Tichys Einblick
Benedikt ist nur der Anfang

Missbrauch in der Kirche: Ablenkungsmanöver und Erpressungspotenzial

Die Herausstellung der Verfehlungen Ratzingers soll nicht nur von anderen Kollegen ablenken, die sich deutlich mehr zu Schulden haben kommen lassen. Es soll ein im Gutachten aufgezeigtes Kernproblem umgedeutet werden: das Vertuschungspotenzial homosexueller Seilschaften in der katholischen Kirche.

IMAGO / Future Image

Es steht ein Elefant im Diskussionsraum über den Missbrauch in der katholischen Kirche. Das Missbrauchsgutachten der Münchener Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW) umfasst fast 1.900 Seiten. Es untersucht 65 Fälle fehlerhaften Handelns vonseiten der Amtsinhaber, die sich zwischen dem Ende der 1940er und der Mitte der 2010er Jahre im Erzbistum München und Freising ereigneten. 21 Fälle entfallen davon auf die Amtszeit von Kardinal Friedrich Wetter (1982–2008), 14 Fälle auf die von Kardinal Julius Döpfner (1961–1976), aber nur vier Fälle auf die von Kardinal Joseph Ratzinger (1977–1982).

Richtig ist, dass die Amtszeit des späteren Papstes Benedikt XVI. auch die kürzeste war, demnach natürlich weniger Fälle vorliegen; und es stimmt ebenso, dass die Prominenz des „deutschen Papstes“ das mediale Echo unumgänglich machte. Fraglich bleibt jedoch, inwiefern diese Gewichtung stimmt, wenn es tatsächlich darum geht, den Missbrauch und die Mechaniken aufzudecken, aufzuklären und auszumerzen. Noch fraglicher ist es, wenn man die heutigen Amtsträger dazu fast ausklammert.

Kardinal Reinhard Marx, der das Erzbistum seit 2008 führt, war am Tag der Veröffentlichung des Gutachtens auffällig unauffällig – obwohl es doch sein Bistum gewesen war, das den Auftrag erteilt hatte. Erst eine Woche später, am vergangenen Donnerstag, trat er vor die Presse. Marx bekräftigte, dass er nicht an seinem Sessel klebe, er habe Papst Franziskus bereits einmal seinen Rücktritt angeboten. Aber in einer synodalen Kirche würde er das nicht mehr mit sich „alleine ausmachen“.

Für sensible katholische Ohren war das bereits Politik im Gewand der Buße: Nicht eine Synode oder synodenähnliche Versammlung, sondern der Papst entscheidet, ob er einen Rücktritt annimmt. Und dann war da noch ein Detail: Die Verfehlungen seines Vorvorgängers wollte er nicht bewerten. Einige Pressevertreter waren darüber verstimmt und machten es zur Schlagzeile, offenbar verbittert darüber, dass es kein neues Skandalfutter in der Causa Benedikt gab. Es herrschte die unausgesprochene Forderungshaltung, Benedikt XVI. zu kritisieren oder zur Entschuldigung aufzurufen. Das erschien der Presse unverzeihlicher als mögliche Verfehlungen des Kardinals.

Marx fehlte „notwendige Entschlossenheit“, er habe sich „gleichgültig“ verhalten

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Bleiben wir im Bild. Um dem Elefanten an den Rüssel zu greifen: Die Gutachter lassen auch an Wetter und selbst an Marx, der durchaus wohlwollend eingeführt ist, in ihrer abschließenden Beurteilung kein gutes Haar. Sie werfen Letzterem Fehlverhalten in drei Fällen vor. Das Thema sexueller Missbrauch „sei ihm nach Einschätzung befragter Zeitzeugen ein dringendes Anliegen“ gewesen, erklären die Gutachter. Dieser Eindruck bestätige sich jedoch „nicht durchgängig“.

„Ungeachtet der Vielzahl der seit dem Jahr 2010 eingegangenen (…) Meldungen über Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs Minderjähriger“ hätte sich Marx nur mit „einer verhältnismäßig geringen Zahl von Fällen unmittelbar befasst“. Die Gutachter konnten gemäß Aktenlage nicht feststellen, dass „er auf ein entschiedenes Vorgehen gegen beschuldigte Priester gedrängt hätte“. Marx könne daher nicht damit argumentieren, er hätte sich auf das Handeln der Bistumsverwaltung in den vorgebrachten Fällen verlassen müssen. Demnach trage der Kardinal nicht nur eine moralische, sondern auch eine rechtliche Verantwortung.

