Tichys Einblick
Ausgrenzung

Radikalisiert? Nein, ich bin einfach nur der Wirklichkeit begegnet 

Unsere Autorin María Florez ist in Medellin in Kolumbien aufgewachsen – als dort der große Drogenkrieg herrschte. Sie liebt Deutschland. Aber sie sieht mit Unbehagen darauf, wie sich ihre zweite Heimat entwickelt.

Marco Ceschi

Es war der Sommer 2014, ich war mit meinem ersten Kind schwanger, der Optimismus in Deutschland war groß. Die Fußballweltmeisterschaft fand in Brasilien statt und die tolle deutsche Mannschaft hatte das Halbfinale erreicht. Es gab so ein Gefühl: Wir erreichen alles! Wie könnte ich diesen Tag vergessen, als ich in einem Biergarten saß, das Halbfinale verfolgte und den 7:1-Sieg Deutschlands gegen Brasilien feierte.

Wir waren glücklich, denn wir hatten das Privileg, in einem der, wenn nicht sogar dem zivilisiertesten Land der Welt zu leben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass im Laufe eines Jahres sich alles radikal verändern würde.

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Es war jetzt September 2015. Die Radio- und Fernsehsender, die Presse, alle berichteten ununterbrochen über die Entscheidung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, eine Gruppe von Migranten, die an der ungarischen Grenze wartete, nach Westeuropa einreisen zu lassen. Die Folgen dieser Entscheidung damals prägten das Land und veränderten es für immer – und mit dem Land veränderte ich mich.

Zwischendrin muss ich gestehen: Ich habe mich schon als junge Frau in Deutschland verliebt, als ich in Heidelberg studiert habe und dort einige der besten Jahre meines Lebens hatte. Heute wie damals im Jahr 1999 fühlte ich mich nie fremd in diesem Land.

Zurück zum Jahr 2015. Vom Balkon unserer Wohnung konnte man das Anmeldezentrum am „Lageso“ (Landesamt für Gesundheit und Soziales) sehen. Wir haben viel mitbekommen von dem, was damals passiert ist. Das Lageso war die erste Registrierungsstelle für die neu angekommenen Flüchtlinge.

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Das war meine erste Begegnung mit einer Realität, in der ich bis heute keine Ordnung oder Logik erkenne. Ich habe noch nie eine solche Propagandamaschinerie erlebt wie in den darauffolgenden Monaten: Die Medien berichteten über eine Realität, die ich aus nächster Nähe erlebte – und die ich vorher so noch nicht gesehen habe. Während in den Medien von Tausenden Frauen und Kindern die Rede war, traf ich auf meinen Spaziergängen durch das Viertel und in den Parks nur auf Gruppen junger Männer, die begannen, die von mir frequentierten Plätze zu übernehmen. Diese Diskrepanz zwischen dem, was in der Nachbarschaft geschah, und dem, was in den Medien berichtet wurde, veranlasste mich, eine sehr kritische Position zum Thema Migration einzunehmen.

Vom einen Moment auf den anderen wurde ich dafür in die „böse“ Ecke gestellt, nur weil ich meine Beobachtungen beschrieb. Weil ich mich gegen unkontrollierte, ungeordnete und unbegrenzte Einwanderung aussprach, von der schon damals klar war, dass sie den Kurs dieses Landes für immer verändern würde. Ich, die ich selbst Ausländerin war, fand mich plötzlich in der Ecke der Menschenfeindlichen und der Ausländerfeindlichen.

Meine Befürchtungen wurden durch die sexuelle Gewalt in der Silvesternacht in Köln bestätigt. Von jenem Dezember 2015 an bis heute haben sich die Gewalttaten derer, die laut Gesetz gar nicht erst hätten einreisen dürfen, vervielfacht. Viele Orte dieses Landes haben sich seitdem in No-go-Areas verwandelt und das hätte nicht passieren dürfen.

Vom Gefühl des Triumphs und dem, das wir an der Spitze der Zivilisation leben, ist im Jahr 2023 nicht viel übrig geblieben. Während meines Mutterschaftsurlaubs entschied ich mich, in einem großen Kaufhaus in Berlin zu arbeiten. Ich erlebte aus erster Hand, wie Banden von Kriminellen in das Geschäft einbrachen und bis zu 80 Artikel stahlen, und als die Polizei gerufen wurde, antwortete die, dass sie nichts tun könne.

Eines Nachts bedrohte mich einer der Diebe und fragte mich, wie ich als Ausländerin die Polizei rufen könne? Danach beschimpfte er mich, ich sei ein Rassist! Die Zauberformel, um jede Gegenwehr zu demobilisieren.

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Ich bin in Medellin, Kolumbien, geboren und aufgewachsen. Der Stadt, die in den 90er Jahren die höchste Mordrate der Welt hatte. Die ersten Jahre meiner Jugend mussten meine Freunde und ich aus Angst vor den Bomben des Drogenbosses Pablo Escobar eingesperrt im Haus leben. In der schlimmsten Zeit der drogenterroristischen Gewalt mussten wir die Betten so weit von den Fenstern entfernt aufstellen, dass im Falle einer Explosion das Glas nicht auf uns fiel. Um Panik zu verbreiten, massakrierte Escobar wehrlose junge Menschen in Bars oder Nachtclubs.

