Tichys Einblick
Lernwege

Klüger werden: durch Denken oder durch bittere Erfahrung?

Die Volksparteien verlieren an Zustimmung und das Regieren wird – wie bereits in Italien – immer schwieriger. Politische Instabilität in einer Zeit wachsender Anforderungen an gutes und schnelles Regieren ist äußerst problematisch.

© Peter Parks/AFP/Getty Images

Nie, wirklich niemals hätte ich mir vorstellen können, dass ich bei einer politischen Frage völlig mit Annika Klose, der Berliner Juso-Vorsitzenden übereinstimmen würde. Sie warf offenbar bei „Maischberger“ in der Sendung am 21.02.2018 ihrer Partei vor, die grundsätzlichen Fragen gar nicht mehr zu stellen. Ein Zeitungsbericht zitiert sie mit den Worten:

„Wir müssen jetzt klare Kante zeigen, zwei Schritte zurück gehen und überlegen, in welche Richtung wir steuern wollen“.

Ein überaus vernünftiger Vorschlag! Denken.

Das heißt nicht (wie die ebenfalls anwesende Katarina Barley offenbar meinte), sich ins Bett oder ersatzweise in die Sonne zu legen und nichts zu tun. Das Tagesgeschäft muss erledigt werden, aber wenn man sich ein wenig anstrengt, könnte man durchaus ein Zeitfensterchen finden, in dem man einfach mal das Gehirn einschaltet.

Wir sind nämlich an einem Punkt angelangt, an dem es keinen guten Ausweg mehr gibt. Die Volksparteien gehen den Bach herunter und das Regieren wird – wie bereits in Italien – immer schwieriger. Politische Instabilität in einer Zeit wachsender Anforderungen an gutes und schnelles Regieren ist für ein Land wie Deutschland äußerst problematisch.

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Eine Sozialdemokratie, die sich mehr um Sozialleistungsempfänger und Randgruppen als um die arbeitende Bevölkerung kümmert und aus aus ihrer eigentlichen Klientel Spitzensteuersatzzahler macht, muss sich nicht wundern, wenn sie ihre Wähler verliert. Die Euphorie der SPD bezüglich der Zuwanderung entspringt der Verzweiflung über diesen Wählerschwund, sind Migranten doch potentielle Sozialleistungsempfänger und werden eher Wähler der SPD (glaubt sie).

Merkel gab der SPD geschickt den Rest, indem sie die CDU „sozialdemokratisierte“. Damit verschrottete sie die SPD endgültig, machte in zwei Anläufen aus der 40% + x -Partei eine 20% – x-Partei. Man hätte denken können, die SPD hätte es nunmehr kapiert, aber nein: Jetzt, wo reiche Beute an Pöstchen gemacht wurde, nimmt die Partei auch die Gefahr in Kauf, eine 10% – x-Partei zu werden. Es ist doch klar, dass all diejenigen, die nun Posten wittern, auf einmal total begeistert von der vorher kategorisch ausgeschlossenen GroKo sind – angeblich nur aus Verantwortung für den Staat!

Dass dieses im Volk ebenso schlecht ankommt wie die Tatsache, dass rund 460.000 Mitglieder der SPD über das weitere Schicksal des Landes bestimmen, wobei davon nicht einmal alle wahlberechtigt sind (von Hunden reden wir gar nicht), dürfte auf der Hand liegen. Dass die Mitgliederbefragung weder transparent ist noch unabhängig überwacht wird, macht es nicht besser.

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Die CDU fängt langsam an, die drohende Gefahr des Bedeutungsverlustes zu erkennen, zieht aber noch keine Konsequenzen daraus. Sie wüsste wohl auch nicht welche, ist doch völlig offen, wofür sie überhaupt steht. Sie ist eine Art „walking dead“, nur merkt sie es nicht. Sie ist eine PoP, eine Partei ohne Profil, folgend einer starken (?) Führungspersönlichkeit, der gehuldigt wird. Die CDU braucht die Führung, daher weiß man bei ihr nur eines, nämlich dass Merkel Kanzlerin bleiben soll, selbst wenn es sich im Wesentlichen um eine SPD–Regierung handelt.