Ein „unnachgiebiges Drängen“ auf Verhängung von Maßnahmen zum Schutz Minderjähriger sei nicht feststellbar, dafür eine fehlende „notwendige Entschlossenheit“ sowie „Gleichgültigkeit“ in zwei Fällen. Eine gewisse Änderung der Haltung gegenüber beschuldigten Klerikern ließe sich erst mit der „Implementierung des Instruments der Führungsaufsicht Mitte 2019“ feststellen. Zu Recht fragen die Gutachter: warum erst „neun Jahre nach Bekanntwerden der Vorgänge im Canisius-Kolleg“? Das Papier attestiert Marx zumindest eine „konsequentere Haltung“ in jüngerer Zeit. Allerdings betreffen solche Einschätzungen eben keinen seit 2013 zurückgetretenen Pontifex, der vor über 40 Jahren in München auf dem Bischofsstuhl saß, sondern einen amtierenden Nachfolger.

Für Historiker wird der Fall Döpfner noch ein Nachspiel haben. Döpfner gilt als eines der deutschen Gesichter des 2. Vatikanischen Konzils. Er genoss hohes Prestige im In- und Ausland, seine Rezeption des Konzils wurde zu jener der Deutschen Bischofskonferenz. Bevor Papst Paul VI. 1968 seine Enzyklika Humanae vitae zum Verbot künstlicher Empfängnisverhütung veröffentlichte, befragte er mehrere Würdenträger der Weltkirche. Döpfner galt als ein Fürsprecher der Freigabe hormoneller Verhütungsmittel.

Für die Selbstidentifikation des „nachkonziliaren“ katholischen Klerus spielt er eine bedeutende Rolle, auch für jene, die sich nicht im Lager der „Reformer“ zuhause fühlen. An Döpfner hängt ein bedeutendes Stück der Erinnerungskultur der katholischen Kirche in Deutschland, insbesondere der nach 1965. Zitat Gutachten: „Abgesehen davon, dass nicht erkennbar ist, dass er für eine ordnungsgemäße Delegation und Überwachung gesorgt hätte, handelt es sich hierbei um Fälle, bei denen seine persönliche Beteiligung ausreichend dokumentiert ist.“ Das ist ein Satz, der für das Erbe Döpfners und seine Nachwirkung gewaltigen Sprengstoff bietet.

Gutachter schätzen Kardinal Wetters Verfehlungen als schlimmer ein, doch alle stürzen sich auf Ratzinger

Und zuletzt ist da Kardinal Wetter. Die Gutachter attestieren ihm Fehlverhalten in 21 Fällen, die größte Zahl in der Summe der Missbrauchsfälle seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ganz ab von der Qualität des Gutachtens und der Einstellung dazu: Allein diese Nachricht hätte eigentlich einen Mediensturm auf den 93 Jahre alten Kardinal lostreten müssen. Er blieb – auf wundersame Weise – aus. 26 Jahre lang prägte Wetter die Diözese, fünfmal so lange wie sein Vorgänger Ratzinger. In seiner persönlichen Stellungnahme zeigt sich Wetter eher störrisch denn kooperativ. Er sei in den Ordinariatssitzungen nur kurz anwesend gewesen, er könne sich nicht erinnern, viele Fragen würden Wissen voraussetzen, das er nicht habe.

Die Gutachter vermerken: Eine „auch nur ansatzweise kritische Selbstreflexion des seinerzeitigen Handelns“ sei bei Wetter „auch heute nicht erkennbar“. Und weiter: „Nennenswerte Aktivitäten des damaligen Erzbischofs Kardinal Wetter in Richtung der Täter sind, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht ersichtlich. Dieser Umstand ist im Fall des damaligen Erzbischofs Kardinal Wetter in einem noch stärkeren Maße als bei seinem Vorgänger, Erzbischof Kardinal Ratzinger, aus Sicht der Gutachter zu kritisieren.“ Kritische Darstellung in den Medien? Nachhaken bei Wetter selbst? Fehlanzeige!

Zusammenbruch der Kirche in Deutschland?
Ratzinger-Gate: Ground Zero der Bischöfe
Der „Fall Benedikt“ ist damit in erster Linie ein willkommenes Ablenkungsmanöver. Nicht alle, doch die Mehrheit der Pressevertreter spielt beim Gebelle gegen den Papa emeritus mit, der als Karikatur eines reaktionären Schreckmonsters immer dann an die Wand gemalt wurde, um die Modernität und die Aufgeklärtheit des eigenen Zeitgeistes zu betonen. Sie sind damit nützliche Idioten. Sie greifen den Schatten eines 94-jährigen Mannes hinter weltabgewandten Mauern an und schauen nicht auf diejenigen, die tatsächlich das Heft in der Hand führen. Mal mehr, mal weniger begrüßt man die progressiven Vorhaben innerhalb der Kirche und legt sich daher nicht mit jenen Kräften an, die eine Schlüsselrolle in der Vertuschung spielen. Im Übrigen gilt das auch für konservative katholische Kreise, die in ihrem Eifer gegen liberale Tendenzen ihre Geistlichen um jeden Preis schützen, obwohl sich abzeichnet, dass die Verrottung der Una Sancta ein übergreifendes Phänomen ist, das beide Lager nicht ausnimmt.

