Tichys Einblick
Fallpauschalen abgeschafft

Karl Lauterbach zahlt Krankenhäuser künftig fürs reine Dasein

Krankenhäuser erhalten künftig Geld fürs bloße Dasein. Für tatsächliche erbrachte Leistungen bekommen sie deutlich weniger als bisher. Das ist der Kern einer Reform, die Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vorgestellt hat.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in der Bundespressekonferenz, 06.12.2022

IMAGO / Metodi Popow

Eine „Revolution des Krankenhauses“ hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angekündigt. Darunter macht es der Erfinder der „absoluten Killervariante“ nicht. Nun hat er in einer Pressekonferenz die ersten Vorschläge vorgestellt, die eine 17-köpfige Fachkommission erarbeitet hat. Diese habe frei von äußeren Einflüssen auch aus dem Ministerium gearbeitet, betont Lauterbach, sagt aber ebenfalls, dass er an mehreren ihrer Sitzungen teilgenommen habe – es bleibt nicht der einzige Widerspruch in der Pressekonferenz.

Der Kern der Reform ist eine Rückfuhr der Fallpauschalen, nach denen Krankenhäuser bisher bezahlt werden. Für die anfallenden Behandlungen wie Knieoperationen, Herzinfarkte oder einen einfachen Beinbruch erhalten die Kliniken von den Krankenkassen jeweils eine Summe X. Verläuft der Beinbruch komplizierter als erwartet, machen die Kliniken einen Verlust. Geht alles glatt, bleibt den Häusern ein Gewinn. Bei hohen Fallpauschalen haben sie einen Anreiz, diese Behandlung oft durchzuführen. So gibt es schon länger den Verdacht, dass in Deutschland mehr Knie- und Gelenkoperationen durchgeführt werden, als es vielleicht notwendig wäre.

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Aus Sicht des Revolutionärs Lauterbach verursachen die Fallpauschalen „gravierende Probleme“. Für die Kliniken lohnten sich „billige Behandlungen“, das führe zu einer „Tendenz zur billigen Medizin“. Auch würden die Verantwortlichen in Krankenhäusern mehr behandeln wollen, weil das ihr Budget erhöhe. Eingeführt wurden die Fallpauschalen 2004. Als Experte beteiligt war seinerzeit ein Gesundheitsökonom aus Leverkusen namens Lauterbach. Heute will er schon damals gewusst haben, dass ein rein auf Fallpauschalen basierendes System „sehr gefährlich“ sei.

Künftig sollen die Krankenhäuser etwa zur Hälfte allein für die Daseinsvorsorge bezahlt werden. Das heißt, sie erhalten Geld dafür, dass sie gewisse Angebote bereitstellen. Egal, ob dann tatsächlich jemand diese Angebote braucht. Etwa die andere Hälfte erhalten sie weiterhin über Fallpauschalen für Behandlungen. Nur dass diese Pauschalen deutlich abgesenkt werden. Der Revolutionär Lauterbach hält also etwa zur Hälfte am bestehenden System fest: „Es braucht eine gewisse Ökonomie“, sagt Christian Karagiannidis entschuldigend. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Notfallmedizin ist Mitglied der Expertenkommission.

Der Koordinator der Kommission ist Tom Bschor. Er beschreibt die aktuelle Situation drastisch: An den Kliniken herrsche „Masse statt Klasse“ und es gebe eine „Schere zwischen Über- und Unterversorgung“. Sprich: Während in manchen Bereichen der Verdacht besteht, dass die Kliniken zu viel operieren, täten sie in anderen Bereichen zu wenig. Bschor nennt als Beispiel dafür die Kindermedizin. Da die geburtenstarken Jahrgänge an den Kliniken jetzt in Rente gehen und gleichzeitig die geburtenstarken Jahrgänge insgesamt künftig deutlich mehr Patienten stellen werden, droht eine Überlastung: „Die Krankenhäuser werden kollabieren, wenn wir jetzt nicht grundlegend reformieren“, warnt der Koordinator der Kommission.

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Neben der Bezahlung der Krankenhäuser für ihre reine Daseinsvorsorge hat die Reform noch einen zweiten Kern: Es werde künftig eine strenge Einteilung der Kliniken in drei Stufen geben: „lokal“, „regional“ und „überregional“. Zur Stufe drei, den „überregionalen“ Krankenhäusern, gehören dann zum Beispiel die großen Unikliniken, die auch komplexe Behandlungen durchführen, etwa bei Krebs oder nach Herzinfarkten. Die erste Stufe, die „lokalen“ Krankenhäusern sollen die Versorgung auf dem Land sichern. Sie werden rein für die Daseinsvorsorge bezahlt, unabhängig davon, wie viele Behandlungen sie tatsächlich durchführen. Dafür solle aber künftig klarer definiert sein, welche Behandlung in welchem Krankenhaus durchgeführt werden kann. In der Praxis wird das für den Infarktpatienten bedeuten, dass er zur Behandlung in die nächste überregionale Klinik muss.

