Tichys Einblick
Interview

Michael Wolffsohn: „Es gibt kein dauerhaftes Täter-, kein dauerhaftes Opfervolk“

Wie wenige Historiker seines Ranges mischt sich Michael Wolffsohn in aktuelle Debatten ein. Ein Gespräch zum 70. Geburtstag über Glück und Einfalt, Antisemitismus und Islamophobie, Gefahren für die Demokratie durch rechten und linken Extremismus.

Vor 70 Jahren in Tel Aviv geboren, zog Michael Wolffsohn mit seiner Familie 1954 nach Deutschland. Als Israeli diente er drei Jahre beim Mi­litär, als deutscher Professor lehrte und forschte er 31 Jahre lang an der Münch­ner Hochschule der Bundeswehr. Der Historiker wurde 2017 „Hochschullehrer des Jahres“. Sein jüngstes Buch ist eine in die Geschichte seiner Familie einge­bettete Autobiografie: „Deutschjüdische Glückskinder. Eine Weltgeschichte mei­ner Familie“ (dtv). Und es ist ein Plä­doyer für aufgeklärten Patriotismus.

Wolfgang Herles: Ungewöhnlich ist, dass Sie die Geschichte einer jüdischen Familie nicht als Opfergeschichte beschreiben, sondern schon im Titel von „deutschjüdischen Glückskindern“ sprechen. Wie das?
Michael Wolffsohn: Die Fakten sprechen dafür. Das Glück besteht vor allem im Überleben. Ich habe Eltern und Groß­eltern erleben dürfen.

Glück haben und glücklich sein sind zweierlei. Sie haben Glück gehabt; aber ist da auch Glücklichsein?
Ein zentrales Kapitel schildert das Le­ben meiner Eltern und Großeltern in damals Britisch­Palästina in den frü­hen 40ern. Meine Mutter hat das auf den Punkt gebracht. Ja, wir wussten, was in Europa geschieht. Aber die Son­ne schien, wir genossen das Leben, wir liebten und wir lebten.

Weshalb ist Ihre Familie wieder nach Deutschland zurückgezogen?
Nicht die ganze Familie. Aber mein Großvater väterlicherseits war ein un­glaublich vermögender Mann. Die Bundesrepublik wollte ein Rechtsstaat sein, und er sagte, ein Rechtsstaat ist dadurch definiert, dass er Raubgut zu­rückerstattet.

Das war dann aber nicht der Fall …
Richtig. Die deutsche Justiz war braun und braun geblieben. Und die West­alliierten waren auch zurückhaltend. Durch den Koreakrieg mussten die Amerikaner Truppen abziehen. Man brauchte die Bundeswehr. Die kostete Geld, das Wirtschaftswunder gab es noch nicht. Die Überlegung war ganz einfach. Wiedergutmachung: nichts da­ gegen, Wiederbewaffnung: notwendig. In diesen Konflikt ist nicht nur die Fa­milie Wolffsohn geraten und hat nichts zurückbekommen.

Sie betrachten das als Historiker beinahe neutral. Sind Sie Historiker geworden, weil Sie an das Motto „Versöhnung durch Wahrheit“ glauben?
Das ist sehr freundlich interpretiert. Am Anfang war die Neugier.

Sie wollen aber nicht nur Geschichte erzählen, sondern den Deutschen etwas ins Stammbuch schreiben. Was?
Es gibt nichts Endgültiges in der Ge­schichte, kein dauerhaftes Tätervolk, kein dauerhaftes Opfervolk. Wenn Nachfahren der Opfer und der Täter die gleichen Grundwerte haben, müssen sie und können sie auf Augenhöhe kommu­nizieren. Es gibt kein moralisches Vor­recht durch Geburt und auch keine Vorverurteilung durch Geburt. Für mich gelten Sachlichkeit, Faktizität und die Werte der westlichen Welt.

Sie bezeichnen sich als deutschen Patrioten. Was ist das eigentlich? Deutschjüdischer Patriot! Ohne Bindestrich. Denn ein Bindestrich ist etwas Trennendes. Bei mir gehört das zusammen, was an sich schon eine Provokation ist. Ich bin Deutscher und Jude gleichermaßen, sodass zwei Wir-Gefühle aufeinanderprallen.

Ist auch das Deutschsein wie das Jüdischsein etwas Ethnisches, oder darf man daran heute gar nicht mehr denken?
Was man denken kann, das darf man denken. Das ist mein Grundsatz. Das Phänomenale am Menschen ist, dass wir weiterdenken können, zurückdenken und vordenken. Was ist denn ein Patriot? Jemand, der sich für das Land der Väter einsetzt.

