Tichys Einblick
Kanzlerin der Journalistenherzen

Merkel und die Pfauenfederwedler der Macht

In der Pandemie benimmt sich Angela Merkel wie eine neofeudale Herrscherin – und wird genau dafür gelobt. Viele Journalisten offenbaren jetzt ihre unheimliche Liebe zum Präsidialregime.

imago Images

Ungeheuerliches trägt sich in Deutschland zu. Eine Art Staatsstreich, zumindest in beziehungsweise unter den Augen des Spiegel-Redakteurs Dirk Kurbjuweit. „Die Entmachtung“ überschrieb er seinen Kommentar in der Online-Ausgabe der Illustrierten unter der Dachzeile: „Länderchefs übergehen Merkel“.

Der Spiegel-Autor erläutert darin sein Verständnis des Staatsaufbaus, der ihm einleuchtend erscheint: „Die Ministerpräsidenten lockern ihre Corona-Beschränkungen, ohne die Beratung mit der Kanzlerin abzuwarten. Sie sollten sich zügeln. Wenn die Infektionszahlen wieder steigen, braucht das Land Merkels Autorität.“ Wenn es sich nur um einen Redakteur eines einzelnen Blattes handeln würde, dann wäre diese Deutung nicht weiter bemerkenswert. Aber in Zeiten von Corona schält sich bei einer ganzen Reihe von journalistischen Kommentatoren und sonstigen politischen Helfern ein Staatsverständnis heraus, das zwar herzlich wenig mit dem Grundgesetz zu schaffen hat, aber um so mehr mit Merkels Regierungspraxis.

Nach dieser Praxis handelt es sich bei der Bundesrepublik um eine Art Präsidialdemokratie, in der die durchgriffsbefugte Präsidentin eben Kanzlerin heißt. Verfassungsmäßige Schranken existieren bestenfalls als unverbindliche Hinweise, deren Gültigkeit von Tag zu Tag unter medialer Begleitung neu ausgehandelt werden kann. Die Ämter der Ministerpräsidenten bilden in diesem zentralistischen Staatsaufbau eine Arabeske. Nach der Auffassung von Kurbjuweit und anderen berechtigt der Posten beispielsweise des bayerischen Ministerpräsidenten dazu, den ersten Schluck Oktoberfestbier nach dem Anzapfen zu trinken (wenn auch nicht 2020), aber zu nicht viel mehr.

Niemand muss lange im Grundgesetz und in den Landesverfassungen lesen, um zu sehen, dass fast alles, was jetzt als so genannte Lockerungsschritte debattiert wird – Öffnung von Schulen, Läden, Aufhebung von Kontaktbeschränkungen – von vornherein in die Hoheit der Länder fällt. Und auch für das im März verschärfte Infektionsschutzgesetz gilt Artikel 83 des Grundgesetzes„Die Länder führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt.“

Die Ministerpräsidenten handeln also einfach nach Verfassungs- und Rechtslage, ohne die sachlich gar nicht zuständige Kanzlerin vorher um Erlaubnis zu fragen. Für Merkels Öffentlichkeitsarbeiter ist das ein Skandal, eine Entmachtung, eine Insubordination nicht nur gegenüber der Präsidialkanzlerin, sondern auch ein Verlust an Deutungshoheit für sie, die Karyatiden und Atlanten des neoautoritären Staates.

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In den Corona-Wochen berichteten die meisten Medien von den „Bund-Länder-Runden“, die eine tiefgreifende Sondermaßnahme nach der anderen beschlossen, als würde es sich um ein in der Verfassung vorgesehenes Gremium handeln. Kaum jemand fragte: Aus welcher Machtbefugnis heraus handelt diese Runde eigentlich wie eine Notstandsregierung? Mit welchem Recht redet Merkel über Schulschließungen und Details des Einzelhandels, als wäre sie eine Oberaufseherin von Bundesländern, Landkreisen und Kommunen?

Die Ministerpräsidenten müssen sich selbst einen Teil der Schuld dafür zuschreiben, dass sie über Wochen so wirkten, als wären sie von Merkel eingesetzte Gouverneure. Der andere Teil liegt bei den Medien, die mit einer bemerkenswerten verfassungsrechtlichen Indolenz einfach offizielle Verlautbarungen transportieren.

