Tichys Einblick
Kinder, Kitas und Klassen - Teil 2

Ideologie, Lehrermangel, Chancenungerechtigkeit – das Schulsystem ist am Ende

Veraltete Technik, Benachteiligungen für Kinder aus Unter- und Mittelschicht und die zerstörte Hoffnung auf ein besseres Leben: Das gesamte Schulsystem kann nur noch als marode bezeichnet werden. Bleiben als Lösungen nur noch die Flucht aufs Land oder die Emigration?

IMAGO / Michael Weber
Die Pfeiler unseres Bildungssystems erzittern, und junge Köpfe stehen auf der Kippe zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Lehrerengpässe und Ressourcenmangel sind die Brandherde in unseren Klassenzimmern.
Schulbank statt Karussell – Bildung auf der Kippe

In Teil 1 ging es um die Missstände bei der Betreuung von Kindern in den Kitas. Der wirkliche Hindernisparcours steht den Eltern von diesen Kindern jedoch noch bevor: das Schulsystem. Ich kenne kaum ein Elternteil, das nicht schon bei dem Gedanken daran ein ungutes Gefühl beschleicht.

Gleichzeitig erinnere ich mich an die Zeiten, als wir noch Kinder waren, und wie sehr sich unsere Eltern für und mit uns freuten und stolz auf uns waren, als die Schulzeit begann. Diese Tage sind vorbei. Selbst jene, die bereit sind zu zahlen, sogar sich zu verschulden, um ihr Kind auf eine private Schule zu schicken, verspüren unterschwellig Angst und Misstrauen – und das nicht ohne Grund. Denn das heutige private Schulwesen gleicht allzu oft dem öffentlichen von damals.

Schon früher waren die Schwächen des Schulsystems offensichtlich, aber man ignorierte sie damals schon. Doch gab es damals keine Fälle von Kindern, die ihre Lehrer verprügeln oder andere Kinder sexuell missbrauchen. Es mag dem Medienzeitalter geschuldet sein, dass man von solchen bizarren Taten nun öfter hört, aber sie erschrecken dennoch immer wieder aufs Neue und lassen Eltern daran zweifeln, ob Schulen überhaupt noch ein Ort sind, an den man seine Kinder in Ruhe schicken kann.

Auch früher gab es Probleme und war das Schulsystem überarbeitungsbedürftig. Aber hauptsächlich, weil die Schule mehr Gelder gebraucht hätten für Modernisierungen der Gebäude und mehr Fachkräfte für Integrationsklassen. Damals stand auch eine generelle Infragestellung des veralteten Stoffes, der in den Schulen behandelt wurde, im Raum. Heutzutage sehnt man sich jedoch nach einem soliden Lehrplan, der frei von ideologischer Überfrachtung ist – ganz gleich, wie veraltet er auch sein mag.

Inmitten dieser Bildungsmisere spiegelt sich eine ähnliche Problematik wie in den Kitas wider, was den Fachkräftemangel betrifft, allerdings mit noch gravierenderen Auswirkungen: Der akute Lehrermangel in Deutschland ist allgegenwärtig und wirft einen alarmierenden Schatten auf das Bildungssystem. Die Bandbreite der Zahlen, die in einem ZDF-Artikel beleuchtet wird, verdeutlicht die Dringlichkeit dieses Problems – sind es 12.000 oder sogar 40.000 fehlende Lehrer? Die Kultusministerien melden Lücken von über 12.000 Lehrkräften, doch der Lehrerverband spricht von einer Dunkelziffer, die doppelt so hoch ist. Der bezeichnende Titel „Schulen in Deutschland: Fehlende Lehrer: 12.000 oder 40.000?“ (ZDF, 25.01.2023) spricht für sich.

Und als wäre der Lehrermangel nicht genug, drängt sich ein weiteres Problem in den Vordergrund: Die ungleiche Bildungschancen für Schüler aus verschiedenen sozialen Schichten. Während einige Kinder von frühester Kindheit an private Nachhilfestunden und teure Lernmaterialien erhalten, müssen andere mit veralteten Büchern und überforderten Lehrkräften zurechtkommen. Hier zeigt sich eine Ungerechtigkeit, die das Versprechen einer gleichberechtigten Bildung ad absurdum führt. Die Probleme von damals haben bislang exponentiell zugenommen und kumulieren sich jetzt mit den „neuen“.