Doch die Absicht, den Papst aus Bayern zu opfern, um den Rest des Klerus und die eigenen politisch angehauchten Projekte zu retten, sind längst durchschaut. Wenn nicht nur die Anhänger Benedikts, sondern selbst ein Kirchenkritiker wie Eugen Drewermann den vielgehassten Ratzinger in Schutz nimmt, dann hat der Angreifer seinen Bogen überspannt. Die angebliche Lüge des Papa emeritus hat sich mittlerweile als heiße Luft herausgestellt. Die vermeintliche Falschaussage ist offenbar nicht auf Benedikt, sondern auf die „Redaktion“ zurückzuführen.

Papstbiograf Peter Seewald hat im Focus klargestellt: „Recherchen ergeben, dass der greise Emeritus gegenüber seinem Stab erklärte, er habe wohl an der betreffenden Sitzung von vor gut 40 Jahren teilgenommen, könne sich aber nicht mehr genau daran erinnern. Sein Gedächtnis hatte ihn nicht getrogen. (…) Ein Mitarbeiter hatte das Papier schlampig gelesen. Seine Aussage wurde nicht mehr gecheckt. Der fatale Irrtum war in der Welt. Als die Lüge des Papstes.“

Der Missbrauch durch homosexuelle Priester könnte den Entscheidungsträgern auf die Füße fallen

Das hindert auch den Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Georg Bätzing, nicht daran, weiterhin den Benedikt-Ball zu spielen, indem er ihn dazu auffordert, sich zu entschuldigen und sich von seinen Beratern zu trennen. Letzteres ist zwar nach Stand der Dinge nicht unbegründet. Aber zugleich ist es ein Schrei der Anklage, der einen Schrei der Panik verdecken soll. Denn vom 3. bis 5. Februar tagt der „Synodale Weg“, ein Reformprojekt, dass mit Kernpunkten der katholischen Lehre zugunsten eines Modernisierungsprozesses brechen will. Ähnlich wie auch in der Politik will der deutsche Klerus „mutig vorangehen“, um der restlichen Weltkirche ein Beispiel zu liefern, wie es geht.

Auch Agnostiker und Atheisten dürfte der ennuyierende Reflex, den man aus Energiewende, Migrationspolitik und Außenpolitik kennt, ein Begriff sein. Vor allem, weil Rom dem Projekt skeptisch gegenübersteht und seine eigene Weltsynode angesetzt hat – und man bestimmte Teile der Lehre schlicht nicht ändern kann. Es gibt kaum ein Thema, dass in 2.000 Jahren Kirchengeschichte nicht schon besprochen worden und geklärt worden wäre, warum dieses oder jenes nicht möglich ist; in Deutschland ist man aber der Überzeugung, es im Zweifel besser zu wissen.

Ein zentraler Themenschwerpunkt ist das delikate Thema der Sexualmoral. Katholische Geistliche und Laien wollen auf der Synode über Segensfeiern „für alle Paare, die sich lieben“ diskutieren, demnach also auch für homosexuelle Paare (mit einem Schlupfloch für weitere Geschlechter). Homosexualität soll neu bewertet werden, der Zölibat gelockert, der Familienstand im kirchlichen Arbeitsrecht irrelevant sein. Für erstere Regelungen nimmt sich die Synode also raus, den für den gesamten Katholizismus verpflichtenden Katechismus umzuändern und stellt sich damit über Päpste und Konzilien.

Medien und Politik begrüßen den Prozess. Denn neben Prälaten wird die Aktion vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) ausgerichtet. In diesem sitzt nahezu die gesamte politische Prominenz des Landes und die Vertreter der mächtigen katholischen Verbände. Sie stellen eine Form des Verbandskatholizismus dar, dem pragmatische Interessen mehr wert sind als Tradition und Schrift. Sie stehen für die verhängnisvolle Verdrahtung von Kirche und öffentlichen bzw. staatlichen Interessen. Kirche stellt hier eher eine Interessengemeinschaft denn die Braut Christi dar.