Oder – wie die FAZ schrieb – die Phrasen „Zukunftsfragen“ und „Zukunftsperspektiven“ würden den Überdruss mit einer Kanzlerin nebst Regierung zum Ausdruck bringen, die für Stillstand stehe. Dies sei der Kanzlerin aber nicht vorzuwerfen, sie habe „vielmehr mit politischen Überzeugungen gebrochen, wenn es ihr machtpolitisch sinnvoll erschien“. Es geht ihr ausschließlich um ihre eigene Macht, nicht um Überzeugungen und auch nicht um das Wohl des Landes. Es sei denn, sie wäre der Überzeugung, dass das Wohl Deutschlands davon abhinge, dass sie Kanzlerin bliebe. „L‘état c‘est moi!“. Es steht der Verdacht im Raum, dass sie genau das denkt!

Dass die „Volksparteien“ schrumpfen, wenn der Wähler nicht weiß, warum er sie wählen sollte, ist eigentlich klar. Das Stichwort ist „Markenkern“, der klar und eindeutig umrissen sein muss. Ein guter Werbebotschafter – wie Merkel für der CDU – mag über das Fehlen des Markenkerns eine Weile hinwegtäuschen, aber dann kommt das böse Erwachen nur später und heftiger. Die Fallhöhe ist fataler.

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Wenn derart gravierende Veränderungen der politischen Landschaft auftreten, dann wäre es schon sinnvoll, den Entwicklungen nicht einfach nur hinterher zu hecheln und sich in blinden Aktionismus zu stürzen, um dadurch die eigene Hilflosigkeit zu verbergen. Die Welt ist in Aufruhr, keines der Probleme der letzten Dekade gelöst – wie will man sie in den Griff bekommen, wenn man keinen Plan, kein Konzept hat? Wenn die Parteienlandschaft zersplittert, sachliche Debatten schlicht nicht mehr stattfinden und Andersdenkende bepöbelt oder mit Gewalt an der Meinungsäußerung gehindert werden?

Wir kommen so nicht weiter, sind in einer Sackgasse. Wir müssen also klüger werden. Dafür gibt es zwei Lernwege:

Der erste heißt Denken. Dafür benutzt man das Gehirn, dazu haben wir es nämlich. Man setzt sich einfach mal in Ruhe hin und denkt eine Runde nach. Hilfreich ist auch ein gutes Glas Wein, aber das hängt von der Tageszeit ab und ist mit Vorsicht zu genießen: Die Ideen sprudeln zwar mit steigendem Alkoholpegel, aber der Kater kann dann in jeder Hinsicht umso größer werden.

Die Methode „Wir denken einfach mal“ ist das, was die Berliner Juso-Vorsitzende vorgeschlagen hat. Sie hat außerdem gesagt, wir müssten mehr über das Grundsätzliche nachdenken, welche Ziele wir denn haben. Das ist ebenfalls ein sehr weiser Vorschlag. Wer das Ziel nicht kennt, kann den richtigen Weg nämlich nicht finden.

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Außerdem sind wir so beschäftigt mit den Problemen des Tagesgeschäfts, dass wir die strukturellen, grundsätzlichen Mängel übersehen. Es ist wie mit dem Autokauf: Ein Teil der Käufer (meist männlich) interessiert sich für die PS, welches Drehmoment der Motor hat und wie die Beschleunigung ist. Ein anderer Teil der Käufer (tendenziell eher weiblich) interessiert sich für Design – Fragen, Farbe und Materialanmutung. Ein schnelles und schönes Auto nützt aber nichts, wenn es konstruktive Mängel hat, z. B. ein Fahrwerk, das einen bei 80 km/h aus der Kurve trägt. Nur – das bedenken wir selten! Unsere Aufmerksamkeit ist gefesselt von dem, was wir gerade sehen, die nötige Ruhe und der Wille, sich mit der dahinterliegenden, auf Anhieb nicht sichtbaren Systematik des Versagens zu beschäftigen, fehlt. Da aber bei der Politik systemische, strukturelle Mängel vorliegen, müssen wir uns die Mühe machen, uns darum zu kümmern.

Es gibt eine Menge Probleme, auf die man recht mühelos kommt. Beispielsweise ist es erkennbar keine gute Idee, dass ein Kanzler ad infinitum weiter machen kann. Es ist keine gute Idee, dass der Staat zur Beute der Parteien verkommen ist, die Herrschaft der Parteien hat sich als nicht zielführend erwiesen. Es ist ebenfalls keine gute Idee, dass die politisch Verantwortlichen für nichts haften müssen, daher auch nichts wirklich gut hinbekommen.

Aus dieser Problemanalyse kann man Lösungen erarbeiten.