„Kanzleramtsminister Braun dämpft Hoffnung auf Lockerung der Corona-Maßnahmen“, hier es etwa in einer Meldung. Erstens suggerierte der Journalist, der das schrieb, die Bürger dürften zwar ein bisschen hoffen, dass ihre Grundrechte wieder in Kraft gesetzt werden, aber die Entscheidung über Ob und Wie liege begründungsfrei in Berlin, so, als ginge es um die Zuteilung von Taschengeld und nicht um Verfassungsrechte. Und zweitens: Über die Zuteilung entscheidet der Kanzleramtschef, also der Hausmeier der Kanzlerin.

Aber gut: Die Medien, die daran keinen Anstoß nehmen, lobten ja auch die Führungskraft, mit der Merkel im Februar verfügte, eine Wahl in Thüringen müsste wegen Unverzeihlichkeit rückgängig gemacht werden.

Wenn in den Corona-Wochen jemand übergangen wurde, dann die Abgeordneten von Bundestag und die Länderparlamenten (die das allerdings widerstandfrei mit sich geschehen ließen). Zu den wenigen, die das überhaupt anmerkten, gehörte der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier. Er wies darauf hin, dass nicht die Rückkehr zur Normalität begründet werden muss, sondern die Aufrechterhaltung des faktischen Ausnahmezustandes. Und dass die massive Einschränkung von Freiheiten eine gesetzliche Grundlage braucht, je länger sie dauert. Denn das Infektionsschutzgesetz des Bundes ist kein Ermächtigungsgesetz. Faktisch näherte sich Deutschland in den Corona-Wochen dem Zustand der späten Weimarer Republik an, in dem der Reichspräsident durch so genannte Notverordnungen ohne Parlament durchregieren konnte.

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Dass große Teile der Medien diesen Zustand nicht nur hinnehmen, sondern ihn sogar ausdrücklich loben und dreiste Ministerpräsidenten tadeln, wenn sie zum normalen Föderalismus zurückwollen, markiert einen Zustand, der weit über das Virusthema hinausreicht. In der Pandemie zeigt sich, wie tief bei vielen Journalisten der mentale Bruch mit ihrer Tradition geht. Die meisten Medienmitarbeiter sehen sich als Linke, also als Angehörige eines Milieus, zu dessen Geschichte die Demonstrationen gegen die Notstandgesetze Ende der sechziger Jahre gehört und der ziemlich übergeschnappte Furor gegen die Volkszählung in den Achtzigern. Ein Rudolf Augstein hätte mit seinem Spiegel mit Sicherheit den Schlingerkurs der Bundesregierung in der Covid-19-Pandemie ätzend begleitet; er hätte die Machtanmaßung der Überkanzlerin schon aus seinem ganz grundsätzlichen Oppositionsgeist heraus unter Beschuss genommen mit der Begründung: Irgendjemand muss es ja tun. Seine Wendung vom ‚Sturmgeschütz der Demokratie’ klang zwar immer etwas martialisch für ein Magazin. Aber das Hamburger Medium des Jahres 2020 ist das exakte Gegenteil eines Geschützes, das früher auf die Regierung jedweder Farbe zielte. Das Blatt ist versteht sich heute als Straußenfederwedel der Macht. Mit dem Straußenfederwedel, auch flabellum oder muscafugium genannt, hielten Bedienstete früher lästige Fliegen vom Antlitz des Herrschers fern und fächelten ihm kühle Luft zu. Wer diese verantwortungsvolle Arbeit gut ausführte, konnte zum Oberwedelträger aufsteigen. Wie Medienschaffende das mit ihrem Selbstbildnis als unabhängige kritische Geister verbinden, wäre vermutlich Stoff für viele Therapiestunden. Vielleicht liegt es auch an der geschrumpften Macht der größeren und kleineren Printgeschütze: Als Trabanten der Staatsspitze können sich Redakteure wenigstens ein Stück ihres alten Anspruchs zurückholen, auch, wenn sich Macht zu abgeleiteter Macht verhält wie Honig zu Kunsthonig.