Historische Reden
"Auch der Mensch hat eine Natur"
Doch es gibt einen massiven Schönheitsfehler in der schönen Regenbogenwelt. Die Kirche soll in Deutschland in eine gendergerechte, vielfältige und weltoffene Stütze der Gesellschaft umgewandelt werden, die nicht mehr aneckt und stets die „wokeste“ aller möglichen Welten abbildet, um ja nicht mit Politik und herrschender Ideologie über Kreuz zu liegen. Doch gerade das Thema Sexualität droht den eifrigen Reformern auf die Füße zu fallen. Ein Narrativ, dass der Synodale Weg gesponnen hat, ist, dass der Missbrauch zwangsläufig mit den Strukturen der Kirche zusammenhängt. Damit ist vor allem der bereits seit Jahrzehnten missliebige Zölibat gemeint.

Dass es auch Missbrauch in anderen Kirchengemeinschaften gegeben hat, die keinen Zölibat kennen, wird dabei ebenso ausgeklammert wie Vorfälle an pädagogischen Einrichtungen ohne jedwede kirchliche Orientierung; am bekanntesten ist das Beispiel der Odenwaldschule. Die zugrundeliegenden Mechanismen nimmt man nur rudimentär wahr, um ein Argument für den Reformprozess vorzuschieben, der in letzter Instanz nicht die Trennung, sondern die (noch engere) Verquickung von Staat und Kirche zur Folge hat. Der Missbrauch und dessen Aufhebung haben – wie in der medialen Berichterstattung – eine untergeordnete Rolle, geht es doch um hehre Ziele.

Homosexuelle Vertuschungsnetzwerke wie in Amerika?

Dabei liefert das Gutachten wie auch jüngere Ereignisse in der Kirche Anhaltspunkte, dass die Sache deutlich komplizierter ist. Homosexuelle Vertuschungsnetzwerke haben nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa eine zentrale Rolle gespielt. Der US-Kardinal Theodore McCarrick war nicht nur ein Kopf dieser Hydra, sondern hatte zugleich im Vatikan eine nahezu unantastbare Stellung, weil er Millionensummen heranschaffte. Er machte sich in vielen Belangen durch seine Netzwerke „unverzichtbar“. Dass er sich an Priesterseminaristen und zwei Minderjährigen vergehen konnte, war nur in diesem Zusammenhang möglich.

Es gibt deutliche Hinweise, dass dies auch in Deutschland möglich ist, wenn das Gutachten in einem eigenen Teil dazu schreibt: „Das Wissen um die homosexuellen Tendenzen eines priesterlichen Mitbruders verleiht angesichts der rigiden Haltung der katholischen Kirche zu Fragen der Homosexualität demjenigen, der über dieses Wissen verfügt, eine erhebliche Einflussmöglichkeit beziehungsweise ein (gegebenenfalls sogar wechselseitiges) Erpressungspotential.“

Das ist nichts grundsätzlich Neues. Denn schon das Gutachten von 2010 hebt hervor: „Es handelt sich um homosexuell veranlagte Kleriker, die mit Blick auf die kirchlichen Lehren zur Homosexualität und Priestertum bedauerlicherweise einem besonderen Erpressungspotential unterliegen.“ Paradoxerweise erfolgt die Deutung, Homosexuelle seien in der Kirche eine Minderheit, würden ausgegrenzt und diskriminiert.

Andererseits scheinen gerade die Netzwerke der Homosexuellen in der Kirche so ausgeprägt, dass sie jahrzehntelang vertuschen und einander decken konnten. Das spricht eher für eine Rolle der Macht denn Ohnmacht. Mit der vorangegangenen Erklärung werden dagegen Täter zu Opfern umgedeutet: Der böse Zölibat ist schuld, dass die Priester zu Monstern werden. Dabei hat die Kirche gerade dem einen Riegel vorgeschoben, indem sie Seminaristen von der Weihe ausschloss, die homosexuelle Tendenzen aufwiesen. Niemand wird dazu gezwungen, Priester zu werden. Ganz offenbar wurde die Homosexualität der Täter auch nach Bekanntwerden toleriert.

Dennoch hat die Kirche in Deutschland klargemacht, wie sie das immer offener zutage tretende Problem mit homosexuellen Priestern löst. Kardinal Marx will am 13. März einen „Queer-Gottesdienst“ in der Münchener Paulskirche feiern. Es sei „sehr dringlich“, dass man das Thema Homosexualität unter Priestern bespreche, sagte er bereits am Donnerstag. Er spreche sich für eine Weihe homosexuell empfindender Personen aus. Ergo: Statt ein Problem zu lösen, begnügt man sich damit, es rechtlich so zu verankern, dass es Normalität wird. In dieser Philosophie sind deutsche Politik und deutscher Klerus bereits ganz ein Fleisch.

Anzeige