Tichys Einblick
Autoritär statt demokratisch

Vom Europa der Vaterländer zum Europa der Schlagstöcke

Gerne empören wir uns über brutale Polizeieinsätze in Asien, Afrika oder Südamerika. Doch ein Blick auf Europas Straßen zeigt: Hier geht es dem kritischen Bürger inzwischen oft nicht besser.

IMAGO / Reichwein

Fangen wir mit einem kleinen Wutausbruch an: Es ist nicht mehr zu ertragen. Die Hybris, die Herablassung, die Bigotterie müssen jedem halbwegs vernünftigen Menschen die Zornesröte ins Gesicht treiben.

Es kommt einem die Galle hoch. Man fragt sich mittlerweile, wer eigentlich schlimmer ist: der bekennende Autokrat – oder der heuchelnde Pseudo-Demokrat?

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Hier soll es um Europa gehen, genauer um Westeuropa, und dahin fliegen wir auch gleich. Weil aber erstens Reisen bekanntlich bildet, weil zweitens ein Blick über den Tellerrand den Horizont erweitert, sowie drittens zum besseren Verständnis durch Vergleich schauen wir auf der Weltkarte noch ganz kurz woanders hin.

Allein in den vergangenen acht Wochen gab es in Afrika und Asien große politische Demonstrationen gegen Regierungen und für mehr Demokratie in diesen Ländern:

• Algerien
• Niger
• Senegal
• Südafrika
• Hong Kong
• Indien
• Jordanien
• Myanmar
• Thailand.

Die Proteste begannen allesamt friedlich (jedenfalls friedlicher als ein handelsüblicher 1.-Mai-Krawallaufmarsch von Linksautonomen in Berlin). Trotzdem setzte die Polizei überall Wasserwerfer, Tränengas, Gummiknüppel und teilweise auch Gummigeschosse ein. An einigen Orten kam es dann zu heftigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften.

Doch allgemeine Unzufriedenheit mit häufig autokratischen Regimen ist in diesen Zeiten nicht mehr der einzige Grund, weshalb Menschen massenweise auf die Straße gehen. Vielerorts wollen sich immer mehr Bürger nicht mehr damit abfinden, wie sehr die Politik mit der Begründung „Corona“ ihre persönlichen Freiheiten einschränkt.

Allein in den vergangenen acht Wochen gab es in Asien und Südamerika große Anti-Lockdown-Proteste in diesen Ländern:

• Israel
• Libanon
• Bolivien
• Paraguay.

Den folgenden Absatz kann man bequem copy-pasten: Die Proteste begannen allesamt friedlich. Trotzdem setzte die Polizei überall Wasserwerfer, Tränengas, Gummiknüppel und teilweise auch Gummigeschosse ein. An einigen Orten kam es dann zu heftigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften.

Verlassen wir nun Afrika, Asien und Südamerika – und reisen nach Europa: in die Heimat der moralischen Heuchelei.

„Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“
(Die Bibel: Matthäus 7,3)

Insbesondere der grün-linke Mainstream auf unserem Kontinent beschäftigt sich zwar obsessiv und grenzwertig polit-pathologisch mit der tatsächlichen (sowie zusätzlich einer eingebildeten) kolonialen Vergangenheit, lässt gleichzeitig aber keine Gelegenheit aus, den Rest der Welt in Sachen Demokratie und Menschenrechte geradezu gouvernantenhaft zu belehren.

Die faktische Grundlage für diesen Hochmut ist zunehmend unklar. Denn allein in den vergangenen acht Wochen gab es große politische Demonstrationen gegen Regierungen und für mehr Demokratie bzw. große Anti-Lockdown-Proteste in diesen Ländern:

In Frankreich…
… gingen tausende Menschen gegen Polizeibrutalität auf die Straße. Die Polizei (in Blois und Loir-et-Cher) setzte Wasserwerfer, Tränengas und Gummiknüppel ein.

In Griechenland…
… gingen tausende Menschen gegen den Lockdown und die Corona-Politik der Regierung auf die Straße. Die Polizei (in Athen) setzte Wasserwerfer, Tränengas und Gummiknüppel ein.

