Tichys Einblick
Sternstunde des Parlaments

Nach dem Impfzwang muss der Fraktionszwang fallen

Auch verfassungstheoretisch ist der Entscheid gegen die Impfpflicht eine Wegmarke – das Parlament hat gezeigt, wer tatsächlich die Hosen anhat. Ohne Fraktionszwang regiert das freie Mandat. Das kann dem Parteienstaat nicht schmecken, ist aber Lebenszeichen eines totgeglaubten Gremiums.

IMAGO / Future Image

Die Medien und die Spitzen der linken Parteien beklagen den gestrigen Tag. Der SPD-Politiker Joe Weingarten empörte sich über einen „Tiefpunkt des Parlaments“; weil die AfD das Scheitern der Impfpflicht begrüßt hatte – nicht ohne dabei zu vergessen, sie deswegen als „Faschisten“ zu brandmarken. Der Spiegel titelte: Versagen des gesamten Parlaments. Als „Niederlage im Kampf gegen die Pandemie“, wertete der Deutschlandfunk die Entscheidung und verfiel in infantile Sprachbilder: „Bei den aktuellen Inzidenzen waren heute wohl auch ein paar Coronaviren mit im Bundestag. Sie dürften sich freuen.“

Doch was die Republik gestern erlebt hat, war eine Befreiung der Legislative aus der Todesumschlingung der Exekutive. Dass die CDU/CSU aus machttaktischen Motiven die Impfpflicht verhindert hat, spielt keine Rolle; sie ist Opposition, und es ist nicht Aufgabe der Opposition, eine Mehrheit im Parlament zu beschaffen. Eine Mehrheit im Parlament zu suchen: Das ist die Aufgabe der Regierung, sogar eine grundlegende Definition dessen, was eine Regierung ist. Eine Regierung ohne Mehrheit verliert üblicherweise ihre Macht.

Das freie Mandat ist verfassungsgemäß nicht Ausnahme, sondern Norm

Der Katzenjammer ist auch deswegen so groß, weil die von Medien und Parteien aufgebaute Verfassungswirklichkeit nur noch wenig mit der Verfassungsnorm des Grundgesetzes zu tun hat. Denn die Abstimmung nach freiem Gewissen des Abgeordneten, wie es die Verfassung vorsieht, ist längst einer Melange aus Fraktionsdisziplin und dem Druck der öffentlichen Meinung gewichen. Was am 7. April geschah – ironischerweise am von der WHO ausgegebenen „Weltgesundheitstag“ –, war keine Ausnahme, sondern die Norm, wie sie in einer parlamentarischen Republik sein sollte. Die Parteien sollen an der politischen Willensbildung mitwirken, und nicht diese bestimmen.

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In solchen Fällen funktionieren jene Korrekturen und Kontrollen, die vielleicht nicht immer die beste Lösung bringen oder eine Mehrheitsmeinung abbilden, jedoch üblicherweise einen gesellschaftsstabilisierenden Konsens aufbauen. Es regiert das Prinzip: besser kein Gesetz als ein schlechtes Gesetz. Schadensbegrenzung statt faule Kompromisse oder Maximalentwürfe. Es ist das Gegenbild zum Parteienstaat mit Fraktionszwang.

Selten kommt es zu dieser Form freier Abstimmungen. Das letzte Beispiel einer solchen Debatte war die doppelte Widerspruchslösung bei der Organspende am 16. Januar 2020. Initiatoren? Jens Spahn und Karl Lauterbach! Also der ehemalige und der aktuelle Gesundheitsminister. Sie wollten, dass jeder deutsche Bundesbürger de facto als Ersatzteillager fungieren darf, wenn er dem nicht selbst widersprochen hat. Nicht ohne Grund erinnert diese Übergriffigkeit auf den menschlichen Körper von Staatsseiten frappierend an die gestrige Debatte.