Reicht nicht Verfassungspatriotismus?
Die Verfassung ist ein Regelwerk. Aber das Grundgesetz hat seine ganz eindeutigen deutschen Spezi ka, etwa die Einklagbarkeit der Grundrechte. Das ist aus der deutschen Geschichte heraus zu verstehen. Der Begriff Verfassungspatriotismus tut so, als ob er sich nur auf die Verfassung bezöge, aber die Verfassung ist das Ergebnis all dessen, was in den Köpfen und Herzen ist, die in einem bestimmten Milieu groß geworden sind. Es ist keine Eskimoverfassung, sondern eine deutsche Verfassung.

Sie kritisieren den deutschen Nachkriegspazifismus, der noch immer in voller Blüte steht.
Er macht die deutsche Gesellschaft sympathisch. Nie wieder töten: Dazu ist nichts zu sagen. Nur ist die Geschichte weitergegangen. Ich schildere den Pazifismus und halte ihn langfristig für unrealistisch, die gegenwärtige Weltlage belegt das. Die Gesellschaft ist nicht militaristischer, aber es ist nicht mehr möglich, sich aus allen Konflikten herauszuhalten, wenn man die freiheitlich-demokratische Grundordnung in der freien Welt aufrechterhalten will. Gegen militärische Intervention habe ich gar nichts, aber es muss eine politische Strategie dahinterstecken. Die gibt es nicht, und das ist Folge des nicht vorhandenen sicherheitspolitischen Trainings der bundesdeutschen Gesellschaft und Politik. Diese Einfältigkeit finden Sie auch in der gegenwärtigen Situation.

Es ist nicht möglich, sich aus allen Konflikten herauszuhalten, wenn man die freiheitlich-demokratische Grundordnung in der freien Welt aufrechterhalten will.

Die völlige Ablehnung der Wehrmacht als Vorgänger der Bundeswehr – da werden Bilder von Helmut Schmidt in Uniform abgehängt –, was halten Sie davon?
Das sind Exzesse, die albern sind. Helmut Schmidt war Oberleutnant der Wehrmacht, aber ein hochverdienter Bundeskanzler. Dennoch ist die Frage: Was hat der gute Mann in der Wehrmacht gemacht? Da gibt es eine Studie, die nicht dazu ermutigt, den Helmut Schmidt vor 45 genauso als Vorbild zu nehmen wie den Helmut Schmidt danach. Was lernen wir daraus? Wir lernen, dass es nicht nur in der Persönlichkeit dramatische Brüche geben kann, sondern auch in einem Staat. Deutschland heute ist nicht das Dritte Reich, ist nicht das Kaiserreich. Und das Wechselspiel zwischen staatlicher und persönlicher familiärer Ebene fasziniert mich. Geschichte besteht aus vielen Schichten.

Ist die Bundeswehr ein Hort rechten Gedankenguts?

Interview
Michael Wolffsohn - Deutschjüdische Glückskinder
Das ist eine unsinnige Behauptung von denen, die mit der Bundeswehr sowieso nichts am Hut haben. Die Urlegende, dass die Bundeswehr von alten Nazioffzieren aufgestellt worden wäre, ist grober Humbug. Das entscheidende Kriterium war: Wie hältst du’s mit dem Widerstand vom 20. Juli? Man schuf das Konzept der inneren Führung, des Bürgers in Uniform. Aber was passierte? Die Bürger zogen sich zurück aus der Bundeswehr; jeder, der konnte, drückte sich. Im letzten Jahr der allgemeinen Wehrpflicht waren nur noch 16 Prozent des Jahrgangs bei der Bundeswehr. Dadurch entstand ein Vakuum. Die Extremisten kommen in dieses Vakuum. Jetzt staunt die Allgemeinheit. Vergessen wird, es gibt eine Vielzahl hoch qualifizierter Idealisten, die außerhalb der Bundeswehr Vorstandsmitglieder in Großunternehmen hätten werden können. Wir haben drei Kategorien: Idealisten, die wenigen Extremisten und drittens die ganz große Gruppe derer, die auf dem zivilen Arbeitsmarkt nicht unterkommen.

Rafik Schami sagte, die Islamophobie sei eine neue Form gesellschaftlich akzeptierten Antisemitismus. Richtig?
Nein. Das ist keine Islamophobie. Die meisten Muslime sind ganz normale Menschen, aber es ist doch nicht zu bestreiten, dass die Mehrheit der Terroristen keine Indianer, sondern Muslime sind. Da muss man nach den Ursachen fragen.