Lokale Krankenhäuser sollen auch von Pflegern geführt werden können. Die Kliniken werden laut Lauterbach selbst Ärzte beschäftigen, aber auch Betten bereitstellen, die dann mit Patienten niedergelassener Ärzte, etwa Hausärzten, belegt werden. Zudem wird nicht jedes lokale Krankenhaus eine Notfallversorgung anbieten. Der Patient werde so „in Zukunft dem richtigen Angebot zugeführt“, verspricht Karagiannidis. Die Mitarbeiter in den Krankenhäusern sollen künftig ohne ökonomischen Druck arbeiten können. Die empfänden die Arbeit in den Kliniken oft als „Hamsterrad“. Zu viele Einzelinteressen gebe es im Gesundheitswesen. Würden die nicht zurückgefahren, „droht Kollaps noch in 20er Jahren“. Gleichzeitig freut sich Karagiannidis darüber, dass es schwerer werde, mit privaten Kliniken Gewinne zu erzielen.

86 Milliarden Euro haben Krankenhäuser im Jahr 2021 an Kliniken für Behandlungen überwiesen. Das entspricht knapp einem Drittel der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen. 13,1 Prozent seines Bruttoinlandproduktes gibt Deutschland für dieses Gesundheitswesen aus, Tendenz steigend. Nur die USA und die Schweiz kommen auf einen vergleichbar hohen Anteil. Mit der „Revolution des Krankenhauses“ will Lauterbach nun das ökonomische Interesse an diesem Bereich herausgenommen haben.

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Doch zum einen kommt die „Revolution“ nur schrittweise. Fünf Jahre werde es dauern, das System umzustellen, kündigt Irmtraut Gürkan an. Sie ist die stellvertretende Vorsitzende des Charité-Aufsichtsrates und sitzt ebenfalls in der Kommission. Mehr Geld würden die Kliniken künftig nicht erhalten: „Wir werden das Gesamtbudget, das wir heute haben, umverteilen.“ Deshalb werde die Kommission die Prozesse und die Ergebnisse in den Krankenhäusern weiter begleiten, sagt die Krankenhaus-Vertreterin.

Lauterbach hat sich wieder mal in ein Dilemma gedampfplaudert. Einerseits will er als dringend benötigter und radikaler Reformer gelten. Deswegen gibt es durch die Fallpauschalen „gravierende Probleme“ und sie führen zu „billigen Behandlungen und zu einer „Tendenz zur billigen Medizin“. Andererseits will Lauterbach als gemäßigter Minister gelten und deswegen ist das „allermeiste notwendig“, was bisher an Krankenhäusern passiert und es dürfe nicht der Eindruck erweckt werden, es werde skrupellos gearbeitet. Eine Pressekonferenz. Zwei unterschiedliche Darstellungen. Karl Lauterbach halt.

Lauterbach betont auch, Lobbygruppen bewusst aus der Arbeit der Kommission herausgehalten zu haben, in der unter anderem eine Vertreterin der Charité sitzt und an deren Beratungen er teilgenommen hat. Nun müssen die Krankenkassen aber seine Reform bezahlen, obwohl Lauterbach sich damit brüstet, sie aus den Beratungen herausgehalten zu haben – und obwohl er noch eine Reform schuldig ist, die das zweistellige Milliardendefizit der Kassen abbaut. Auch die Länder habe er bewusst rausgehalten, ist Lauterbach stolz. Nur braucht er sie jetzt. Die Kassen zahlen mit den 86 Milliarden Euro den laufenden Betrieb der Kliniken. Für Investitionen in Gebäude oder Technik sind die Länder zuständig. Die kämen dieser Pflicht aber nicht ausreichend nach, sagt Lauterbach.

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Die Reform enthält aber noch einen ganz anderen Stolperstein, den Lauterbach und die Kommission nicht sehen oder nicht benennen – von dem der Minister vermutlich erst in 20 Jahren schon heute gewusst haben wird. Die Fallpauschalen waren ein Anreiz, manche Behandlungen häufiger durchzuführen und andere weniger, sind sich die Experten auf der Pressekonferenz einig. Nur: Welchen Anreiz stellen die Pauschalen zur Daseinsvorsorge? Die Aussage, das ökonomische Denken sei fortan aus dem Krankenhauswesen genommen, mag Lauterbach als „revolutionär“ empfinden – „naiv“ werden andere urteilen.

So wie die Fallpauschalen einen Anreiz setzen, auch überflüssige Behandlungen durchzuführen, so setzt die Daseinsvorsorge einen ökonomischen Anreiz, manche vielleicht doch notwendige Behandlung nicht durchzuführen. Denn wird der Patient frühzeitig nach Hause geschickt, gibt es das gleiche Geld. Zumal Lauterbach einräumt, dass die Personalprobleme künftig nicht besser werden. Sprich: Es werden genauso viele, wenn nicht noch mehr Pfleger als bisher fehlen, um Behandlungen durchzuführen. Zudem lässt die allgemeine Alterung der Gesellschaft die Fallzahlen voraussichtlich steigen. Und Medizin werde durch ihren Fortschritt grundsätzlich teurer, sagt der Gesundheitsökonom Lauterbach. Budgets sollen aber ausdrücklich nicht erhöht werden. Bleibt der Verdacht, dass die Kosten im Gesundheitswesen dadurch ausgeglichen werden, dass weniger Menschen stationär behandelt werden. Aber das wären ökonomische Interessen – und die gibt es laut Revolutionär Lauterbach künftig nicht mehr.

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