Tichys Einblick
Neue und alte Probleme

Obdachlosigkeit in Berlin: Die Kaltblütigkeit der Corona-Politik ist erschreckend

Jüngst geriet der Berliner Senat unter Druck, weil er Obdachlose durch eine 3G-Regel aus U-Bahnhöfen werfen wollte. Doch das ist nur ein Beispiel von vielen. Die rot-rot-grüne Koalition erzeugt immer mehr Tragödien auf den Straßen der Hauptstadt.

IMAGO / Chris Emil Janßen

Der Berliner Senat hat sich, seitdem ich denken kann, immer damit gebrüstet, für die Schwachen und Armen einzutreten und der sozialen Benachteiligung mit ihrer Politik endlich ein Ende zu setzen. Ganz in dieser Tradition hieß es im kürzlich veröffentlichten Sondierungspapier der nächsten rot-rot-grünen Koalition, dass Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Berlin ab dem Jahr 2030 der Vergangenheit angehören soll. Die scheidende Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) verkündete im September, dieses edle und völlig utopische Ziel mit einem „Masterplan“ durchsetzen zu wollen. Doch schon bevor der Plan überhaupt richtig anlaufen konnte, offenbarte Corona nun, dass die Hilfsbereitschaft zum Zweck des Infektionsschutzes ganz schnell ein Ende findet. Indem man Obdachlose bei Minusgraden von Bahnhöfen verbannt und Notunterkünfte nicht ausreichend mit Tests versorgt, werden die „Kaltherzigkeit“ und das Elend der rot-grünen Politik aber nur sichtbar – denn neu ist das nicht: In Berlin wird seit Jahren viel geredet, aber wenig Sinnvolles getan.

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Die Zahl der Obdach- und Wohnungslosen in Berlin (aber auch in ganz Deutschland) wird entgegen der politischen Bemühungen – oder sagen wir lieber: der rot-grünen Versprechen – nicht weniger, sondern steigt immer weiter an. Bei der letzten stadtweiten Zählung im Rahmen der „Nacht der Solidarität“ wurden von den freiwilligen Helfern knapp 2.000 Obdachlose auf den Straßen, in Notunterkünften oder Bahnhöfen angetroffen – nach Schätzungen der Caritas und des Diakonischen Werks muss man in Wirklichkeit aber von etwa 11.000 obdachlosen Menschen ausgehen. Eine erschreckend hohe und gleichzeitig täuschend geringe Zahl. Gemeint sind damit nämlich nur die, die gerade in diesem Moment direkt auf der Straße anzutreffen sind. Rechnet man alle Wohnungslosen in Berlin zusammen, die in allen möglichen Einrichtungen, Notunterkünften oder auf den Sofas ihrer Bekannten (temporär) untergebracht sind, gibt es laut Senat etwa 50.000 wohnungslose Menschen in der Hauptstadt – unter Sozialarbeitern spricht man sogar über eine Zahl von 60.000. Das wären etwa 1,6 Prozent der Gesamtbevölkerung Berlins.

Im Winter sind Einrichtungen der Berliner „Kältehilfe“ neben den warmen Bahnhöfen  – und den sowieso schon knappen Plätzen in herkömmlichen Einrichtungen, die dank Abstandsregeln noch weiter limitiert sind – der Anlaufpunkt für die etwa 11.000 Menschen direkt auf der Straße. Es gibt bei der jährlichen Hilfsaktion von Oktober bis April aber nur etwa 500 Notübernachtungsplätze, die Schutz vor der bitteren Kälte bieten. Die wurden laut Senat Ende Oktober zwar auf 1.000 Plätze verdoppelt und um drei 24/7-Tag-und-Nacht-Betriebe mit insgesamt 130 Betten ergänzt – damit sind aber immer noch knapp 10.000 Menschen übrig, für die es keine Notunterkünfte gibt.

Die auf die Kältehilfe bezogene Aussage von Breitenbach – „wer ein Bett sucht, bekommt auch eins“ – erweist sich also schon allein damit als leere Floskel. Unter diesen Umständen ist die coronabedingte Verbannung der Obdachlosen von den Bahnsteigen fatal. Und es hilft auch nicht, dass der Senat „Betreibern von Bahnhöfen“ neuerdings erlaubt, bestimmte „Verkehrsflächen“ für Obdachlose ohne 3G auszuweisen, solange Maskenpflicht und Mindestabstand gewahrt werden können – Menschen, die alkoholisiert, psychisch krank und/oder völlig fertig sind, werden wohl kaum darauf achten, irgendeinen Abstand oder sonstige Regeln einzuhalten. Und selbst wenn, wie viele Menschen passen wohl mit Abstand in die markierten Flächen? Einer, zwei? So groß sind die meisten der Bahnhöfe nicht. Der Senat versucht, mit dieser fadenscheinigen Maßnahme wohl nicht mehr als sein angeschlagenes Image wieder aufzubessern.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, grundsätzlich will ich nicht und wohl auch niemand anderes die Obdachlosen in den Bahnhöfen haben – ich habe die vielen Jahre, die ich auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen war, nicht nur unter dem extremen Gestank nach Verwesung und Exkrementen gelitten, sondern hatte auch immer große Angst vor den lallenden oder mit sich selbst schimpfenden Menschen. Aber man kann nicht einfach die Bahnhöfe dicht machen, ohne eine angemessene Alternative anzubieten – sonst verenden die Menschen jämmerlich. Ich habe als Schulkind einmal einen erfrorenen Obdachlosen an einer Bushaltestelle gesehen und werde diesen Anblick, den regungslosen Körper und die unnatürliche Farbe seiner Haut nicht mehr vergessen. Ich will nicht in einem Land leben, wo man die Leute auf der Straße regelrecht verrecken lässt.

