicherheit und Wohlstand.“ (Seite 5)

Der Begriff „sicher“ wird auf den 137 Seiten in verschiedenen Varianten nicht weniger als 332-mal benutzt. Der „Schutz“ in allen Darreichungsformen kommt 227-mal vor, die „Sorge“ und ihre Ableitungen noch 67-mal.

„Wir wollen alles dafür tun, (…) materielle Sicherheit, Chancen und Teilhabe zu garantieren und ein Sicherheitsversprechen zu geben. (…) Wir wollen Schritt für Schritt die sozialen Systeme so verändern, dass sie allen Menschen Sicherheit und Halt geben.“ (Seite 51)

Normale Lebensrisiken (wie sporadische Krankheit) werden zu außergewöhnlichen Gefahren. Normale Lebensbedingungen (wie wechselndes Wetter) werden zu einzigartigen Bedrohungen. Normale Lebensaufgaben (wie regelmäßige Erwerbsarbeit) werden zu unerträglichen Belastungen.

„Menschen benötigen auch im Übergang Sicherheit. Es gilt die Risiken abzusichern.“ (Seite 52)

Aus grüner Sicht ist das Leben unzumutbar anstrengend, es ist gefährlich, es macht Angst. Und am größten ist die Angst vor Ungleichheit.

„Es ist möglich, Ungleichheit zu verringern.“ (Seite 6)

„Wir machen weiter Druck, damit die ökologische Wende dazu beiträgt, Ungleichheit zu verringern.“ (Seite 38)

„Gesellschaften, in denen die Ungleichheit gering ist, sind zufriedenere Gesellschaften.“ (Seite 31)

Wohlgemerkt: Es geht nicht um die Zufriedenheit der Menschen. Es geht um die Zufriedenheit „der Gesellschaft“. Es geht nicht um Gerechtigkeit, es geht um Gleichheit. Ein egalitärer Ansatz. Ungleichheit ist einer der schlimmsten grünen Alpträume.

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Doch dagegen – wie überhaut gegen alle Unbill dieser Welt – gibt es ein Allheilmittel: den Staat.

„Souverän sind wir nur gemeinsam.“ (Seite 116)

Dieser dumme, furchtbare, erschreckende Satz bildet das zweite große Leitmotiv ab: grenzenlose Staatsgläubigkeit, in Tateinheit mit allumfassendem Kollektivismus.

„Der öffentliche Dienst, die Millionen Menschen, die in Verwaltungen, Ministerien und Behörden arbeiten, sind ein Rückgrat unserer Demokratie und das Fundament unseres Gemeinwesens.“ (Seite 89)

Das ist der grüne Überbau: der Staat als Basis der Gesellschaft – nicht der Mensch, schon gar nicht der Bürger.

„Je besser wir vorsorgen, (…) je besser wir schützen, umso freier können wir leben.“ (Seite 5)

Auf 137 Seiten wird geradezu zwanghaft gesichert und geschützt und vorgesorgt – aber immer und ausschließlich vom Staat. Die Menschen sind nicht für ihr Schicksal verantwortlich, ja noch nicht einmal zuständig.

„Solch klare politische Ordnungsrahmen entlasten auch uns als Menschen im Alltag und schaffen Freiheit.“ (Seite 7)

Gemeint ist hier offenbar die Freiheit, keine eigenen Entscheidungen mehr treffen zu müssen, weil es ja politische Vorgaben gibt. Als Entlastung kann man das allerdings aussagenlogisch nur dann begreifen, wenn man nicht den mündigen, sondern ausdrücklich den unmündigen Menschen als Ideal definiert.

Das geht so weit, dass eine staatliche Definition von Lebensqualität angestrebt wird.

„Wohlstand definiert sich nicht allein durch Wachstum des BIP, sondern lässt sich viel breiter als Lebensqualität verstehen. Wir wollen den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands und der Unternehmen nicht nur an Wachstum und Rendite, sondern auch anhand sozialer, ökologischer und gesellschaftlicher Kriterien messen.“ (Seite 37)

Weder Verbraucher noch Unternehmen noch gar der Markt sollen entscheiden, was die Gesellschaft braucht, sondern der Staat.

Das ganze Papier atmet den Ungeist vom Misstrauen gegenüber allem Individuellen und Privaten. Es ist durchzogen von Zentralismus statt Pluralismus, von Dirigismus statt Selbstorganisation, von Kontrolle statt Vertrauen, von Behütung statt Eigenverantwortung, von Bevormundung statt Entscheidungsfreiheit.

„Für eine gesunde Gesellschaft braucht es eine Politik, die vorsorgt.“ (Seite 63)

Es braucht also nicht etwa selbstständige Bürger, die selbst vorsorgen. Im Gegenteil: Politik wird zur Voraussetzung für individuelles Handeln. Das Individuum ist nur noch Objekt staatlicher Betreuung.

Selbst die autonome Erwerbsarbeit gilt nurmehr als grenzwertige Belastung, die man den Menschen vorzugsweise ersparen möchte.

„Jeder Mensch hat das Recht auf soziale Teilhabe, auf ein würdevolles Leben ohne Existenzangst.“ (Seite 61)

Aber Existenzangst ist ein anthropologisches Grundmuster. Die Notwendigkeit, den eigenen Lebensunterhalt eigenständig zu bestreiten, ist natürlicher Teil des Menschseins – mit allen damit verbundenen Unsicherheiten.

