Tichys Einblick
„Mentaten“ statt „künstlicher Intelligenz“

Wieso wir den Menschen anstatt die Maschinen fördern müssen

Besser unser gesammeltes Wissen nutzen, um in Menschen statt Maschinen zu investieren und ein Bildungsprogramm zu entwickeln, das sich nicht darauf beschränkt, halbanalphabetische, aber moralisierende Besserwisser heranzuziehen, sondern das höchste Anforderungen an den menschlichen Geist stellt.

IMAGO / USA TODAY Network

Elon Musk, bisher einer der Hauptbefürworter der sogenannten „künstlichen Intelligenz“ (KI) und des Bestrebens, die menschliche Intelligenz durch die Verknüpfung mit der virtuellen Welt zu „verbessern“, ist besorgt. Zusammen mit zahlreichen anderen Wissenschaftlern und Intellektuellen forderte er neulich ein sechsmonatiges Verbot der Weiterentwicklung der KI, um zunächst einmal ihre Gefährlichkeit zu bewerten und moralische Leitlinien festzulegen, damit die Menschheit nicht die Kontrolle über ihre neueste Schöpfung verliert.

In der Tat hat sich die Menschheit im Allgemeinen und die westliche Welt im Besonderen auf eine abschüssige und gefährliche, vielleicht sogar selbstmörderische Reise begeben, ohne sich über die möglichen Folgen Gedanken zu machen. Und die Art und Weise, wie der öffentliche Diskurs über künstliche Intelligenz geführt wird, ist, wie so vieles, eher enttäuschend für das derzeitige Niveau der Debatte in der abendländischen Welt – oder dem, was von ihr übrig ist.

Auf der einen Seite finden wir die progressivistischen Verfechter jener „künstlichen Intelligenz“, welche mit scientistischen, atheistischen, transhumanistischen, ja gar dataistischen Argumenten die Vertiefung einer Technologie bewerben, deren langfristige Konsequenzen für den Menschen, wie wir ihn kennen, bestenfalls desaströs, schlimmstenfalls suizidär sein werden. Auf der anderen Seite finden wir „Konservative“ verschiedenster Couleur, welche zwar von einer durchaus berechtigten tiefen und instinktiven Abscheu gegenüber künstlicher Intelligenz geprägt sind, welche aber bis auf eine fundamentale Ablehnung dieser neuen Technologie nur sehr wenig Konstruktives vorzubringen wissen – eben jene hinhaltende Negierung, die sich letzten Endes wie immer in einer widerwilligen Akzeptanz des scheinbar „Unaufhaltsamen“ auflösen wird, verbunden mit dem guten Gewissen, immerhin ein wenig Widerstand geleistet zu haben.

Und so ist wohl zu befürchten, dass das Verhängnis weiter seinen Lauf nehmen wird, da eine bloße Ablehnung noch lange keine echte Alternative ist, wenn doch gleichzeitig überall um uns herum und mit der impliziten Unterstützung von Gesetzgebern, Medien und Intelligentsia unumkehrbare Fakten geschaffen und künstliche Intelligenzen in allen alltäglichen Lebensbereichen zur standardmäßigen Anwendung gebracht werden.

Und doch bestünde in der Tat eine echte Alternative zur Selbstabschaffung des Menschen durch die künstliche Intelligenz, die so evident und gleichzeitig einfach ist, dass es erstaunlich, ja sogar bedenklich ist, dass sie in der öffentlichen Diskussion bisher kaum angesprochen worden ist: die Weiterentwicklung des Menschen selbst, und zwar nicht auf der Grundlage genetischer Modifikationen, kybernetischer Verbesserungen oder sonstiger transhumanistischer Monstrositäten, sondern einfach auf Grundlage seines gegenwärtigen biologischen Zustands.

Die Gefahr des Transhumanismus
Die Künstliche Intelligenz und ihre philosophischen Zombies
Nicht nur wissen wir, dass der Mensch im Regelfall nur einen Bruchteil seiner Gehirnkapazität auch tatsächlich nutzt, er also in unmittelbarer Reichweite einer in seinem eigenem Kopf verankerten exponentiellen Steigerung seines Potenzials steht, sondern es ist auch ein offenes Geheimnis, dass die geistigen Leistungen zumindest des abendländischen Menschen im 21. Jahrhundert weit unter denen stehen, die vor noch 100 Jahren üblich waren. Während viele Griechen in der klassischen Antike die Ilias und die Odyssee auswendig aufsagen konnten (immerhin 15.000 bzw. 12.000 Verse), und während im Mittelalter eine ganze Reihe von Gläubigen Talmud, Neues Testament oder Koran auswendig lernten, scheitern die meisten Schüler heute selbst bei dem Versuch, ein einfaches achtzeiliges Gedicht zu memorisieren.