Um noch einmal zu der Autorität Merkels zurückzukommen, ohne die Deutschland im Antiviruskampf nach Meinung des Spiegel-Autors glatt aufgeschmissen ist: Offenkundig meint er gar keine Autorität qua Verfassung, sondern eine Art des persönlichen Regiments durch Handauflegen nach Art der französischen Könige. Die Erzählung von der Kanzlerin, die „uns durch die Pandemie steuert“ (Stern) und sich schon dadurch für die fünfte Amtszeit qualifiziert, gehört zu den albernsten Erfindungen, die jemals von den Flabelliwedlern unters Volk gebracht wurden.

Zur Erinnerung: Die Pandemie nahm im Januar 2020 ihren globalen Lauf. Merkel tauchte seinerzeit wochenlang ab und äußerte sich überhaupt erst am 11. März mit der Bemerkung, Grenzschließungen seien „kein adäquates Mittel“. Bis dahin hatte sie offenbar niemand vermisst, auch ihre treuesten medialen Begleiter nicht. Statt der höchsten Autorität durfte Jens Spahn erklären, Masken nützten schon deshalb nichts, weil es kein Beleg dafür gebe, dass SARS-CoV-2 durch die Atemluft übertragen werde. Die Shutdown-Maßnahmen der Länder kamen ohne Merkels Führung zustande. Dort, wo sie tatsächlich eine ungeteilte Verantwortung besaß – bei der Einreisekontrolle – trante sie wochenlang; bis Anfang April konnten noch Maschinen aus dem Iran und China in Deutschland landen, ohne dass die Passagiere in Quarantäne mussten.

Erst beim Kampf gegen die vermaledeiten „Lockerungsdiskussionsorgien“ lief Merkel zur Pandemiegroßkanzlerin auf, vermutlich deshalb, weil ihr Diskussionsorgien seit je zuwider sind. Erst stellte sie eine Lockerung bei einem Verdopplungszeitraum der Infektionen auf zehn Tage in Aussicht. Als das erreicht war (mittlerweile liegt er über 40) schwenkte sie zur Reproduktionszahl: die müsse unter eins gebracht werden. Unter eins sank sie allerdings schon vor dem Lockdown, wie sich später herausstellte. Dann wechselte sie zum Kriterium der Neuinfektionen. Nach ihren jetzt gerade aktuellen Vorstellungen sollen Shutdown-Maßnahmen automatisch wieder eingesetzt werden, wenn die Neuinfektionszahl in einem Landkreis eine von ihr gegriffene „Obergrenze“ überschreitet. Auf diese Weise macht sich Merkel ganz nebenbei zur Oberlandrätin der Nation, so, als könnten die tatsächlich Zuständigen vor Ort nicht selbst entscheiden (und dann natürlich die Verantwortung übernehmen). Was die Verantwortung angeht, ganz nebenbei: Merkel präsidiert zwar, fühlt sich aber für konkrete Sachverhalte nie selbst zuständig. Das hielt sie schon in der Migrationskrise so, als sie die Öffnungsfestlichkeiten zwar persönlich und ohne Parlament startete, die konkreten Probleme dann aber bei den Ländern und Kommunen abkippte („nun sind sie halt da“).

Auch im Fall möglicher Corona-Neuinfektionen wird sie wieder auf den Föderalismus verweisen. Für die noch kaum absehbaren wirtschaftlichen Folgen des Shutdowns dürfte sie das Virus selbst verantwortlich machen, die Weltwirtschaft, aber auch Trump, falls er wiedergewählt wird (ohne ihn, den Weltbösen, wird es übrigens argumentativ in Zukunft eng). Nur sie selbst wird darauf bestehen, wenig bis nichts mit der Rezession zu tun zu haben.

Für diese Argumentationsfigur kann sie sich wie auch sonst blind auf ihre Helfer mit den Straußenfedern verlassen. Um Mark Twain zu bemühen: „Sie verloren die Richtung und wedelten heftiger.“

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