Klassenzimmer platzen förmlich aus allen Nähten, während Lehrer verzweifelt versuchen, dem Ansturm von Schülern gerecht zu werden. Ganze Fächer werden aus dem Lehrplan gestrichen, da es schlicht nicht ausreichend qualifizierte Lehrkräfte gibt. Der vermittelte Unterrichtsstoff ist noch immer veraltet und wenig relevant für die heutige Welt. Doch hier offenbart sich eine weitere eklatante Diskrepanz: Die Schüler sind von der fortschreitenden Digitalisierung, die längst den Grundpfeiler unserer modernen Welt bildet, meilenweit entfernt – ein Umstand, der Deutschland in dieser Hinsicht wie ein brachliegendes Land erscheinen lässt. Die Digitalisierung, die in vielen Bereichen als Fortschritt gefeiert wird, steckt im Bildungsbereich oft noch in den Kinderschuhen.

Veraltete Technik und mangelnder Zugang zu digitalen Lehrmitteln setzen Kinder aus benachteiligten Familien weiter ins Hintertreffen. Die Kluft zwischen digitalen Vorreitern und Bildungsbenachteiligten vertieft sich unaufhörlich. Die sinnlosen Maßnahmen während der Pandemie haben die ohnehin angespannte Situation nochmals verschärft. Lockdowns und Schulschließungen haben die Bildungsungleichheit verschlimmert. Nicht alle Schüler verfügen über die nötigen Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen von Zuhause. Die Klassenarbeiten wurden digital abgehalten, doch längst nicht alle Familien konnten sich die erforderliche Technik leisten. Die Pandemie hat die Bildungsspaltung sichtbar gemacht und diejenigen, die ohnehin schon benachteiligt waren, weiter ins Abseits gedrängt.

Hinzu kommt, dass immer mehr Kinder aus Migrantenfamilien dazukommen, die nicht nur die deutsche Sprache erlernen, sondern oft auch zu allererst grundlegende soziale Fähigkeiten entwickeln müssen. Kinder aus Familien, die man „bildungsfern“ nennt. Interessanterweise hat sich auch der Begriff „bildungsfern“ im Laufe der Zeit gewandelt. Einstmals bezog er sich hauptsächlich auf Kinder aus der Arbeiterschicht, deren Eltern keinen akademischen Werdegang hatten. Doch heute umfasst er auch diejenigen, deren Eltern weder einer Beschäftigung nachgehen noch das Lesen und Schreiben beherrschen. Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind in den Schulen allgegenwärtig. Lehrer kämpfen täglich damit, ihren eigentlichen Bildungsauftrag zu erfüllen, während ein normaler Unterricht auf der Strecke bleibt. Sie finden sich oft in einer Überforderungsspirale wieder, die sie letztlich ausbrennt. Inmitten all dem bleibt die Individualität der Schüler auf der Strecke – es fehlt schlichtweg Zeit, um sich adäquat um jedes einzelne Kind zu kümmern.

Das Resultat dieses desolaten Zustandes ist deutlich sichtbar: Frustration breitet sich unter den Lehrern aus, während die Schüler zunehmend überfordert sind. Wenn diese jungen Menschen eines Tages die Bühne der Arbeitswelt betreten und erkennen müssen, dass ihre Ausbildung nicht ausreicht, um den Anforderungen standzuhalten, und sie schließlich den Job an den Nagel hängen – und das geschieht heutzutage besonders häufig im Bildungs- und Gesundheitswesen –, dann wird klar, dass dieses Land das Potenzial von Menschen und seine Zukunft verspielt hat.

Angesichts dieser Tatsachen drängt sich die Frage auf, ob der Staat die Schulpflicht überhaupt noch rechtlich legitimieren kann – eine Angelegenheit, der nachgegangen werden sollte.