Der Fall erinnert an die Organspende: Schon damals scheiterte Lauterbach

Und auch damals passierte etwas Unvorhergesehenes: Weil die Fraktionsdisziplin nicht galt, verbündeten sich die Grüne Annalena Baerbock und Spahns Kollegin Karin Maag mit einer bunt gemischten Truppe, die den Vorschlag zu einer „Stärkung der Entscheidungsbereitschaft“ abschwächte. Das war mit einem Online-Register immer noch mehr, als vorher der Fall war. Aber der Antrag Spahn/Lauterbach, der vorher hoch gehandelt wurde, fiel durch. Weil das Gewissen der Abgeordneten ohne Fraktionszwang unberechenbar ist – vor allem für die Regierung.

Salz liegt in rotgrünen Tränen
Reaktionen auf das Scheitern der Impfpflicht: Wut, Hass, Verzweiflung
Solche Exempel belegen zugleich, weshalb die Parteien kein Interesse daran haben, die Legislative als eigentliches Kontrollorgan der Exekutive zu stärken. Das Ergebnis kann der Regierung nicht schmecken, wenn die Fraktionsmehrheiten mühsam im Bundestag durch Überzeugung gewonnen werden müssen. Der Dilettantismus von Rot und Grün zeigte sich auch darin, dass sie überzeugt waren, ihnen stünde allein deswegen, weil sie Recht hätten, auch die parlamentarische Mehrheit zu. Statt zu werben und zu überzeugen, beleidigten sie die Union. Das Ergebnis war spätestens nach den ersten Reden klar.

In den angelsächsischen Ländern ist der Gedanke, dass das Parlament gegen die Regierung und nicht mit der Regierung arbeitet, deutlich ausgeprägter. Die gestrigen Reaktionen, die sich empört über die mangelnde Kooperationswilligkeit zeigten, werfen ein bezeichnendes Licht auf Politik wie Medien, die anscheinend den Begriff der „Gewaltenteilung“ für eine rein theoretische Einrichtung halten. Die verächtliche Propaganda gegen das Parlament kann damit auch als Zähmung verstanden werden: Wäre ja noch schöner, wenn das Parlament sich wieder als jene Gewalt verstehen würde, die nicht unter, sondern über dem Kanzler steht.

Der Bundestag hat wieder an Einfluss gewonnen, nachdem ihn die Bund-Länder-Konferenzen de facto ersetzt hatten

Denn der gestrige Machtverlust geht tiefer. Es ist nicht nur eine Niederlage der Ampel. Es ist auch ein deutliches Signal, dass der Bundestag, wenn er will und frei ist, wie es das Grundgesetz vorsieht, mit sofortiger Wirkung das ganze Spektakel beenden könnte, das die Bundesregierung seit Beginn der Corona-Krise treibt. Bund-Länder-Konferenzen als Ersatzgremium sowie eine Ex-Bundeskanzlerin, die im kleinen Kreis ihre Pläne schmiedet, sind nur deswegen möglich, weil sich das Parlament freiwillig an die Leine legen lässt. In vielen Fällen agiert der Bundestag aus reinem Automatismus, was die Regierung will, kommt durch. Einer hält vorne die Karte hoch, die anderen heben sie mit – soll das der historische Entwicklungsendpunkt republikanischer Systeme sein?

Mit dem gestrigen Tag hat sich gezeigt, dass die Exekutive an ihre Grenzen stößt, wenn die Opposition bereit ist, ihre Rolle zu spielen und Abgeordnete ihr freies Mandat auch als solches begreifen. Dass Tessa Ganserer im Gegensatz zur grünen Parteilinie gegen die Impfpflicht gestimmt hat, gehört zu den Lebenssignalen eines für tot erklärten Korpus. Auch das ist ein Zeichen, dass der Merkel-Mehltau langsam, aber stetig schwindet. Man könnte dem nachhelfen, wenn nach dem Impfzwang nun auch der Fraktionszwang fiele. Das ist vermutlich utopisch, aber näher an dem, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes gewollt hätten: eine echte parlamentarische Republik, die aus der historischen Erfahrung auf der Gewissensfreiheit beruht.

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