Tichys Einblick
Ukraine-Krieg

Wortwaffe „Nazi“

Seit dem 24. Februar 2022 führt Russland Krieg gegen einen – so der russische Präsident Putin – neuen „Nazistaat“, die Ukraine, um das Land zu „entnazifizieren“. Was bedeutet hier das Wort Nazi?

IMAGO / Reichwein

Das nationalsozialistische Deutschland (1933-1945) ist seit einem Dreivierteljahrhundert Geschichte. Nun, genauer: seit dem 24. Februar 2022, führt Russland Krieg gegen einen – so der russische Präsident Putin – neuen „Nazistaat“, die Ukraine, um das Land zu „entnazifizieren“. Was bedeutet hier das Wort Nazi?

Sprachgeschichtlich gesehen ist Nazi als politische Bezeichnung eine Kurzform für Nationalsozialist „Anhänger der 1920 gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP)“. Der Name verbreitete sich in den 1920er Jahren vor allem unter Gegnern der NSDAP und hatte zunächst eine spöttische und distanzierende Note; die Nazis selbst nannten sich meistens „Nationalsozialisten“. Im 3. Reich wurde „Nazi“ im Inland öffentlich nicht verwendet. Im Ausland, unter den Deutschen im Exil, galt es hingegen als Standardbezeichnung für den NS-Staat (Nazi-Deutschland) und dessen Anhänger, die dann im 2. Weltkrieg (1939-1945) international übernommen wurde (Nazi-Germany).

Nach Kriegsende bedeutete Nazi „ehemaliges Mitglied der NSDAP“; diese Personengruppe – in Westdeutschland 2,5 Millionen – musste ein „Entnazifizierungs-Verfahren“ durchlaufen. Danach pendelte sich der Gebrauch des Wortes auf niedrigem Niveau ein: Wenn von „Nazis“ die Rede war, meinte man ehemalige NSDAP-Mitglieder. Diese „Altnazis“ gibt es heute nur noch unter Hundertjährigen. Seit Ende der 1980er Jahre gibt es in Deutschland aber sogenannte „Neo-Nazis“, eine jüngere Generation, deren politische Ziele als NS-affin bewertet werden.
Zahlenmäßig sind diese Neo-Nazis viel zu gering, um die seit einigen Jahren inflationäre Zunahme des Wortes Nazi im öffentlichen Sprachgebrauch zu erklären.

Diese „Entgrenzung“ des Nazi-Begriffes – „So schnell wie jetzt war man noch nie ein Nazi“ (Die Welt 5. 9. 2018) – hat zu einer diffusen Bedeutung des Wortes geführt, die mit der präzisen historischen Wortbedeutung nichts mehr zu tun hat: „Nazi-Vorwürfe [können] gegen alle möglichen Leute verwendet werden, die man, vielleicht zu Recht, ablehnt“ (Zeit-Magazin 10. 3. 2022). Diese Entwicklung findet auch international statt; denn Nazi ist weltweit das bekannteste deutsche Wort.

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Nazi zu einem politischen Schimpfwort geworden, das wegen seiner diffusen Bedeutung ein enormes Anwendungsspektrum hat: Wenn bei der Weltausstellung 2010 in Shanghai chinesische Besucher, die stundenlang vor dem deutschen Pavillon warten mussten, schließlich nàcuì, nàcuì „Nazi! Nazi!“ skandieren, dann ist das ein Protestzeichen gegen „die Deutschen“ (hier: die Verantwortlichen des Pavillons) – weiter nichts. Unter Deutschen würde dieses Deutschen-Bashing sprachlich nicht funktionieren; hier dient, vor allem im links-grünen Milieu, Nazi als Sammelname für Andersdenkende, mit denen man nichts zu tun haben will. Es ist sozusagen eine kommunikative Kriegserklärung: Mit „Nazis“ diskutiert man nicht, es genügt der Slogan „Nazis raus!“.

Fazit: Das Schimpfwort Nazi kann schnell zum Feindwort werden, und dieses Feindwort benutzen Putin und die russische Propaganda gegenüber der Ukraine, wobei sie geschichtlich an dem im kollektiven Gedächtnis verankerten „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen Nazideutschland anknüpfen. Das neue Nazi-Narrativ beschränkt sich allerdings nicht auf Worte („Nazi-Regime“, „Neo-Nazis eliminieren“, „totale Säuberung“ usw.), sie werden mit Krieg und Gewalt umgesetzt.

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