Die unerfüllten Versprechen: Generation Z im Abseits

Während der Glanz vergangener Tage langsam verblasst, rücken junge Familien ins Zentrum des Geschehens. Veränderte Vorstellungen von Wohlstand und die Suche nach besseren Perspektiven in anderen Ländern gewinnen an Gewicht. Laut einem ZDF-Artikel vom 30. Juni 2023 verlassen Hunderttausende Fachkräfte Deutschland. Besonders auffällig ist der hohe Anteil von 25- bis 39-Jährigen unter den Auswandernden, der mit 63 Prozent über dem Durchschnitt in der Gesamtbevölkerung liegt. Die bevorzugten Ziele sind die Schweiz und Österreich, aufgrund geringer Sprachbarrieren und kultureller Unterschiede. Dieser Trend zeigt sich auch in den deutschen Bundesländern, wobei Bayern und Baden-Württemberg aufgrund ihrer Nähe zu diesen Ländern besonders betroffen sind.

Es wirkt auf Außenstehende, also Menschen in anderen Ländern, die auf Deutschland blicken, vermutlich negativ. Aber die Wahrheit ist, dass vieles in diesem Land so schief läuft, dass man als junger Erwachsener nicht selten mit dem Gedanken konfrontiert ist, ob es woanders für die eigene Zukunft und die des eigenen Kindes vielleicht doch besser sein könnte. Und ja, vermutlich gibt es viele Orte, an denen es besser sein könnte. Nur wo?

Als Tochter von Einwanderern wird es für mich immer leichter zu verstehen, warum junge Menschen ihre Heimat verlassen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Fast fühle ich mich in der Schuld, es meinen Eltern gleich zu tun und dasselbe für meine eigene Familie zu tun. Doch gleichzeitig spüre ich auch die gewaltige Herausforderung, die es bedeuten würde, meine Heimat zu verlassen. Auch für meine Eltern war es keineswegs leicht, ihre Heimat zu verlassen. Aber sie kamen von vornherein als registrierte Arbeiter hierher, waren somit direkt im System eingebunden, das Wohlstand versprach. Wohlstand, den sich viele Migranten auch erarbeiten konnten.

Jedoch ist Migration ein äußerst komplexes Thema, das nicht einfach durch materiellen Wohlstand aufgewogen werden kann. Die Entscheidung, die eigene Heimat zu verlassen, reicht weit über wirtschaftliche Überlegungen hinaus. Heute sind wir klüger und wissen mehr über unsere Eltern. Wir wissen, dass die Vorstellung, Migration könne lediglich auf ökonomische Aspekte reduziert werden, eine herbe Verkürzung der Realität ist, an der jedoch trotz der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte viele Migranten und Flüchtlinge hier in Deutschland hart zerschellen und immer noch mehr ins Land gelassen werden, als wir aufnehmen können.

Es geht hier nicht bloß um den Austausch eines Ort gegen einen anderen, um einem besseren Gehalt oder einem scheinbar reicheren Leben nachzujagen. Nein, Migration ist auch ein Akt des Mutes, ein riskanter Sprung ins Unbekannte, der auf vielen Ebenen das Leben formt und prägt. Es ist ein zermürbender Tanz zwischen der Sehnsucht nach neuen Möglichkeiten und dem Schmerz des Verlassens. Die Bindungen an Heimat, Kultur und vertraute Gesichter werden zerrissen und durch die Herausforderung des Anpassens in einer fremden Umgebung ersetzt. Die Sprache, die Bräuche, die sozialen Normen – all das muss neu erlernt und navigiert werden, während man gleichzeitig versucht, sich in einem oft ungewissen ökonomischen Umfeld zurechtzufinden.

Es ist ein ständiger Balanceakt zwischen dem Streben nach einem besseren Leben und dem Erhalt von Identität und Zugehörigkeit. Denn letztendlich geht es darum, die gewohnten Pfade zu verlassen und sich auf eine Reise des Wandels einzulassen, die nicht nur materielle Verbesserung verspricht, sondern auch eine tiefgreifende Neugestaltung des eigenen Lebens und der eigenen Geschichte, und vielleicht auch große Enttäuschungen mit sich bringt.