Corona verschlimmert das Problem und macht es aber vor allem sichtbar

Um ein vermeintlich für alles und jeden tödliches Virus einzudämmen, wird nun aber genau das von unserer angeblich ach so sozialen Politik riskiert. Und dass übrigens auch schon letztes Jahr: Im Winter 2020/21 wurden viele Not- und Obdachlosenunterkünfte wegen Corona zeitweise komplett geschlossen. Essens- und Beratungsangebote wurden ebenfalls heruntergefahren. In dieser Zeit sind nach offiziellen Angaben 23 Menschen erfroren – fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Und dieses Jahr könnten es noch mehr werden.

Doch die Politik wird die Schuld von sich weisen, immerhin habe man ja Plätze geschaffen – laut Senatsverwaltung sollen in der Woche vom 29. November bis 5. Dezember von den 1.133 Plätzen sogar noch 215 freigeblieben sein. Aber ob das wirklich am fehlenden Bedarf liegt? Ich glaube kaum. Meines Erachtens gibt es zwei einfache Erklärungen. Zum einen gab es Ende November die ersten Meldungen, dass die Corona-Tests in Einrichtungen der Kältehilfe knapp werden, man die Wohnungslosen aber ohne Test nicht aufnehmen könne. Es könnte also durchaus sein, dass hilfesuchende Menschen ohne 3G-Nachweis wieder in die Kälte geschickt werden mussten. Zum anderen gibt es viele Obdachlose, die schon unter normalen Umständen nicht in die klassischen Unterkünfte gehen wollen, weil sie sich dort bedroht fühlen. Sie haben Angst vor den anderen Bewohnern, Angst vor Diebstahl oder Krankheiten – nur sind das Krankheiten wie Krätze oder Tuberkulose, nicht Corona.

Es gibt ganz unterschiedliche Typen von Obdachlosen.So gibt es die psychisch kranken und häufig zusätzlich von Alkohol und/oder Drogen abhängigen Menschen, mit denen ich bei meiner Arbeit für ein Berliner Betreuungsbüro häufig zu tun habe. Diese Menschen verweigern die Hilfe nicht selten wegen ihrer Wahnfantasien und dem Bedrohungs- und Verfolgungsgefühl, was damit einhergeht. Um ihnen wirklich zu helfen, müsste man sie in einem psychiatrischen Krankenhaus unterbringen und sie so lange behandeln, bis ihre psychotische Episode abgeklungen und der Patient so gut auf Medikamente eingestellt ist, dass er mit weiteren Unterstützungsmaßnahmen in eine Einrichtung oder Unterkunft entlassen werden kann.

Das scheitert aber schon allein daran, dass in Berlin rein rechtlich niemand gegen seinen Willen psychiatrisch untergebracht werden darf, der nicht akut eigen- oder fremdgefährdet ist – und das, obwohl die fehlende Krankheitseinsicht selbst ein Symptom psychotischer Krankheiten wie etwa der Schizophrenie ist. Das heißt, dass ein Patient häufig schon nach wenigen Tagen wieder entlassen wird, auch wenn er noch immer fest in seiner Psychose gefangen ist. Zurück auf der Straße nehmen diese Menschen keine Medikamente, aber dafür jede Menge Drogen, stürzen immer tiefer in ihren Wahn und verwahrlosen massiv, was leider nicht selten zum Tod der Betroffenen – oder zu gewalttätigen Angriffen auf unschuldige Passanten – führt.

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Andere klassische Typen von Menschen, die in die Obdachlosigkeit geraten, sind etwa Männer aus Osteuropa, die, während sie hier nach Arbeit suchen, auf der Straße leben, oder Leute, deren Wohnungen nach längeren Krankenhausaufenthalten und Verschuldung geräumt wurden. Die wohl größte Gruppe sind aber Alkoholiker, die durch die Sucht oder Schicksalsschläge völlig die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Alkoholabhängige Obdachlose wollen häufig ebenfalls nicht in die Notunterkünfte, weil sie dort nicht trinken dürfen. Es gibt nur wenige Unterkünfte, in denen das Trinken erlaubt ist – und auch dort gelten Regeln. Völlig betrunken in die Unterkunft zu kommen ist verboten. Wer sich daran nicht hält, muss die Einrichtung wieder verlassen.

Insgesamt verschlimmert Corona eine Situation, die für alle Beteiligten ohnehin schon fatal ist. Die Obdachlosenzahlen steigen, weil und während unsere Wirtschaft immer weiter an die Wand gefahren, der Wohnungsbau blockiert und uneingeschränkte Zuwanderung toleriert und gefördert wird. Seit Corona ist das nur noch schlimmer – oder zumindest sichtbarer – geworden. In den letzten sechs Monaten entstanden überall in Berlin kleine Zeltstädte an Bahnhöfen, unter der Hochbahn und mitten auf Straßenübergängen – ein Anblick, der an Ghettos aus Dritte-Welt-Ländern erinnert. Alles war und ist noch immer voller Müll, Fäkalien, Matratzen, leerer Schnapsflachen und stinkt schon aus zehn Metern Entfernung zum Himmel. Das Elend auf den Berliner Straßen wurde durch die rot-rot-grüne Politik entgegen allen Versprechen nicht gelindert, es wurde befördert und hingenommen. Und daran werden wohl auch in der nächsten Koalition weder das Leid der Betroffenen noch die Zumutungen für Passanten und Anwohner etwas ändern. Die mitleidlose Corona-Politik verschlimmert alles nur noch.

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