Tichys Einblick
Zwei Experten im Gespräch

Corona-Demoverbote: Wie die Versammlungsfreiheit mit wissenschaftlich unhaltbaren Argumenten ausgehebelt wird

Corona-Demonstrationen werden in zahlreichen Städten verboten und aufgelöst. TE sprach mit Verfassungsrechtler Vosgerau über die rechtliche Lage. Der führende Aerosolforscher Scheuch erklärt, wie hoch die Infektionsgefahr unter freiem Himmel tatsächlich ist. Von Jonas Aston & Max Mannhart

IMAGO / Future Image

In Hamburg protestierten Woche für Woche Menschen ausgesprochen friedlich gegen die Corona-Maßnahmen und die Impfpflicht. An diesem Samstag löste die Polizei die Proteste auf – ließ den schwarzen Block der Antifa aber aufmarschieren (TE berichtete). Auch in zahlreichen anderen Städten unterbindet die Polizei die Proteste. Die Demonstranten sehen ihr Recht auf Demonstrationsfreiheit eingeschränkt – für Teile der Politik ist das Vorgehen aus Infektionsschutzgründen eine Selbstverständlichkeit.

Doch welches Vorgehen gegen Demonstranten ist zulässig? Sind die Begründungen für die Verbote haltbar? Wie ist die Rechtslage bei „Spaziergängen“ und Spontanversammlungen? Gibt es „nicht genehmigte“ Demonstrationen?

TE sprach dazu mit Dr. Ulrich Vosgerau – der habilitierte Verfassungsrechtler wurde u.a. für die Prägung des Begriffs „Herrschaft des Unrechts“ bekannt und zog zuletzt gegen die Corona-Notbremse vor das Bundesverfassungsgericht.

Mit dem Aerosolforscher Dr. Gerhard Scheuch sprach TE über die Infektionsgefahr im Freien und die Wirksamkeit entsprechender Maßnahmen an der frischen Luft.

„Ohne Versammlungsfreiheit keine Demokratie!“

„Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“, so formuliert es Artikel 8 des Grundgesetzes. Dennoch ist für einige das Demonstrieren gerade kaum möglich: Wenn in München eine Corona-Demo angemeldet wird, wird sie mit Auflagen belegt, die die Demonstration sinnlos machen – demonstriert man unangemeldet, wird die Demonstration von der Polizei aufgelöst. Schon das Thema der Demonstration wird als Grund für deren Verbot hergenommen – schließlich sind hier alle unangemeldeten Proteste mit Bezug auf die Corona-Maßnahmen verboten – ohne Einzelfallprüfung.

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Verfassungsrechtler Vosgerau fasst die Rechtslage im Gespräch mit TE so zusammen:
„Eine Versammlung darf nur dann verboten und, wenn die Leute das Verbot nicht beachten, auch aufgelöst werden, falls durch ihre Durchführung die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet wird. Dabei ist das Versammlungsverbot stets die Ultima Ratio; in aller Regel wird es möglich sein, die öffentliche Sicherheit durch Versammlungsauflagen und die Präsenz der Polizei hinlänglich zu schützen. In einer Demokratie ist die Versammlungsfreiheit ein essentielles Grundrecht, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Brokdorf-Beschluss herausgearbeitet hat. Ohne Versammlungsfreiheit keine Demokratie!“

Die Frage, die bei der Rechtmäßigkeit der Verbote also im Vordergrund steht, ist die Frage, ob die Demonstration die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet. Sowohl in Hamburg als auch in München wird das Verbot mit der Gefahr durch Ansteckung mit dem Corona-Virus begründet. Ist dieses Argument stichhaltig?


Hintergrund: Wie hoch ist die Infektionsgefahr im Freien?

Ob im Freien überhaupt eine größere Corona-Infektionsgefahr besteht, ist jedoch hoch fraglich. TE sprach darüber mit Dr. Gerhard Scheuch, einem der führenden Experten auf dem Gebiet der Aerosolforschung. Gerhard Scheuch ist Bio-Physiker und ehemaliger Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin. Er gründete mehrere Pharmaunternehmen und ist Regulatory Expert bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA. Über die Erkenntnisse der Aerosolwissenschaft klärt Scheuch regelmäßig auf YouTube in seiner Sendung „Aerosol ABC“ auf.

Scheuch sagt: „Man steckt sich hauptsächlich in Innenräumen an, aber nicht im Freien. Auf Demonstrationen, im Fußballstadion oder auf der Ski-Piste ist das Infektionsrisiko sehr gering“. Gefährlich seien vor allem Superspreader-Events und diese gebe es an der frischen Luft quasi nicht. Durch infektiöse Infizierte „kommt es draußen vielleicht zu einzelnen Infektionen, aber nie zu solchen Cluster-Infektionen, wie man sie etwa aus Diskotheken – man könnte unendliche Beispiele aufzählen – kennt. Dort gibt es immer wieder Cluster-Infektionen, bei denen eine einzige Person sehr viele weitere ansteckt. Das gibt es im Freien nie. Es gibt keine einzige dokumentierte Cluster-Infektion im Freien“.

Größere Infektionen seien nur dort möglich, wo eine hohe Aerosolkonzentration vorliegt. Im Freien ausgeatmete Partikel werden so schnell verdünnt, dass dies unmöglich werde. „Im Freien steigt die Luft nach oben, da die ausgeatmete Luft wärmer als die Umgebungsluft ist“.

