Tichys Einblick
Politische Sprache

Vom „Schönreden“ zur „Sprachverrohung“

Internationalen Beobachtern der deutschen Politik fällt auf, dass hierzulande lieber über Wörter statt Sachen diskutiert wird: Den Wortprägern entgeht die zeitlich recht befristete Wirkung.

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Internationalen Beobachtern der deutschen Politik fällt auf, dass hierzulande lieber über Wörter statt Sachen diskutiert wird: So nahm in der Flüchtlingsdebatte 2015‒16 die Frage, wie diese Personengruppe zu bezeichnen sei (Flüchtlinge, Geflüchtete, Flüchtende, Schutzsuchende usw.) einen größeren Raum ein als die Kosten (immerhin 40 Milliarden Euro pro Jahr). Und jüngst entfachte das Wort Asyltourismus für die “Sekundärmigration“ (Asylbewerber, also nach eigenen Angaben „politisch Verfolgte“, „flüchten“ von einem sicheren EU-Staat in einen anderen) eine solche mediale Empörung, dass der bayerische Ministerpräsident Söder, der das Wort in Umlauf gebracht hatte, es wieder zurückzog.

Das moralische Deutschland, vom Bundespräsidenten abwärts, beklagt derzeit die „Sprachverrohung“ in der Politik. Nun ist Kritik an der politischen Sprache nicht neu, aber bisher lautete der Hauptvorwurf, sie nenne die Dinge nicht beim richtigen Namen, rede sie schön und betreibe „Etikettenschwindel“. Das klassische Beispiel dafür sind die Amtsbezeichnungen Verteidigungs-minister und -ministerium, die nach den Schrecken von zwei Weltkriegen international an die Stelle von Kriegsminister bzw. –ministerium traten. Wie sprachschöpferisch heutige Politik ist, zeigt der Name Beitragsservice, der 2013 die Gebühreneinzugszentrale (GEZ) der deutschen Rundfunkanstalten ersetzte und gleich zu zwei sprachlichen Fehlschlüssen verleiten kann: Erstens wird eine Zwangsabgabe (auch Haushalte ohne Rundfunkgerät müssen sie zahlen) als (freiwilliger) „Beitrag“ ausgegeben, und zweitens besteht der „Service“ nicht in einer positiven Dienstleistung, sondern darin, laufend über eine Million Mahn- und Strafverfahren gegen säumige Zahler zu führen.

II

Worum geht es bei der aktuell beklagten „Sprachverrohung“? Rhetorisch gesehen um Stilfragen, genauer: die Stilhöhe politischer Äußerungen: Unter einer „rohen“ Sprache versteht man eine „unfeine“, sehr derbe Ausdrucksweise wie zum Beispiel im Erfolgsfilm „Fack ju Göthe“. In diesem Sinne ist Asyltourismus keinesfalls als „roh“ zu bewerten, es handelt sich um eine stilistisch neutrale Metapher, die man „passend“ oder „unpassend“ finden kann. Allerdings ist sie politisch nicht korrekt, und das wird von politisch Korrekten gerne gleichgesetzt mit „roh“, „unanständig“, „Hetze“ und anderen Eigenschaften, die einen „Unmenschen“ kennzeichnen.

Die Stilfrage ist bei der sogenannten „Sprachverrohung“ also nur ein Vorwand. Tatsächlich geht es um Machtfragen, konkret: die Diskurshoheit, nach dem Glaubenssatz: Wer die Begriffe setzt, bestimmt die Diskussion. Ob man die Asylmigation über das Mittelmeer als  „Seenotrettung“ bezeichnet oder als „Seenoterpressung“, strukturiert den öffentlichen Diskus jeweils ganz anders. Das erklärt die Verbissenheit, mit der in der Politik über Wörter gestritten wird.

Verstärkt wird dieser Streit durch eine neue, aus den USA kommende neurolinguistische Lehre, das „Framing“, die ‒ verkürzt ‒ besagt:  Wörter können im Hirn einen Deutungsrahmen aktivieren, der die Einstellung des Empfängers in eine bestimmte Richtung lenkt: zum Beispiel rufe Steuerlast das Bild des ächzenden und geplagten Steuerzahlers hervor, der „Steuererleichterungen“ braucht.  Politisch ist diese Theorie ungemein attraktiv: Wenn Sprache unser Verhalten lenkt, dann kann man durch Änderungen der Sprache das Verhalten der Bürger verändern. Diese Annahme liegt der politischen Korrektheit zugrunde, die im Kern ein sprachliches Umerziehungsprogramm darstellt.

Der Grundgedanke des Framing: „Sprache lenkt unser Denken“ wurde übrigens schon im 18. Jahrhundert diskutiert und dann in der Französischen Revolution praktisch angewendet: Um das revolutionäre Prinzip der „Gleichheit“ (égalité) in den Köpfen zu verankern, ordneten die Revolutionäre 1793 das allgemeine Duzen an ‒ das sich aber nicht durchsetzte.

III

Sprache hat nicht nur eine kommunikative Funktion, sondern auch eine Signalfunktion: Sage ich Geflüchteter statt Flüchtling, zeigt das eine bestimmte politische Einstellung. Das Wort unterscheidet die „Einen“ von den „Anderen“. Aber wie treffsicher sind solche Erkennungsmuster? Man kann mit der Sprache auch lügen oder einfach dem Mainstream folgen: Wer sich im Bereich „Flucht und Migration“ um eine der vielen neugeschaffenen Stellen bewirbt, weiß natürlich, welche Schlüsselwörter im Vorstellungsgespräch erwünscht und verpönt sind, und wird sich danach sprachlich richten.

IV

Im alltäglichen Sprachgebrauch sind Wortstreitigkeiten eher selten, man nimmt die Wörter als Etiketten wahr und denkt sich nicht viel dabei. Anders bei Neuwörtern: Diese erregen zunächst Aufmerksamkeit, die sich aber legt, sobald ein Neuwort allgemein akzeptiert ist. Dann verpufft auch die mit der Wortprägung verbundene Absicht: Dass ein Verteidigungsminister einen Angriffskrieg plant, wird nicht mehr als Widerspruch empfunden; der freundlich klingende Beitragsservice ist heute genauso unbeliebt wie früher die sprachlich abschreckende Gebühreneinzugszentrale, und der Solidaritätszuschlag wird nicht lieber bezahlt als andere Steuern. Kurzum: Auf lange Sicht sind  Wörter „Schall und Rauch“.

Im Süden des deutschen Sprachgebietes hört man bei der sprachlichen Kontaktaufnahme meist die Formel Grüß Gott!. Dahinter steckt kein Framing religiöser Fundamentalisten, sondern reine Konvention ‒ auch Atheisten sagen ohne weiteres Grüß Gott! Diese Gelassenheit im Umgang mit Sprache täte auch der Politik gut.

Helmut Berschin ist Professor em. für Romanische Sprachwissenschaft