Tichys Einblick
Von der Verfolgung zur Vernichtung der Juden

Nationalsozialistische Novemberpogrome 1938

Die „Reichskristallnacht“ jährt sich am Donnerstag zum 85. Mal. Sie war der große Testlauf für den millionenfachen Mord an den Juden. Schon die Pogrome zeigten: Für die Deutschen war die Verfolgung der Juden immer auch ein Geschäft.

IMAGO
Die Gruppe BAP hat im Jahr 1982 ihr eindrücklichstes Lied veröffentlicht: „Kristallnaach“. Songautor Wolfgang Niedecken beschreibt darin einen kafkaesken Traum, den er angesichts des Textes „Unter dem Milchwald“ des Dichters Dylan Thomas hatte. Die Zeile „Et rüsch noh Kristallnaach“ ist nach über 40 Jahren immer noch verstörend.

„Kristallnaach“ dürfte Niedecken sein Lied heute nicht mehr nennen. Das gilt mittlerweile als politisch unkorrekt. Es ist die Art des Jahres 2023, Probleme zu lösen: Gib dem Unheil einen anderen Namen, dann verliert es seinen Schrecken. Dabei ist der Name „Kristallnacht“ genau richtig für das Ungeheure, was in Deutschland rund um den 9. November 1938 passiert ist. Der Volksmund beschrieb damit zynisch die Scheiben von Synagogen, Betstuben und jüdisch geführten Geschäften, die in diesen Tagen massenweise von NS-Anhängern eingeworfen wurden – aber auch von einfachen Bürgern, bis runter zum Schulbub.

Das Wort Kristallnacht beschreibt zudem die politische Dimension des Vorgangs. „Reichsmarschall“ Herman Göring etwa war ein Kritiker des Geschehens. Er wollte jüdisches Vermögen nicht zerstören, er wollte es sich einverleiben. Als Staat, aber auch privat. Viele von Juden beschlagnahmte Gemälde zierten später die Wände seines Herrensitzes Carinhall bei Berlin. Im April 1938 hatte Göring ein Gesetz durchgebracht, das Juden zwang, Vermögen über 5.000 Mark dem Finanzamt anzugeben. Er wollte über Sondersteuern die klammen Kassen des „Dritten Reiches“ aufbessern.

Als Antreiber der Kristallnacht gilt indes Propagandaminister Joseph Goebbels. Der war zuvor durch seine Affäre mit der tschechoslowakischen Schauspielerin Lida Baarová bei Adolf Hitler in Ungnade gefallen. Goebbels’ Tagebücher lassen eine unheilvolle Beziehung Goebbels’ zum „Führer“ durchscheinen, die irgendwo zwischen Vaterkomplex und homoerotischer Liebschaft changierte. Mit einem Schlag gegen die Juden hoffte Goebbels, Hitler zu versöhnen.

Für Hitler wiederum war die Kristallnacht letztlich politisch willkommen. Zwar teilte er auch Görings Position, bevorzugte grundsätzlich geregelte Vorgänge und wollte sich ebenfalls das Vermögen der Juden einverleiben. Doch die Konferenz von München hatte ihm einen guten Monat vorher gezeigt, dass die Propaganda der ersten NS-Jahre zu gut funktioniert hatte. Die hatte einen deutschen Friedenswillen vorgegaukelt. Nun freute sich das deutsche Volk im September 1938 mit dem britischen Premier Neville Chamberlain über „Peace in our time“, während ihr „Führer“ eigentlich allmählich Krieg führen wollte. Die „Vernichtung“, „physische Beseitigung“ oder „Endlösung der Judenfrage“ waren in Hitlers Ideologie keine gesonderte Aktion, sondern Teil des Krieges, den er um „Lebensraum im Osten“ führen wollte. Die Kristallnacht sollte den Willen dazu anheizen.

Der äußere Anlass für die Kristallnacht war ein Mordanschlag des Juden Herschel Grynszpan gegen den deutschen Diplomaten Ernst Eduard vom Rath in Paris. Grynszpan gehörte zu einer Gruppe Juden, die Deutschland als Polen ausweisen wollte, die von Polen aber nicht aufgenommen wurden. Sodass sie als Staatenlose im Grenzbereich vegetieren mussten. Auf diese Situation wollte Grynszpan aufmerksam machen, ist die gängige Überlieferung der Geschehnisse. Andere, nicht belegte Interpretationen, gingen von einer Beziehungstat gegenüber vom Rath aus.

Letztlich ist der Anlass aber auch nur zweitrangig. Zwar verbreitete Goebbels’ Propaganda, dass sich danach der entrüstete „Volkszorn“ gegenüber den Juden entladen habe. Doch das ist eben nur Propaganda gewesen. Denn es war eine gesteuerte Aktion. Die SS-Führung war um den 9. November in München versammelt, wo sie den 15. Gedenktag des „Marsch auf die Feldherrenhalle“ zelebrierte. Einem gescheiterten Putsch Hitlers im Jahr 1923. Von München aus gaben die SS-Führer den Befehl, den „Volkszorn“ zu starten – wenn möglich sollten sie im Sinne der Propaganda dabei keine Uniform tragen.