Doch in Deutschland hat man diese Tiefe der Thematik auf das Etikett „Refugee Welcome“ reduziert und zeigte damals wie heute die kurzsichtige Sichtweise. Hier zeigt sich erneut die Unfähigkeit der Regierung, die wahre Menschlichkeit und Vielfalt zu verstehen. Statt die Komplexität der Migration zu erkennen, wird sie auf oberflächliche Weise abgehandelt und das unerschütterliche Streben nach einem besseren Leben unterschätzt. Die wahre Bedeutung und Herausforderung der Migration werden durch solch verkürzte Sichtweisen entwertet und verfälscht. So wie der Blick auf den Menschen selbst.

Solche persönlichen Probleme gab es auch damals schon unter Migranten, nur gab es auch den versprochenen Wohlstand für die geleistete Arbeit. Das war der Deal. Der Staat machte keine leeren Versprechungen. Im Gegenteil.

Einst war es so, dass zahlreiche Migranten sich langsam, aber stetig eine Basis aufbauten. Noch heute erinnere ich mich an den Duft und den Geschmack jener goldenen Jahre in Deutschland. Es waren Zeiten der unbeschwerten Herrlichkeit. Ich empfinde Dankbarkeit dafür, dass ich erleben durfte, was Wohlstand und Wohlergehen bedeuten.

Selbst als Arbeiterfamilie, die weniger hatte als die deutschen Nachbarn, die bereits emsig in ihren Eigenheimen werkelten, gehörte es dennoch zum Standard der migrantischen Arbeiter, dass vor der Haustür mindestens ein Auto stand. Der Führerschein der Kinder wurde kurz vor dem 18. Geburtstag erworben und bezahlt, sodass an ihrem 18. Geburtstag bereits ein bescheidener Gebrauchtwagen vor der Tür stand. Der Kühlschrank war stets gut gefüllt, und Heizen sowie Duschen geschahen nach Belieben. Urlaub wurde während der sechswöchigen Ferien gemacht. All das meist mit mindestens zwei oder sogar mehr Kindern. Heutzutage ist dies undenkbar, sei es das Auto, der Urlaub oder gar der Gedanke an ein eigenes Haus.

Für die Dinge, die damals als normal galten, müssen heute nicht nur Eltern, sondern muss ein Großteil der Gesellschaft tief in die Tasche greifen und ist nur noch mit großen Entbehrungen verbunden und für viele gar nicht mehr tragbar. Und dies ist gewollt. Denn genau für all das, was einst den Wohlstand ausmachte, gibt es inzwischen nicht nur moralische Beschränkungen, sondern auch massive Preiserhöhungen. Angefangen beim Fleischkonsum über Strom und Gas bis hin zum Autofahren oder Flug in den Urlaub. Die Liste ist gefühlt endlos, und über allem schwebt die Bevormundung durch den Staat.

Und das ist bitter.
 Inmitten dieses Szenarios offenbart sich ein komplettes System, das von innen und außen marode ist. Der Begriff „Modernisierung“ erscheint im Kontext dieses Systems lediglich als leere Worthülse – eine beinahe lächerliche Umschreibung für Einrichtungen und Standorte, die bestenfalls abgerissen werden, um Platz für bezahlbare Wohnungen zu schaffen. Doch selbst dieser Platzmangel spiegelt die heutige Situation wider. Deutschland scheint Meister im Errichten geistiger Brandmauern und Luftschlösser zu sein, während grundlegende Angelegenheiten ins Wanken und aus den Fugen geraten. Wie tief kann ein Staat noch in essenziellen Belangen versagen? Solange Hohlräume genügen, scheint es für unsere Volksvertreter bestens zu laufen. Aber wie läuft es für uns?

Nun ergießt sich herbstlicher Regen seit etlichen Tagen über jenen August, der sonst immer hitzegeplagt war. Aus den einstigen Hitzewellen sind unverhofft Hagelschauer geworden, begleitet von Temperaturen unter 20 Grad. Der einfache Bürger sträubt sich dagegen, im August die Heizung hochzufahren. Doch womöglich ist es viel eher jene Furcht vor der Strom- und Gasrechnung, die im Gegensatz zu all den Versprechungen, die in Aussicht gestellt wurden, mit Sicherheit kommen wird.
Wer vermag unter solchen Umständen zu sagen, ob aus den hitzegeplagten Schutzplänen eines Tages nicht doch noch Pläne für eine gänzlich neue Regierung hervorgehen werden?

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