Zu Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht im Freien sagt Gerhard Scheuch: „Das macht aus aerosolwissenschaftlicher Sicht keinen Sinn. Da wo praktisch keine Ansteckungen stattfinden, können auch keine verhindert werden. Regelungen wie in Frankfurt oder Wiesbaden und auch in anderen Städten, bei welchen in der Innenstadt Maskenpflicht herrscht, halte ich für deutlich übertrieben“. Weiter sagt er: „Es ist ein Aktionismus, mit dem man den Leuten zeigen will: ‚Achtung, es ist gefährlich‘“. Psychologisch könne das Sinn machen, aerosolwissenschaftlich jedoch nicht. Nur ein Prozent der Infektionen würden im Freien stattfinden, daran ändere auch Omikron nichts. Scheuch sagt: „Anstelle von Kontaktbeschränkungen im Freien, müsste man die Menschen aus wissenschaftlicher Sicht gerade im Gegenteil dazu animieren rauszugehen, immer dann ist die Infektionsgefahr niedrig.“
Pointiert zusammengefasst: Die Infektionsgefahr ist niedriger, wenn man ins Fußballstadion geht, als wenn man sich mit ein paar Freunden zum Fußball-Schauen vor dem heimischen Fernseher verabredet.


Verfassungsrechtler Vosgerau meint dazu: „Wenn es an der frischen Luft keine Ansteckungen gibt, sind entsprechende Auflagen oder gar Verbote natürlich offensichtlich ungeeignet zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und mithin rechtswidrig. Dies können Gerichte aber eben auch nur feststellen, wenn man gegen entsprechende Verbote oder Auflagen klagt; im Rahmen einer gar nicht erst angemeldeten Versammlung kann man die Feststellung, daß sie im Falle einer Anmeldung nicht hätte verboten werden dürfen, nicht erreichen.“

Dr. Ulrich Vosgerau

Nun sind die meisten Demonstrationen ja als „Spaziergänge“ deklariert – oft auch um dem Verbot der Demonstration zuvorzukommen. In kommunalen Allgemeinverfügungen ist oft von „sogenannten Spaziergängen“ die Rede. Meist wird, was unter „Spaziergang“ zu verstehen ist, nicht weiter definiert. Ist ein solches Vorgehen rechtlich zulässig oder öffnet dies behördlicher Willkür Tür und Tor?

„Es gibt keine ’nicht genehmigten‘ Demonstrationen“
Ulrich Vosgerau meint dazu: „Versammlungen unter freiem Himmel müssen spätestens 24 Stunden vorher angemeldet werden. Es gibt dabei keinerlei behördliche „Genehmigung“, auch wenn man dies dauernd so in Zeitungen liest und im Rundfunk hört; daher gibt es auch keine „nicht genehmigten“ Demonstrationen, und Spaziergänge schon gar nicht. Aber man muß eben vorher Bescheid sagen, jedenfalls, wenn man es kann, weil man eben schon 24 Stunden vorher weiß, daß man sich versammeln möchte. Durch die Anmeldungspflicht werden allerdings, schon wegen des hohen demokratischen Ranges der Versammlungsfreiheit, spontane Versammlungen nicht ausgeschlossen.“

Spontane Versammlungen müssten allerdings dann auch wirklich spontan sein: „Verboten ist es aber, eine schon länger geplante Versammlung oder einen Aufzug – das ist eine Versammlung, die sich fortbewegt, wie v.a. eine Demonstration – nur zum Schein als Spontanversammlung durchzuführen, weil man die Anmeldung vermeiden will. Dies tun die ‚Spaziergänger‘ wohl in vielen Fällen, weil sie im Falle einer ordnungsgemäßen Anmeldung das Verbot der geplanten Versammlung oder jedenfalls empfindliche Auflagen, wie z.B. eine zahlenmäßige Obergrenze der Demonstranten, befürchten. Gerade durch eine zahlenmäßige Obergrenze der Versammelten wird natürlich der wesentliche Zweck einer politischen Demonstration, nämlich zu zeigen, wie zahlreich die Opposition ist, vereitelt. Ein Häuflein von Demonstranten wirkt lächerlich und erreicht gerade die gegenteilige öffentliche Wirkung als die eigentlich beabsichtigte.“
Hamburg, Frankfurt & Co.
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Teilweise verhindert die Polizei selbst auch, dass eine Demonstration Maßnahmen-konform durchgeführt werden kann. In München drängte die Polizei die Demonstranten etwa immer weiter zusammen – und beschwerte sich dann über die mangelnden Abstände. Dass die Demonstranten als „Spaziergänge“ stattfinden, hat ja den Hintergrund, dass es tatsächlich oft die einzige verbliebene Möglichkeit ist, überhaupt zu demonstrieren.

Es bleibt: Versammlungen, von denen keine weiter gefährliche Infektionsgefahr ausgeht, werden derzeit eingeschränkt, nur um Zeichen zu setzen. Eines der wesentlichsten Grundrechte wird eingeschränkt – mit Argumenten, die wissenschaftlich längst widerlegt sind. Dazu kommt eine eklatante Ungleichbehandlung – denn so scharf wurde nie gegen tatsächlich gefährliche, unangemeldete Erste-Mai-Krawalle vorgegangen und auch heute können andere politische Strömungen ohne Einhaltung der Corona-Beschränkungen frei demonstrieren. Rechtlich mag es keine Gleichbehandlung im Unrecht geben – diese Ungleichbehandlung ist dennoch eine erhebliche Gefahr für das Vertrauen in den Rechtsstaat und den Rechtsstaat selbst.

Man muss es klar sagen: Mit verstrickten rechtlichen Wendungen ist es gelungen, die Demonstrationsfreiheit für eine bestimmte politische Richtung auszuhebeln. Ein besonders rabiates Polizeivorgehen drückt die Proteste nieder. Die Politik kriminalisiert ihre Kritiker.
Egal, wie man zu dieser Bewegung steht: Das ist ein unhaltbarer Zustand.

Von Max Mannhart und Jonas Aston.
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