In Großbritannien…
… gingen nach dem Mord an einer jungen Frau tausende Menschen auf die Straße. Die Polizei löste die absolut friedliche (!) Mahnwache (!!) gewaltsam (!!!) auf. Danach protestierten Tausende erst gegen Polizeibrutalität und dann gegen ein geplantes neues Versammlungsgesetz, das das Demonstrationsrecht stark einschränken soll. Die Polizei (in London) setzte Wasserwerfer, Tränengas und Gummiknüppel ein.

In Irland…
… gingen tausende Menschen gegen den Lockdown und die Corona-Politik der Regierung auf die Straße. Die Polizei (in Dublin) setzte Wasserwerfer, Tränengas und Gummiknüppel ein.

In den Niederlanden…
… gingen tausende Menschen gegen den Lockdown und die Corona-Politik der Regierung auf die Straße. Die Polizei (in Den Haag) setzte Wasserwerfer, Tränengas und Gummiknüppel ein.

In Spanien…
… gingen tausende Menschen gegen Polizeibrutalität auf die Straße. Die Polizei (in Barcelona, Madrid und anderen Städten) setzte Wasserwerfer, Tränengas und Gummiknüppel ein.

Das Europa der Vaterländer ist zu einem Westeuropa der Schlagstöcke geworden.

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Und in Deutschland?

Auch hier gehen Zehntausende friedlich für ihre Grundrechte auf die Straße. Und auch hier macht die Staatsmacht notfalls mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummiknüppeln deutlich, was sie von Grundrechten in Pandemiezeiten hält. Berlin, Dresden, Kassel, Stuttgart … Die Liste ist lang.

Im vergangenen Corona-Jahr, das ist sicher keine allzu steile These, hat es mehr Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten gegeben als in dem Jahrzehnt davor zusammen. Und Polizeieinsätze auf Rodelbahnen gegen Familienausflüge, in Parks gegen sich umarmende Jugendliche oder in Privatwohnungen gegen Kindergeburtstage sind da noch gar nicht mitgezählt.

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„Wie Corona-Leugner die Staatsmacht vorführen.“
(Kristian Frigelji – am 21. März 2021)

Dabei fällt auf, wie verstörend doppelzüngig Politiker und Journalisten den Einsatz von staatlicher Gewalt gegen Bürger auf der Straße bewerten – je nachdem, wie ideologisch nahe ihnen jeweils die Demonstranten stehen.

Die „Welt“ fordert Polizeigewalt gegen sogenannte „Querdenker“, deren Ansichten zur Pandemie man nicht teilen muss – die aber letztlich nichts anderes tun, als für ihre verfassungsmäßig angeblich garantierten Bürgerrechte zu demonstrieren. Als die Polizei bei den illegalen Protesten im Leipziger Kohlerevier auf „Deeskalation“ setzte, forderte die Zeitung: nichts.

Auch die SPD, stellvertretend für den grün-linken Mainstream, nimmt es, wie es gerade passt: Als ein „Zurückweichen des Staates“ kritisierten die hessischen Sozialdemokraten die „Querdenker“-Demonstration in Kassel. Als vor drei Wochen 2.000 autonome Hausbesetzer in Berlins Rigaer Straße die Polizei mit Pflastersteinen von Hausdächern angriffen, kam von der Hauptstadt-SPD dröhnendes Schweigen.

Es ist, siehe oben, nicht mehr zu ertragen.

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Wenn das friedliche Ausüben von Grundrechten von der Polizei gewaltsam unterbunden wird, ist die Schwelle von der freiheitlichen Demokratie zum autoritären Staat überschritten. Immer und ohne jede Ausnahme.

Westeuropa hat diese Schwelle überschritten. Deutschland auch.

Anti-Lockdown-Proteste mit jeweils mehreren tausend Teilnehmern gab es in den vergangenen zwei Wochen übrigens auch in Kroatien, Rumänien und in der Schweiz. Aber überall dort verzichtete die Staatsmacht auf Wasserwerfer, Tränengas und Gummiknüppel.

Wer hätte vor gut einem Jahr geahnt, dass das einmal die Ausnahme sein würde?

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