An diesem Punkt wird deutlich, dass das grüne Menschenbild nicht nur utopisch, sondern im Wortsinn unmenschlich ist.

Tatsächlich orientiert sich die Politik im grünen Programm nicht am Menschen, sondern an einer – allerdings kruden – Idee von „Natur“. Man folgt keinem humanistischen Weltbild, sondern einem „ökologischen“.

„Wir haben ein klares Ziel für dieses Jahrzehnt vor Augen: klimagerechten Wohlstand.“ (Seite 6)

Es geht ausdrücklich nicht um einen menschengewünschten Wohlstand.

Das gesamte Papier ist ein Programm zur systematischen Unterordnung des Menschen. Dessen Bedürfnisse und Wünsche sind nachrangig gegenüber der Natur, dem Klima, den Tieren. Überhaupt sind die eigenen Bedürfnisse und Wünsche nachrangig gegenüber allen anderen.

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Und das ist auch das dritte große Leitmotiv: das Anti-Deutsche.

„Patriotismus, Vaterlandsliebe also, fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht.“
(Robert Habeck – Patriotismus: ein linkes Plädoyer, 2010)

Die Grünen folgen einer fatalen Traditionslinie der deutschen Linken. Dort war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Strömung entstanden, die die deutsche Teilung als gerechte Strafe für das Dritte Reich ansah. Heute erneut populäre Parolen wie „Nie wieder Deutschland“ haben da ihre geistigen Wurzeln. Überall durch den grünen Programmentwurf schimmert dieser pathologische Selbsthass.

Sprachlich zeigt sich das daran, dass das Wort „Deutschland“ fast nur zusammen mit „Europa“ vorkommt (was für ein Programm zur Bundestagswahl obendrein reichlich anmaßend ist). Für die Grünen ist Deutschland ausdrücklich nicht die soziale, kulturelle und politische Heimat der Bürger, sondern der physische Aufenthaltsraum aller gerade zufällig Anwesenden.

Und um Deutschland zu überwinden, will man es in einem europäischen Bundesstaat aufgehen lassen.

„Unser Fixstern für die Weiterentwicklung der Europäischen Union ist die Föderale Europäische Republik.“ (Seite 86)

Für das grüne Programm ist Deutschland keine Nation, sondern ein Begriff auf der Landkarte: nur ein geografischer Siedlungsraum.

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„Reaktive Politik hat die letzten Jahre über das Schlimmste verhindert. Aber es geht darum, das Beste zu ermöglichen.“ (Seite 6)

Das ist, mit Verlaub, ein totalitäres Konzept. Nein, in der Politik geht es ausdrücklich nicht darum, „das Beste zu ermöglichen“. Politik ist Grenzmoral: Es geht immer nur darum, das jeweils Schlimmere zu verhüten.

Freiheitliche und realistische Politik setzt Mindeststandards: Grenzen nach unten. Freiheitliche und realistische Politik formuliert keine gesellschaftlichen Ziele. Denn das sind kollektive Ideale, und mit denen hat gerade Deutschland keine guten Erfahrungen gemacht.

„Was ich lustig finde, ist, wenn ich meinen linken Freunden mal erzähle, was die Grünen so fordern. Die sagen immer: ‚Du irrst dich, da musst du was falsch verstanden haben.‘ Die linken Parteien leben davon, dass ihre Wähler nicht wissen, was sie tun.“
(Elisa David – Tweet vom 03. April 2021)

Die grüne Gesellschaft ist ein ökonomisches perpetuum mobile. Es gibt keine Konkurrenz, keinen Wettbewerb, keine Interessenkonflikte. Der Strom (von dem unfassbar viel gebraucht wird) kommt aus der Steckdose, das Geld von der Bank, die Rohstoffe aus Nimmerland. Es gibt keine Anstrengung, keine Pflichten, keine Entbehrungen.

Die Welt als Waldspaziergang.

Es geht nur noch darum, das schon Erreichte zu sichern, zu schützen, zu bewahren. Es geht nicht mehr darum, etwas Neues zu erreichen, zu erarbeiten, zu erschaffen. „Deutschland. Alles ist drin.“ ist das gedanklich am konsequentesten rückwärtsgewandte, im negativen Sinn konservativste und definitiv fortschrittfeindlichste Programm, mit dem jemals eine Partei zu einer Bundestagswahl angetreten ist.

Aber wer auf dem Fahrrad aufhört zu treten, fällt um.

„Während wir die Schilder der Mohrenstraße abschrauben, baut China weiter an der Seidenstraße.“
(Wolfgang Reitzle – am 07. April 2021)

In der grünen Gesellschaft ist die Natur unantastbar, Naturschutz geht vor Menschenschutz. Gleichzeitig ist die Gesellschaft maximal und notfalls per Zwang politisch formbar. Zwischen der unveränderlichen heiligen Natur und der beliebig manipulierbaren Gesellschaft als ideologischem Reallabor gehen sowohl die Selbstbestimmung wie die Eigenverantwortung verloren, sowohl die Nation wie – als zwangsläufige Folge – die Demokratie.

Der freie Bürger wird abgeschafft.

„Aber Worte allein reichen nicht, wir müssen es auch tun. Jetzt ist die Zeit fürs Machen.“ (Seite 6)

Das ist genau das, was man befürchtet.

Und niemand soll sagen, er hätte es nicht gewusst.