Einige Leser schrieben zu meinem letzten Beitrag, dass es nicht reichen würde, wenn Merkel weg wäre. Das ist völlig zutreffend, das „Abdanken“ von Merkel ist zwar ein notwendiger, aber kein hinreichender Schritt zur Besserung. Hier sieht man, das mit – und weitergedacht wird.

Dann gibt es die Sorte Probleme, da muss man schon mal etwas tiefer nachdenken, z. B. die Frage, welche Fähigkeiten und Kompetenzen man eigentlich haben muss, um ausreichend qualifiziert für die Dienstleistung „Regieren“ zu sein. Oder: Welche Folgen kann es haben, wenn eine EU, die zunehmend in ihrer heutigen Form Akzeptanzprobleme hat, den Weg des „Mehr vom Selben“ geht.

Zum Schluss kommt noch die Sorte von Problemen, auf die man einfach nicht kommt. Aber es wäre schon mal ein riesiger Schritt in die richtige Richtung, wenn man wenigstens rechtzeitig auf die naheliegenden Probleme käme.

Anschließend stellt sich natürlich die Frage, wie man mit den Problemen umgeht. Gerne verdrängen oder marginalisieren wir sie, wenn sie dem gewünschten Ziel entgegen stehen. Der Brexit ist ein praktisches Beispiel: Die Zukunft wird von den Brexiteers in den schönsten Farben gemalt, die Probleme werden verharmlost.

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Dieser Umgang mit Problemen ist jedoch tödlich, denn gerade dann, wenn mir die Umsetzung eines Ziels wichtig ist, muss ich die möglichen Hindernisse umso sorgfältiger unter die Lupe nehmen, um sie effizient überwinden zu können. Die Methode „Wird schon alles gut gehen“ funktioniert nicht. Wir alle kennen Murphys Law, dass alles, was schief gehen kann, auch schief gehen wird. Man muss genau darauf vorbereitet sein, dann – aber auch nur dann – hat man eine Chance, sein Ziel zu erreichen. So wie Flugzeuge gebaut werden: Es werden Fehlfunktionen und Ausfälle einkalkuliert und Vorkehrungen für den Fall der Fälle getroffen.

Es wäre also klug, endlich einmal mit dem Denken anzufangen. Hätten wir vielleicht schon früher machen sollen. Oder spätestens nach der Wahl. Oder jetzt.

Es gibt aber noch den zweiten Weg, wie man klug werden kann. Man nennt es Erfahrung. Ein Problem wurde nicht bedacht oder ignoriert, bis es dann irgendwann über einem zusammen bricht. Dann hat man gelernt, dass es so nicht geht und ist klüger geworden. Vielleicht aber auch nicht. Man kann das Scheitern nämlich auch darauf schieben, dass es ein objektiv unlösbares Problem war oder die Umstände ungünstig, oder schwarze Katzen von links nach rechts liefen – was auch immer. Hauptsache, man ist selbst nicht verantwortlich.

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Das ist im ersten Moment sehr erleichternd, man fühlt sich sofort besser, daher neigen wir alle dazu. Denkt man aber einen Moment darüber in Ruhe nach, dann fällt auf, wie klein und ohnmächtig man sich selbst dadurch macht. Und wie bedeutungslos. Wer selbst etwas bewirken kann, etwas ändern, gibt seinem Leben einen Sinn, es hat Bedeutung. Natürlich kann niemand von uns die ganze Welt verändern, aber jeder kann seine eigene Welt verändern. Nur dieses Gefühl „Ich zähle“ gibt dem Leben überhaupt Perspektive.

Dass, was uns allen am nächsten liegt, führt uns also auf Abwege. Es ist wie eine Sucht, wie Alkohol oder eine sonstige Droge, die es uns schnell gut gehen lässt. Dies führt nicht nur leicht zur Abhängigkeit, man braucht auch immer mehr davon, um den gewünschten Effekt zu erzielen.

Da offenbar viele nicht durch Denken klug werden, hilft nur der bittere Weg über die Erfahrung. Lehrer nennen so etwas „Lernchancen“ und die sollte man doch niemandem vorenthalten.

Der Journalist Henryk M. Broder bat neulich seine Leser in aller Demut um Vergebung. Am 6. September 2018 hatte er einen Artikel in der „Welt“ veröffentlicht, wonach er sich eine absolute Mehrheit für Angela Merkel wünschte. Für diesen Übermut entschuldigte er sich nun. Das fand ich eigentlich unnotwendig, denn sein Vorschlag zielte auf genau das: Eine umfassende Lernchance für Deutschland.

Wie wollen wir klüger werden, durch Denken oder durch bittere Erfahrung?