Tichys Einblick
Hört die Signale

Von der Union bis zur Linkspartei – alle träumen vom Umbau der Gesellschaft

Bei den Grünen und der Linkspartei, aber auch in Teilen der SPD und der Union ist die Arroganz einer selbsternannten Avantgarde zu spüren / Die Parteien sollten ihre programmatischen Ziele offenlegen / Der Wähler hat ein Recht, zu wissen, was ihn erwartet

Symbolbild

IMAGO / imagebroker

„Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht, die Internationale erkämpft das Menschenrecht!“ Wieder einmal liegt die Melodie dieses uralten Kampfliedes der Linken über dem Lande. Ausgerechnet bei den leidenschaftlich vorgetragenen Hymnen des CDU/CSU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus auf die Leistungen Angela Merkels drang sie leise ins Ohr. Er sei, so befand er in der Aussprache zur Regierungserklärung Merkels, mit dem Vorsatz in die Politik gegangen, den Menschen Sicherheit zu geben, denn Sicherheit sei der höchste Wert, der erst die Wahrnehmung aller anderen Werte ermögliche. Diese Erkenntnis sei auch der Maßstab aller Anti-Corona-Maßnahmen. Und unter dieser Prämisse müsse auch die Revolution aller Lebensbereiche sein, die unzweifelhaft auf uns zukomme.

Zwei Fragen drängten sich mir dabei sofort auf. Warum ist der mächtige CDU-Fraktionschef nicht längst der katastrophalen Corona-Politik Merkels in den Arm gefallen? Warum schaut er schon so lange dem Treiben der CDU-Minister Altmaier und Spahn zu, die nach der Devise: „erst versprich’s – und dann brich’s“, mittlerweile das Vertrauen völlig verspielt haben?

Hört die Signale
Doch vor allem haben die Deutschen ein Recht darauf, zu erfahren, wohin die revolutionäre Reise der Brinkhaus & Co gehen soll. Denn, wenn erst die Revolution ihre Kinder frisst, wie Zeitzeugen das mörderische Wüten der Jakobiner unter Freund und Feind im Nachklang der Französischen Revolution charakterisierten, ist es zu spät. Vielleicht rückt eines nicht mehr allzu fernen Tages an die Stelle der Pandemie der Klimawandel, vor dem die Menschen zu ihrer Sicherheit geschützt werden müssen. Vielleicht mit neuen Lockdowns, Einschränkungen der Reisefreiheit und festen „Atemzeiten“.

Ähnlich argumentiert ja auch die SED (z. Zt. „Die Linke“ genannt), wenn ihre neue Vorsitzende Janine Wissler im Interview mit dem Tagesspiegel unbekümmert bekennt, das bundesdeutsche System „aus den Angeln heben zu wollen“, um dann nach der Enteignung der Privatwirtschaft und Vertreiben der Kapitalisten, das Reich des Guten aufzubauen. Wenn die jungen Genossen*innen dieser Partei die DDR selbst erlebt hätten, wüssten sie, welch fürchterlichem Dasein sie sich entgegenträumen. Auch die Grünen schwärmen vom Umbau der Sozialen Marktwirtschaft zu einer ökologisch-nachhaltigen Form des Wirtschaftens – Enteignung inbegriffen.

Einer, der schon sehr früh, noch zu Kohls Zeiten die Fühler zu den Grünen und ihren Ideen ausstreckte, ist Merkels engster Vertrauter Peter Altmaier. In einem Artikel für die FAZ befand er, dass es zwei widerstreitende Gruppen in unserer Gesellschaft gäbe. Die Eine, und zu ihr zählt sich Altmaier selbst, habe die Notwendigkeit grundlegender Veränderung im Denken und Handeln unserer Gesellschaft erkannt. Für diese Gruppe stehen die neuen Aufklärer, zu denen er sich in seiner Verantwortung als Politiker zugehörig fühlt. Konkret gehe es darum, den Gedanken der Aufklärung, bei der es ja im 18. Jahrhundert vor allem um politische und individuelle Rechte gegangen sei, um kulturelle zu ergänzen und weiter zu entwickeln. Dagegen stünden die immer noch zahlreichen strukturkonservativen Menschen mit dem Denken von gestern, die die Notwendigkeiten der Zeit nicht verstünden.

Hört die Signale
Marx und ganz besonders Lenin lassen grüßen. Nach ihnen ist es die Aufgabe einer Avantgarde, der Partei mit ihrem „Goldkorn“, dem Politbüro, die neue Gesellschaft auch gegen den Willen der Menschen durch Umerziehung durchzusetzen. Dabei hat die Geschichte gelehrt, was die Methode: „und bist Du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“ an Grauen anrichten kann. Und tatsächlich ist sowohl bei den Grünen, der Linkspartei, aber auch in Teilen der SPD und der Union die arrogante Attitude einer selbsternannten Avantgarde zu spüren.

Angesichts solcher Perspektiven sollten die Wahlbürger verlangen, dass jede Partei einen Katalog von Vorhaben für das erste Jahr ihrer Gestaltungsmacht vorlegt. Keiner soll später sagen können, er habe es nicht gewusst. Bleibt noch die Frage, warum es keine wirkliche konstruktive Debatte über diese Fragen gibt. Gibt es vielleicht gar keine liberalen Intellektuellen im Sinn der klassischen Aufklärung zur Befreiung des Individuums, oder traut sich schon niemand mehr, aus Furcht vor gesellschaftlicher Ächtung, den Mund aufzumachen?

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