Was nun in der Nacht vom 9. auf den 10. November und darüber passierte, war zu einem großen Teil erruptiv, kam aus dem tatsächlichen „Volkszorn“. Wobei die Judenverfolgung im Dritten Reich immer auch mit Geschäftsinteressen verbunden war. So erzählt Christof Pies im TE-Talk, dass in Laufersweiler zum einen die Pogrome länger als einen Tag wüteten. Und zum anderen im Laufe des Geschehens Tausende Schuhe einer jüdischen Händlerin verschwanden. Ob ein Mitbewerber sich die wertvolle Ware für sein Geschäft holte oder die Bürger, das ist nicht geklärt – nur, dass die Schuhe weg waren.

Christof Pies gehört zu den Gründern des Förderkreises Synagoge Laufersweiler. Die Gruppe strengt sich seit den 1980er-Jahren an, das Geschehen in dem Ort im Hunsrück aufzuklären. Dort steht eine der wenigen erhaltenen Synagogen im Umkreis. Zwar plünderten die Bewohner und NS-Truppen in den Kristallnächten das Gotteshaus und demolierten seine Inneneinrichtung – doch abgefackelt haben sie es nicht. Die Synagoge stand zu nahe an anderen Häusern, die dann gegebenenfalls auch runtergebrannt wären – der „Volkszorn“ gegen die Juden war in Deutschland immer auch mit geschäftlicher Kalkulation verbunden.

Es gibt auch Zahlen zur Kristallnacht: 1.400 Synagogen wurden in den Tagen um den 9. November 1938 zerstört, 300 Juden nahmen sich selbst das Leben, 30.000 hat das nationalsozialistische Regime interniert, Hunderte starben in der Haft oder wurden gleich vor Ort niedergemetzelt. Die genaue Zahl lässt sich nicht ermitteln. Zwar gab es Prozesse zur Kristallnacht. Doch deren Verlauf ist immer auch von den Interessen der Zeugen und auch der jeweils Mächtigen geprägt.

Zum einen kam es nach dem Krieg und dem Ende der NS-Diktatur zu Prozessen. Doch viele Zeugen wollten von ihrer eigenen Verwicklung in die NS-Verbrechen nichts wissen – und weder die DDR noch die Bundesrepublik hatten nach 1949 ein Interesse an einer schonungslosen Aufklärung der Geschehnisse. Auch im „Dritten Reich“ gab es einzelne Prozesse. Grundsätzlich schützte der NS-Staat die Täter zwar restlos wegen der Übergriffe. Doch war „Ariern“ seinerzeit Sex mit Jüdinnen verboten. Die Verurteilungen gab es also nicht wegen Vergewaltigungen, zu denen es in der Kristallnacht auch kam – sondern wegen „Rassenschande“.

Zahlen zur Kristallnacht gibt es. So wacklig sie auch sind. Aber den Horror der Übergriffe können sie nicht darstellen. Der ist in der Totale kaum zu verstehen. Um sich in den Horror der Opfer zu versetzen, braucht es die Nahaufnahme, die die Reihe 100 Deutsche Jahre bietet. So wie Coco Schumann aus Berlin von Juden erzählt, die aus den Fenstern der oberen Stockwerke gestoßen wurden. Lore May schildert, wie der Mob in Frankfurt eine ältere Dame an den Haaren über die Straße zog. Walter Philipson berichtet vom Mord an seinem Vater in Emden. Der hatte immer gesagt, er würde sein Geschäft nicht lebend aufgeben. Da triumphierten die Mörder, dann müsse er das Geschäft halt tot verlassen. Die Verfolgung der Juden war für die Deutschen immer auch ein Geschäft.

Der Historiker Götz Aly spricht im Zusammenhang mit dem Dritten Reich von einer „Wohlfühl-Diktatur“. Die Exzesse Hitlers und seiner Gefolgschaft seien nur deshalb möglich gewesen, weil das Volk mit dem System grundsätzlich einverstanden gewesen war. Die Pogromnacht war für das nationalsozialistische Regime auch ein Test, wie Übergriffe gegen die Juden „ankommen“. Später tötete das NS-System systematisch Behinderte. Doch die Euthanasie stieß auf Widerstand in der Bevölkerung, organisiert von den Kirchen. Entsprechend stoppten beziehungsweise bremste das NS-Regime diese Morde. Für die Juden galt das nicht. Der spätere millionenfache Mord in der Shoa war auch deshalb möglich, weil sich nach der Kristallnacht eben kein massenhafter Protest einstellte.

Auch Göring war später versöhnt mit den Ereignissen. Wie sich herausstellte, waren viele der Opfer versichert. Das Geld für die Entschädigungen kam größtenteils aus Großbritannien, sodass der „Reichsmarschall“ dringend benötigte Auslandsdevisen akquirieren konnte, als er die Juden dazu verdonnerte, sie müssten dem Reich hohe Entschädigungen für den entstandenen Schaden bezahlen. Die Verfolgung der Juden war auch immer ein Geschäft für die Deutschen. Niedecken brachte das eindrucksvoll in der Schlusszeile von „Kristallnaach“ zum Ausdruck: Wemmer irjendne Vorteil drin sieht, / Ess täglich Kristallnaach. / Nur noch Kristallnaach.“