Tichys Einblick
Porträt: Türkinnen in Deutschland

„Das war sozusagen der Anfang vom Ende Deutschlands“

Früh geheiratet und Kinder bekommen, immer gearbeitet. So wie das Leben von Necla aus Nordrhein-Westfalen verlief die Biographie vieler Türkinnen in Deutschland. Jetzt siedelt die 58-Jährige nach Bodrum über – in Deutschland könne man als selbständiger Mensch nicht mehr gut leben.

IMAGO / Müller-Stauffenber

Necla strahlt, als ich sie treffe. Ihre Haut ist goldgebräunt, und sie wirkt generell wie eine Frau, die ihr Alter von 58 Jahren nicht im Ansatz äußerlich erkennen lässt und scheinbar sehr zufrieden mit ihrem Leben ist. Ein Leben mit vielen Höhen und Tiefen in Deutschland, wie sich bald herausstellt, aber sie wird bald in einem anderen Land eine neue Lebensphase beginnen. Necla wurde 1965 in Izmir geboren und kam im Alter von sechs Jahren mit ihrer Mutter nach Deutschland. Hier besuchte sie die Schule und bekam mit 18 Jahren ihr erstes Kind.

„Das war damals leider so. Unsere Eltern waren überfordert und verheirateten die Kinder, besonders die Mädchen, immer schnell“, sagte sie mir und ihr Strahlen verblasst für einen Moment. Denn sie konnte weder eine Ausbildung machen noch einen höheren Abschluss erreichen, um ihren Traumjob als Rechtsanwältin auszuüben. Vier Jahre nach dem ersten Kind kamen das zweite und dritte Kind innerhalb von zwei Jahren. Auf die Frage, wie sie das alles bewältigte, zuckte sie nur mit den Schultern: „Das war damals einfach so und normal. Ich habe zu dieser Zeit auch immer gearbeitet, sogar in Schichtarbeit über viele Jahre hinweg, nachdem mein jüngstes Kind in den Kindergarten kam. Davor hatte mein Mann eine selbständige Heizungsfirma, die sein Vater aufgebaut hatte, und wir arbeiteten immer zusammen. Unsere Kinder kamen nach der Schule immer dorthin. Es gab selten eine Trennung zwischen Arbeit und Privatleben. Arbeit gehört eben zum Leben dazu.“

Mit dem neuen Jahrhundert veränderte sich viel in Neclas Familie. Genauer gesagt 2002 mit der Einführung des Euro und laut ihr besonders durch die Amtsübernahme Merkels 2005. „Das Geld, das wir zuvor hatten, fühlte sich an, als hätte jemand es halbiert. Das war sozusagen der Anfang vom Ende Deutschlands“, sagt sie überzeugt.

2006 erlitt Necla ihren ersten Bandscheibenvorfall. Neben ihrer Arbeit ging sie auch oft putzen und unterstützte Senioren. Während dieser Zeit suchten sie und ihr Mann nach neuen Perspektiven. Die immer weniger wurden. 2008 die Finanzkrise. Es folgten Umzüge und neue Versuche, sich selbständig zu machen. Denn eines war Necla immer wichtig: „Wir wollten niemals abhängig sein, weder vom Staat noch von anderen, aber es wurde immer schwerer. Vielleicht ist das etwas Typisches für Türken, dass wir lieber unser eigener Chef sind. Auch wenn es Vorteile hat, angestellt zu sein, und Nachteile, selbständig zu arbeiten. Aber es war uns wichtig, dass vor allem unsere Kinder sehen, dass mit Fleiß und Anstrengung alles möglich ist. So war es ja auch mal hier in Deutschland, aber das ist längst vorbei“, sagt sie und schüttelt nachdenklich den Kopf.

2010 ließ sich Necla vom Vater ihrer Kinder scheiden. Finanzielle Sorgen und unterschiedliche Lebensentwürfe waren wesentliche Faktoren, wegen derer die Partnerschaft mit ihrem Mann nicht mehr richtig für sie war: „Ich hatte das Gefühl, wir schlittern immer mehr in etwas hinein, was ich nicht mehr wollte, aber gezwungen war, mitzutragen und lange mitgetragen hatte. Das Thema Unabhängigkeit spielte in meinem Leben eine immer größere Rolle.“

„Ich wollte einfach mein eigenes Leben leben, nachdem unsere Kinder erwachsen waren und die Ehe sich für mich mehr nach Verpflichtung anfühlte als nach Liebe und Gemeinschaft. Eine Frau kann auch ohne Mann leben. Man hatte versucht, mir durch unsere Kultur etwas anderes einzutrichtern, aber ich habe es nie so empfunden. Ein Leben als Hausfrau kam für mich nicht in Frage. Entweder muss der Mann so viel verdienen, dass ich nicht mehr arbeiten muss, oder ich gehe selbst arbeiten. Aber alles zusammen, ohne dass der Ehemann am Familienleben teilnimmt, hilft und unterstützt? Dann lebe ich lieber alleine und putz nur meinen Dreck weg.“

Und so setzte Necla ihre Scheidung durch. Sie zog an einen anderen Ort und arbeitete zunächst weiter als Putzhilfe. Trotz ihrer sehr guten Deutschkenntnisse und ihrer Büroerfahrungen war es am Ende immer der einzige Job, bei dem sie schnell anfangen und Geld verdienen konnte. „Ich hatte es satt, mich zu bewerben, ewig auf Antworten zu warten und dann sowieso abgelehnt zu werden. Die stellen jemanden wie mich ohne Ausbildung nicht ein, auch wenn ich durch die Selbständigkeit vieles gelernt hatte.“ Das war frustrierend, deswegen ging sie oft putzen.