Leider sieht es nicht anders aus, wenn es darum geht, die mathematischen Fähigkeiten der modernen Europäer zu beurteilen, die weit unter dem Standard liegen, der noch vor zwei Generationen üblich war – man denke hier nur an die immer desaströseren Ergebnisse der europäischen Pisa-Tests. Schlimmer noch: Für einen Professor der Geisteswissenschaften wie mich ist es immer wieder besonders beunruhigend zu sehen, dass für viele Studenten schon das bloße Verstehen eines Textes in ihrer eigenen Muttersprache eine solche Hürde darstellt, dass es fast schon eine pädagogische Glanzleistung ist, eine Seminargruppe dazu zu bringen, auch nur einen einseitigen wissenschaftlichen Text zu verstehen, zu strukturieren und zusammenzufassen …

Anstatt also den offensichtlich weit unterhalb seines eigenen Potentials stehenden europäischen Menschen weiter der fortschreitenden intellektuellen Infantilisierung zu überlassen und zum Ausgleich für seine geistige Verrohung mit hochtechnologischen virtuellen „Krücken“ auszustatten, welche ihn wohl früher oder später ganz zum hilflosen lebenslangen Pensionär der eigenen Maschine machen würden, wäre es da nicht erheblich effizienter und auch humanistischer, zunächst die Mittel und Wege bereitzustellen, damit der Mensch zunächst einmal (wieder) sein eigenes Potential wiederentdeckt und so weit wie möglich entfaltet? Oder ist gerade dieser Versuch einer erneuten und verstärkten „Mündigwerdung“ des abendländischen Menschen nicht erwünscht – aus welchen Gründen auch immer?

In diesem Kontext kam ich nicht umhin, mich an die Lektüre von „Dune“, des ebenso genialen wie visionären Romans von Frank Herbert zu erinnern, der in den letzten Jahren durch seine neue, kongeniale Verfilmung eine erneute Resonanz gefunden hat. Die Hintergrundgeschichte dieses Epos sollte uns zu denken geben: Nachdem die Menschheit sich fast selbst ausgerottet hat, weil sie sich weitgehend Computern und anderen Maschinen überlassen hat, trifft sie den einhelligen Beschluss, nie wieder eine Maschine nach dem Abbild des menschlichen Geistes schaffen zu wollen und vielmehr das menschliche Bewusstsein zu trainieren und an seine ultimativen Grenzen zu bringen. Höhepunkt dieser Anstrengungen sind die sogenannten „Mentaten“; Menschen, welche durch das bereits frühkindliche Training ihrer geistigen Leistungen instandgesetzt werden, in vielerlei Hinsicht mit den Computern der Vergangenheit zu rivalisieren.

Keine Angst vor Künstlicher Intelligenz (KI)
Zugegeben, ein solches Ziel mag übertrieben erscheinen, aber der Grundgedanke sollte uns zu denken geben: Warum nicht unser gesammeltes technisches, pädagogisches und biologisches Wissen nutzen, um in den Menschen und seine Fähigkeiten statt in Maschinen zu investieren und ein Bildungsprogramm zu entwickeln, das sich nicht darauf beschränkt, halbanalphabetische, aber ständig moralisierende Besserwisser heranzuziehen, sondern das höchste Anforderungen an den menschlichen Geist stellt? Warum nicht ein ergebnisoffenes Elitenbildungsprogramm entwerfen, das allen offen steht und darauf abzielt, nicht nur die besten Kandidaten herauszufiltern, sondern sie auch so weit wie möglich anzuspornen, geistige Höhen zu erreichen, an die heute nicht einmal zu denken ist – und das ihnen gleichzeitig einen strengen moralischen Kodex an die Hand gibt?

Und da zu erwarten ist, dass ein solches Programm in der gegenwärtigen ideologischen Konstellation und in Anbetracht der intellektuellen Zusammensetzung unserer politischen Führungsschicht so ziemlich das letzte ist, was auf öffentliche Unterstützung hoffen kann: Warum nicht nach Mitteln und Wegen suchen, die zahlreichen bereits heute existierenden elitären Erziehungsansätze systematisch zu überprüfen, zu bewerten und die besten von ihnen auf freiwilliger Basis in einigen Privatschulen auf die Probe zu stellen?

Damit kein Missverständnis entsteht: Dies soll keineswegs einen Abgesang auf das (ohnehin durch Linke wie Liberale fast völlig zerstörte) Humboldt’sche Ideal humanistischer Selbstentfaltung durch freie Bildung sein, wohl aber auf den Gedanken der Massenuniversität und Gleichmacherei. Denn ja, wir brauchen zwar endlich wieder ein flexibles System, welches dem Einzelnen erlaubt, seinen Bildungsweg möglichst frei zu gestalten, aber eben auch ein System, das von Anfang an höchste Anforderungen an Leistung stellt und diese Anforderungen in bislang undenkbarer Weise nach oben hin offen gestaltet. Anstatt all unsere Hoffnungen auf eine „künstliche Intelligenz“ zu setzen, die ohnehin nur jene Ergebnisse ausspuckt, die ihrer (meist linksliberalen) Programmierung entstammen, und damit Gefahr läuft, früher oder später die Kontrolle über all unsere elektronischen Geräte zu übernehmen, sollten wir lieber eine echte menschliche Elite entwickeln, die ihren Namen verdient – und die es auch wert ist, dass man das Geschick unserer Zivilisation lieber in ihre Hände legt als in diejenige obskurer Algorithmen und Programmierer …


Die ursprüngliche, englische Version dieses Textes erschien auf: https://tvpworld.com/68905121/remember-frank-herberts-dune-we-need-mentats-instead-of-artificial-intelligence

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