Ich kann mich noch erinnern an die Momente, als sich die Ankunftszeit meines Vaters abends näherte: Wir beteten, dass ihm nichts passiert wegen der Kriminalität. Der Kartellkrieg zwischen dem Medellin-Kartell und dem Cali-Kartell löste eine der blutigsten Zeiten in meiner Stadt aus, und in dieser Umgebung verbrachte ich einen Teil meiner Kindheit und meiner Jugend.

Das waren die Folgen eines nicht funktionierenden Staates. Die wichtigste Aufgabe, die wir damals als Gesellschaft hatten, war die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, deswegen kann ich nicht nachvollziehen, wieso Deutschland diese demontiert.

Ein Beispiel: Während ich diese Zeilen schreibe, ist ein Mitglied des kriminellen Clans der Remo-Familie freigelassen worden. Nicht aus Mangel an Beweisen, nicht weil er seine Strafe abgesessen hat – er wurde freigelassen, weil sie keinen Platz finden konnten, um ihn von seiner Kokainsucht zu rehabilitieren. Wenn das nicht das Blut der Steuerzahler zum Kochen bringt, kann ich mir nicht vorstellen, was es tut.

Es sind die kleinen Dinge, die sich verändert haben, es ist der Alltag, der aus den Fugen gerät: Chaos und Unordnung kommen nicht wie eine Bombe, sondern Tropfen für Tropfen. Es demoralisiert einen, um einen Termin beim Kinderarzt zu bitten und erst in sechs Monaten diesen Termin zu bekommen, weil es nicht genügend Kinderärzte in der Stadt gibt. Es bedeutet viel, keinen Platz in der Schule zu bekommen oder befürchten zu müssen, dass das Kind in der Schule kein Deutsch lernt, weil das Niveau so weit gesunken ist. Es zeigt sich, wenn man den üblichen Spielplatz meidet, weil nach 17 Uhr der Ort nicht mehr sicher ist.

So wie das Land sich veränderte, so veränderte ich mich auch. Ich habe nie zu Nostalgie oder Zynismus geneigt. Aber in den letzen Jahren schwanke ich zwischen Hoffnungslosigkeit und Nostalgie. Zuerst gibt es eine Phase des Unverständnisses und Unglaubens, in der man sich fragt, warum das geschieht und wer das verhindern kann? Warum wachen die Menschen nicht auf? Dann kommt eine Phase der Wut, in der man schreien will: Seht Ihr nicht, was hier passiert? Merkt Ihr nicht, dass es Eure eigenen Töchter und Jungs betreffen wird und sie die Schäden werden begleichen müssen?

Alle diese Veränderungen – unbegrenzte illegale Migration, radikaler Klimaschutz, Energiewende – werden mit dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit umhüllt, obwohl sie in Wirklichkeit zu mehr sozialer Ungerechtigkeit führen. Wenn die Bürger ihre Kinder nicht mehr auf öffentliche Schulen schicken wollen oder können, bedeutet das Ungleichheit. Wenn die Mittelschicht aus der Stadt aufs Land ziehen muss, um der Unsicherheit zu entgehen, schafft das Ungleichheit. Es tut weh, in der Realität zu sehen, wie meine zweite Heimat sich abschafft, ein Land, das fast alles hatte (nur kein gutes Wetter).

Zu all den wirtschaftlichen und politischen Problemen, die selbst verursacht sind, kommt noch der Kulturkampf hinzu, mit dem wir täglich konfrontiert werden, die Indoktrination mit der Angst vor dem Weltuntergang durch den Klimawandel, der Gender-Ideologie, der Veränderung der Sprache, dann die letzten Jahre der Corona-Politik. Bin ich radikal, wenn ich es ablehne, dass der Staat Einfluss nimmt und mit meinen Kindern schon im Kindergarten über die Änderung ihres Geschlechts gesprochen wird? Da sage ich klar: No!

Und ich nehme mir die Freiheit, meine Meinung auszusprechen. Meine Beobachtungen zu teilen. Doch wer das heute tut, wird als „radikalisiert“ beschimpft. Das soll „radikal“ sein? Dann stellt sich mir eher die Frage, warum es nicht mehr Menschen sind. Warten sie darauf, dass die letzte deutsche Autofabrik nach China verlagert wird, dass der letzte Wald abgeholzt wird, um Platz für Windräder zu schaffen, dass bestimmte Stadtviertel wegen der Unsicherheit und Gefahr vor Kriminalität unbetretbar werden? Warten sie auf all das, bevor sie ihre Meinung frei äußern?

Ich hoffe, dass die Deutschen nicht so leben müssen wie wir in Kolumbien früher: Wo man seine Taschen im Kofferraum verstecken muss, damit sie nicht gestohlen werden. Oder wo man Angst haben muss, spazieren zu gehen, weil Leute umgebracht werden, nur um ihr Handy zu klauen.

Ich scherze manchmal, dass ich mich nicht „radikalisiert“ hätte, wenn ich zuerst im Prenzlauer Berg statt in der Nähe des Lagesos gewohnt hätte. Aber dann hätte ich in einer Blase gelebt, die nicht der Realität entspricht. Die Gegner von Ordnung, der Familie und all dessen, was in diesem Land schön ist, sind die wahren Radikalen. Warum sollten diejenigen von uns, die dieses Land lieben, schätzen und bewahren wollen, den Mund halten, nur um dem (unfairen) Vorwurf der Radikalität zu entgehen?

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