Und viele Muslime sind Antisemiten, was ebenfalls verdrängt wird.
Das hängt mit der allgemeinen Ahnungslosigkeit gegenüber Religionen zusammen. Die Leute haben schon von ihrem eigenen Christentum zu wenig Ahnung, wissen wenig über das Judentum und noch weniger über den Islam. Wenn Sie sich die heiligen Schriften, auch den Koran, ansehen, werden Sie auf extremistisch-antijüdische Passagen stoßen.

Wir sind stolz, dass so viele Israeli nach Berlin ziehen, aber diese Stadt ändert sich durch islamische Migration. Müsste der Stolz eigentlich einer Furcht weichen?
Beides ist berechtigt. Der Stolz darüber, dass man ein vorbildliches, humanes, liberales Gemeinwesen aufgebaut hat, das so attraktiv ist, dass die Nachkommen der Opfer freiwillig und gern in Massen nach Deutschland und die deutsche Hauptstadt kommen. Sie meinen auch, den Nahostkonflikt in Deutschland lösen zu können, denn es gibt sehr intensive Kontakte zwischen den Neuberlinern aus Israel und aus dem Nahen Osten. Aber es gibt die nächste Schicht der Geschichte: die Massenmigration, in deren Schutz Extremisten gekommen sind. Das führt zu Übergriffen. Plötzlich ist der Nahostkonflikt mitten in Deutschland und in Europa.

Da herrscht Naivität. Ein Satz aus Ihrem Buch über die jungen Juden, die nach Berlin ziehen: Sie „suchen in Deutschland die Erfüllung oder nachträgliche Vollendung des Vorfahren-Wunschtraums und finden eines späteren Tages vielleicht nur eine Variante ihres heimlichen Albtraums: den muslimisch-jüdischen Konflikt“.
Auch bei Juden ist das Zeitalter der Propheten vorbei. Aber mit einem realistischen Blick war diese Entwicklung seit den 80ern erkennbar.

Wenn man sieht, was sich von der Türkei bis in die USA abspielt: Stößt das Konzept der liberalen Demokratie an Grenzen?
Die Demokratie war immer bedroht. Der Nationalsozialismus ist mit den Instrumenten der liberalen Demokratie an die Macht gekommen. Es bedurfte Pearl Harbour, damit die USA in den Krieg eintraten. Also: Westliche Demokratien sind wunderbar, langmütig, gutmütig, aber irgendwann reagieren sie.

Und sie haben eine Diskursschwäche. In Deutschland führen alle Parteien nur Wahlkampf gegen die AfD, die man nicht unter-, aber auch nicht überschätzen sollte.
Richtig. Wenn von Extremismus die Rede ist, dann meist von Rechtsextremismus. Den gibt es, ich weiß es, weil ich Liebespost dieser Art en masse bekomme. Aber sich nur darauf zu werfen ist naiv. Die größere Gefahr, nicht nur für uns Juden, geht vom Islamismus aus, und ich staune über die Realitätsschwäche. Auch der Linksextremismus wird wiederkommen.

Wie kann man dem muslimischen Extremismus Grenzen setzen?
An den Grenzen ist es meist schon zu spät. Dann gibt es die Schnapsidee der Auffanglager in Nordafrika. Dann das Konzept der wirtschaftlichen Entwicklung. Alles falsch gedacht. Die arabischen Staaten sind künstliche Produkte der Entkolonialisierung. Kunststaaten. Da wurde zusammengepresst, was nicht zusammengehörte. Wenn ich höre, angefangen bei Steinmeier, Syrien müsse wiederhergestellt werden – Unsinn. Es kann nicht wiederhergestellt werden. Man muss sich Konzepte überlegen, wie man die Staatenwelt so organisieren kann, dass die unterdrückten Minderheiten Selbstbestimmung erreichen. Das Stichwort heißt Föderalismus.

Ein Fehler, der in der EU genauso gemacht wird.
Die phänomenale Erfindung der europäischen Geschichte ist der Parlamentarismus: Der Konflikt wird nicht ausgeschaltet, sondern mit Worten ausgetragen.

Der arabische Frühling ist gescheitert.
Weil man die Institutionen nicht richtig strukturiert hat. Es darf keine Gewinner und Verlierer geben. Demokratie bedeutet Machtteilung durch Kontrolle. Dadurch Befriedigung und dadurch Frieden.


Dieses Interview ist in der Ausgabe 07/2017 von Tichys Einblick erschienen – die ganze Ausgabe können Sie auch hier als PDF lesen.