Tichys Einblick
Der Haltung krummer Rücken

Merkels Fernsehansprache zum Corona-Lockdown die „Rede des Jahres 2020“ – wie bitte?

Da las eine Bundeskanzlerin eine Rede vom Teleprompter ab mit der Betonung einer Mittelstufen-Schülerin, die einen Besinnungsaufsatz vorträgt - in der Empathie des Weltjammers.

imago images / IPON

Es ist ein alter rhetorischer Topos, dass Rhetorik nur in Gesellschaften eine Blüte erlebt, in denen Auseinandersetzungen aus unterschiedlichen Interessenslagen möglich sind und zu Entscheidungen führen. In unserem Parlament werden Reden gehalten, die kaum zur Entscheidungsfindung beitragen. Sie rechtfertigen dort vielmehr für die Öffentlichkeit das, was vorher in Gremien, kleinen Kreisen und Fraktionen beschlossen wurde. „Überblickt man die Blütezeiten der abendländischen Beredsamkeit, dann erweist es sich schnell, daß die Rhetorik immer dort das Gesicht einer Epoche bestimmt hat, wo vorhandene Antagonismen in öffentlichem Streit Profil und Konturen gewannen: persönliche Antagonismen, politische Antagonismen“, so schrieb einst der große Rhetor Walter Jens, der das Institut für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen gründete. Aber eine Jury dieses Instituts der Universität Tübingen, jetzt besetzt mit den Nachfolgern von Walter Jens und Gert Ueding, erkannte gerade, dass Angela Merkel, die „alternativlose Bundeskanzlerin“, mit ihrer Fernsehansprache zum Corona-Lockdown im März dieses Jahres die „Rede des Jahres 2020“ gehalten habe.

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Ich war, als ich die Meldung in den Nachrichten hörte, zunächst recht erstaunt, hielt ich doch bisher unsere Bundeskanzlerin für eine schlechte, eher wenig überzeugende Rednerin. Aus diesem Grund hatte ich mir ihre Rede erst gar nicht angeschaut. Das holte ich dann nach, aber leider änderte sich meine Meinung dadurch nicht, ja mein Erstaunen über die Entscheidung der Jury des einst renommierten Instituts nahm zu.

Da liest eine Bundeskanzlerin eine Rede vom Teleprompter ab mit der Betonung einer Mittelstufen-Schülerin, die einen Besinnungsaufsatz vorträgt, dazu mit einer Körpersprache, die in der anscheinend unverzichtbaren Dauer-Raute ihren Höhepunkt hat, und mit einer penetranten pastoralen Betroffenheitsmimik, in der sich der ganze Jammer der Welt, kaum aber Zuversicht ausdrückt. Dazu ist die Rede, ganz offensicht ab Minute 4:05, geschnitten. Zugegeben, der Text der Rede ist nicht schlecht verfasst, da hat ihr Redenschreiber gute Arbeit geleistet (wenn, dann hätte er doch wohl die Auszeichnung erhalten müssen), auch kann ich sogar in vielen Teilen inhaltlich zustimmen – sicherlich im Gegensatz zu anderen Autoren hier. Die Vortragsweise ist aber alles andere als preiswürdig, wobei ich nicht weiß, ob der Cutter noch öfter schneiden musste, falls ja, dann ist es besser gelungen als an der von mir angemerkten Stelle.

Ich fragte mich daraufhin, nach welchen Aspekten die Ansprache bewertet wurde, und las auf der Website die Begründung und die Kriterien:
 „Kriterienkatalog für die Juryarbeit 
(ausgezeichnet werden im Normfall Reden, die in Deutschland in deutscher Sprache gehalten wurden)
 1. bemerkenswerter Anlass oder besondere situative Herausforderung?
 2. publizistische Wirkung?
 3. Elaboriertheit der Rede (mit Blick auf die gewählte Redegattung)?
 4. inhaltliche Relevanz und thematische Akzentuierung der Rede?
 5. Vortragsstil (mit Blick auf die jeweilige Persönlichkeit)?“

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Sicherlich ist es ein bemerkenswerter Anlass, zu dem die Rede gehalten wurde, aber gab es für den Vortrag eine besondere situative Herausforderung? Auf der Website der Tübinger heißt es: „Der kairos [sic!] der Rede spielt für die Auszeichnung eine besondere Rolle“. Der Kairos, der für etwas entscheidende, günstige Augenblick, wurde als „situative Herausforderung“ in der Rhetoriktradition aber tatsächlich im Augenblick der gehaltenen Rede gesehen. Nun ja, unsere Tübinger Medienrhetoriker sehen ihn ganz modern offenbar im Schnittstudio und halten den dauernden Blick in den Teleprompter offenbar für eine persönliche, Empathie ausstrahlende Anrede.

Interessant ist auch Punkt 5, der Blick auf die jeweilige Persönlichkeit. Sie soll, seit schon Aristoteles ausführlich darauf hingewiesen hat, glaubwürdig für den Redegegenstand sein. Wenn dieser Aspekt in Punkt 5 den Tübingern so wichtig ist, sollten sie auch berücksichtigen, wie sich die Rednerin zuvor in dieser und anderen Gelegenheiten verhalten hat. Ist eine Rednerin in dieser Sache besonders glaubwürdig, die zu Anfang der Corona-Pandemie Gesichtsmasken ablehnte, sie gar als kontraproduktiv bezeichnete? Ein Kabinettsmitglied hatte zuvor Masken nach China verschicken lassen. Als dann auf einmal genügend Masken vorhanden waren, galten sie als unverzichtbar. Solche Kehrtwendungen bei den Gegenmaßnahmen und diverse „alternativlose“ Entscheidungen in kleinem Kreis und ohne das Parlament haben zu einem Glaubwürdigkeitsdefizit beim Publikum geführt und Schaden angerichtet, der nun behoben werden soll.

Insofern ist es fragwürdig, ob die prämierte Rede beim Publikum tatsächlich die Wirkung hervorruft, die die Jury-Rhetoriker ihr zumessen. Schon die Wahl der von-der-Leyen-Rede im letzten Jahr ließ mich staunen. Jetzt haben sich die Mitglieder mit der Wahl der Merkelrede allerdings wieder einen Bärendienst erwiesen. Immerhin, sie zeigen „Haltung“. Aber zu viel Haltung kann zu Haltungsschäden führen, z. B. zu einem krummen Rücken.


Bernd Steinbrink ist Medienwissenschaftler, Journalist und Buchautor.

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