Tichys Einblick
Die große Ignoranz

Lauterbach irrt: Depressionen kommen sehr wohl vom Shutdown

Der Lockdown und die soziale Isolation haben schwere psychische Folgen für viele Menschen. Die politische Ignoranz demgegenüber hat nun Karl Lauterbach mit einem unglaublichen Tweet auf die Spitze getrieben. Von den Nöten der Betroffenen hat er keine Ahnung.

picture alliance/dpa

Auf den ersten Blick habe ich mich wirklich über den Tweet von Karl Lauterbach gefreut: „Mit Dauer Covid Krise werden immer mehr Menschen depressiv“. Na danke, genau mein Reden. Endlich beschäftigt sich ein Politiker mal mit diesem Thema, anstatt die schweren psychischen Folgen der Corona-Maßnahmen einfach zu verleugnen. Bevor ich so richtig euphorisch wurde, machte ich allerdings den Fehler, den Tweet weiterzulesen: „Das liegt nicht am Shutdown, sondern an der Bedrohung durch das Virus selbst“.

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Der Polit-Arzt scheint sich nie wirklich mit dem Krankheitsbild einer Depression auseinander gesetzt zu haben und kann wohl auch kein echtes Mitgefühl aufbringen, wenn er das Leid der Menschen so offensichtlich für seine politischen Zwecke missbraucht.

„Die Bedrohung durch das Virus selbst“ ist nach heutigem Kenntnisstand nicht besonders viel größer als die Gefahr, die von einem normalen Grippevirus ausgeht. Politiker wie Lauterbach rennen bei besonders ängstlichen Menschen mit irrationaler Panikmache aber natürlich offene Türen ein. Für sie gibt es nichts Schlimmeres, als das Gefühl von Ohnmacht, Unsicherheit und Hilflosigkeit – Corona, die unsichtbare und tödliche Gefahr, ist also ihr ultimativer Albtraum. Eine junge Frau, mit der ich wegen einer therapeutischen Sprechstunde telefonierte, schilderte mir mit zitternder Stimme sehr ausführlich, wie die Angst vor dem Virus ihr ganzes Leben vereinnahmt. Sie hat seit Wochen kaum noch das Haus verlassen, weil jeder Kontakt mit anderen Menschen zu schweren Panikattacken führte. Aber selbst in der völligen Isolation ließen sie ihre Ängste nicht los – für einen neuen Schub reichte jedes noch so kleine Halskratzen oder Niesen. Nichts beschäftigte sie mehr als die Angst, krank zu werden und damit ihr letztes bisschen Kontrolle zu verlieren.

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Bei meiner telefonischen Sprechstunde hatte ich bisher drei solcher Klienten. Unzählige andere litten ebenfalls unter Corona, aber – entgegen der Aussage von Herrn Lauterbach – nicht an der Angst, krank zu werden, sondern direkt unter den Kontakteinschränkungen. Das völlige Wegbrechen ihres sozialen Netzwerkes löste bei vielen enorme Verlustängste, Stress, Überforderungsgefühle und verstärkte Selbstwertprobleme aus, die sich in verschiedenen depressiven Symptomatiken manifestierten. Ein Mann berichtete mir zum Beispiel, dass er schon seit Jahren mit leichten Zwangsneurosen zu kämpfen hatte, es bislang aber immer geschafft hatte, seine Unsicherheit zu überwinden, wenn er seinen Freunden von den neurotischen Gedanken erzählte. Die Gespräche gaben ihm Halt und stärkten sein Selbstvertrauen. Ohne den persönlichen Kontakt schaffte er es aus eigener Kraft nicht mehr, seine Zwangsgedanken zu begrenzen, und verfiel zunehmend in ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit, Selbsthass und Verzweiflung. Immer wenn er seinen Ängsten nachgab, wurden sie schlimmer und schlimmer.

Ich glaube, dass die Kontaktverbote bei vielen Menschen das Auftreten von alten und neuen Neurosen auslösen, weil sie ihnen das Gefühl von Sicherheit und emotionaler Nähe wegnehmen – ihnen also sozusagen den Boden unter den Füßen wegreißen. So etwas ähnliches beschrieben mir übrigens auch die Leute, die wegen der Berufsverbote plötzlich ihren Job und damit ihre gesamte Existenzgrundlage verloren haben. Dieses offensichtliche Problem wird Herr Lauterbach bei seiner ganzen Arbeit wahrscheinlich kurzzeitig vergessen haben. In diesem Punkt widerspricht der Leitfaden zur Behandlung von psychischen Störungen, den er seinem Tweet angehängt hat, nämlich seiner eigenen Aussage. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie, die das Positionspapier am 26.11.2020 veröffentlicht hat, spricht nämlich explizit von einer „der weltweit größten Gesundheits- und Wirtschaftskrisen des 21. Jahrhunderts“ und nennt als besondere Risikogruppen für das Auftreten psychischer Störungen unter anderem Menschen, die von Arbeitslosigkeit und Existenzsorgen bedroht sind.

Depressionsforscher Ulrich Hegerl
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Davon abgesehen, passt das Papier letztendlich aber doch ganz gut zu seiner politischen Agitation zum Beispiel mit der Forderung, den Begriff „physical distancing“ anstelle von „social distancing“ zu verwenden, „um zu betonen, dass soziale und emotionale Nähe trotz Abstandsregeln möglich sind“. Meines Erachtens ist das nicht nur Wortklauberei, sondern eine ziemlich fachfremde Aussage. Jedem Psychologen sollte klar sein, dass der Mensch ein soziales Wesen ist – er braucht Berührung und körperliche Nähe, um sich wohlzufühlen und um überhaupt etwas zu fühlen. Direkter Kontakt ist durch nichts zu ersetzen.

Ich muss Ihnen deshalb leider widersprechen, lieber Herr Lauterbach: Der Shutdown ist nicht nur einer, sondern der entscheidende Grund für die steigende Zahl von depressiven Erkrankungen. Die Menschen werden depressiv, weil sie all ihre sozialen Kontakte verlieren und damit aktiv in die Einsamkeit und Unsicherheit gestürzt werden. Wer sowieso schon ängstlich ist, verliert unter diesen Bedingungen jeglichen Halt und verfällt in Panik. Das alles verdanken wir einer politischen Agenda.


Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.