Durch die anstrengende Arbeit als Putzkraft erlitt Necla einen weiteren Bandscheibenvorfall. Sie nahm einen Job im Einzelhandel an und sparte alles, was es zu sparen gab. Der Laden, in dem sie arbeitete, meldete 2014 Insolvenz an und musste Necla entlassen. Danach fing sie wieder an, als Putzkraft zu arbeiten. In der Woche reinigte sie täglich zwei Haushalte.

„Das war nicht leicht, aber ich musste es tun. Ich sparte jeden Cent, und ab und zu gönnte ich mir auch etwas. Man muss ja auch leben. Aber hier in Deutschland gibt es kein Leben außerhalb der Arbeit.“ Sie erzählt davon, wie es sich für sie anfühlte, wenn sie nach der Arbeit durch die Stadt spazierte oder einkaufen ging. „Überall sah ich nur noch Kopftücher und Araber. Das ist nicht mehr das Deutschland, das ich kannte. Aber mittlerweile sind es so viele, dass ich mich hier auch nicht mehr wohlgefühlt habe.“

Neclas Alltag bestand darin, zur Arbeit zu gehen, nach der Arbeit durch die Stadt zu laufen und abends müde und erschöpft ins Bett zu fallen. Jeder Tag schien dem anderen zu gleichen. Trotz des engen Kontakts zu ihren Kindern spürte sie, dass das nicht das Leben war, das sie sich wünschte. Dennoch führte sie ihren Alltag weiter, sparte Geld, ohne zu wissen, wofür. „Man weiß ja nie“, dachte ich. Eines Tages würde es sicherlich nützlich sein. Zu der Zeit hatte sie keine konkreten Pläne. „Ich putzte wieder und durch die vorherigen Operationen an meinem Rücken wurden als Therapiemaßnahme gegen die Schmerzen meine Nerven verödet, sodass ich kaum noch Schmerzen spürte. Aber das führte auch dazu, dass ein vierter Bandscheibenvorfall auftrat.“

Mit dem vierten Bandscheibenvorfall war klar, dass Necla nie wieder putzen gehen könnte. Ihr Arzt verbot es ihr förmlich und beantragte sogar die Frührente, die aufgrund der zahlreichen vorherigen Diagnosen schnell genehmigt wurde. Dies geschah kurz bevor Corona die Weltbühne betrat.

„Während der Pandemie geschah es schlagartig in meinem Kopf. Mir wurde klar, dass ich mein Leben nicht mehr so weiterführen wollte. Den Wahnsinn, den ich erlebt habe, kann sich niemand vorstellen. Ich bin ungeimpft und bin es bis heute überzeugt. Ich hatte das Gefühl, dass alles, was Jahrzehnte langsam in Deutschland gewuchert war, in dieser Zeit mit voller Wucht auf uns Menschen einschlug. Es herrschte Endzeitstimmung, und ich fragte mich, was ich überhaupt vom Leben will. Eines wusste ich sicher: kein Leben mehr wie hier in Deutschland.“

Also beschloss Necla zu erkunden, was sie mit ihrem bisher angesparten Geld erreichen könnte. Dabei stieß sie auf eine Seite, die Modulhäuser in der Türkei anbietet und baut. Die Preise überraschten sie und gaben ihr Hoffnung. Nach vielen Überlegungen und Gesprächen mit ihrer Familie kamen immer mehr unterdrückte Träume und Wünsche von Necla ans Licht: „Ich liebe Hunde und bin oft in die Türkei geflogen, um freiwillig in Hundeauffangstationen zu helfen. Ich finde das großartig und habe immer gedacht, dass ich selbst eines Tages solch eine Auffangstation für Straßenhunde betreiben möchte.“

Und plötzlich wusste Necla, was ihr Ziel sein würde. Sie flog in die Türkei, kaufte dort auf den Namen ihres Onkels ein Grundstück und lässt dort ein Modulhaus errichten.

„Als Deutsche aus Deutschland kann ich nicht einfach in der Türkei ein Grundstück kaufen, dafür muss man die türkische Staatsbürgerschaft haben. Aber es ist günstig und riesig. Perfekt für mein Vorhaben. Aktuell lasse ich es ebnen, und gegen Ende des Jahres wird das Modulhaus darauf platziert. Es ist schon fertig und fast vollständig abbezahlt. Ich habe das Haus in Lira gekauft, und als der Lira stark fiel, überwies ich sogar fast die gesamte zweite Hälfte des Betrags, die eigentlich erst nach dem Bau fällig wäre. Es war eine große Ersparnis, und ich hätte am liebsten sofort alles bezahlt, aber bei den Türken muss man aufpassen, sonst hören sie auf zu arbeiten, wenn das ganze Geld schon da ist“, sagte Necla lachend.

Es wird auch einen Pool geben, erzählt Necla fröhlich, aber nicht für sie, sondern für die Hunde. Im warmen Bodrum brauchen sie viel Abkühlung. „Mir reicht das Meer, und der Garten. Mit meiner Rente werde ich hier ein gutes Leben haben, egal ob der Lira bei 30 oder 10 steht.“ Auf die Frage, warum sie sich für Bodrum entschied, sagt sie:

„Es gibt keinen Grund mehr hier zu bleiben. Bodrum ist sehr modern und passt zu mir. Das Geld wird reichen. Meine Kinder werden mich immer besuchen, es ist grad mal drei Stunden mit dem Flieger entfernt. Es gibt in Bodrum einen sehr milden Winter, tolles Klima und es ist nah an Europa dran. Das spürt man an jeder Ecke, es gibt Leben hier. Griechenland einen Katzensprung entfernt. Außerdem ist es eine der wenigen Städte, die nicht von der AKP regiert werden. Und im Gegensatz zu Deutschland gibt es hier so gut wie keine Kopftücher.“

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