Tichys Einblick
Rekord bei Kirchenaustritten

Kirche ohne Volk

Eine halbe Millionen Katholiken sind 2022 aus der Kirche ausgetreten. Die Verantwortung dafür liegt nicht nur bei Woelkis Dauerskandalen oder dem irrlichternden „Synodalen Weg“. Dem Klerus droht der Abstieg zum bedeutungslosen NGO-Anhängsel.

Der Limburger Bischof Georg Bätzing

IMAGO / eu-images
Ein „Synodaler Weg“, der mehr wegen obskurer Spektakel, denn vermeintlicher „Reformen“ im Vordergrund steht; ein Kölner Erzbischof, dessen Häuser wegen Meineids von der Staatsanwaltschaft durchsucht werden; eine Kirche, die in Corona-Zeiten ihre Pforten geschlossen hält, während sie mehr denn je zur Seelsorge aufgerufen wäre. Das sind die Bilder der vergangenen drei Jahre, die die Köpfe der deutschen Katholiken dominieren, und es sind diese Jahre, in denen die Austrittszahlen aus der Katholischen Kirche so stark zeigen wie noch nie.

Denn die Bischöfe und Laienvertreter um Bischof Georg Bätzing mögen noch so häufig versuchen, ihren „Synodalen Weg“ zu erklären – in einem Jargon, der dem der Bundesregierung nicht unähnlich ist –, und Kardinal Reiner Maria Woelki mag noch so sehr bemüht sein, mit einer „Anzeige gegen Unbekannt“ den Eindruck zu erwecken, ihm würde großes Unrecht widerfahren: Beim Kirchenvolk bleiben die großen Linien, nicht die Details hängen.

Und die großen Linien des katholischen Klerus in Deutschland sehen so aus, dass man sich vor allem als eine NGO verhält, die vor dem Staat buckelt, tradierte katholische Inhalte zugunsten zeitgeistiger Anbiederungen ablegt, den Missbrauch vertuscht, miteinander im Machtkampf liegt, gegen Rom agitiert und dann, wenn man die Kirche mal bräuchte, schlicht nicht verfügbar ist. Die Details durchblicken die Gläubigen nicht mehr. Womöglich wären die Austrittszahlen noch größer, wären diese besser informiert.

522.821 Austritte vermeldet die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) für das Jahr 2022. Ein Rekord – der sogar noch das Rekordjahr 2021 mit 359.338 Austritten übertrifft. Nicht einberechnet sind darin andere Faktoren, die die gesellschaftliche Bedeutung der Katholischen Kirche in Deutschland weiterschrumpfen lässt – etwa die Zahl der Verstorbenen. Insgesamt hat die Una Sancta im letzten Jahr mehr als 700.000 Mitglieder verloren. Eine Stadt in der Größe von Frankfurt am Main.

Bätzing, Vorsitzender der BDK, nennt die Zahlen „alarmierend“. Das kann als Untertreibung gelten. Wenn ein Konzern eine halbe Million Kunden in einem Jahr verliert, wird mehr in der Chefetage getan, als wenn eine halbe Million Katholiken die Kirche verlassen. In den vergangenen Jahren hatten die Bischöfe ihr Heil im „Synodalen Weg“ gesucht, mit Aufhebung des Zölibats, Segnungen für Homosexuelle und Frauenordinariat. Der Prozess hat aber keine Kehrtwende eingeleitet, sondern vielmehr die Spaltung innerhalb der Kirche vergrößert und vertieft.

Nicht nur lehramtstreue Katholiken haben mittlerweile den Eindruck, auf dem Rücken der Missbrauchsopfer würden politische Prozesse beschleunigt werden, um die Kirche salonfähiger zu machen. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) als führendes Laien-Gremium, das den Prozess maßgeblich vorangetrieben hat, besteht zu einem großen Teil aus Funktionären.

Verbandschef und Landespolitiker prägen das Bild einer NGO, die behauptet, das katholische Volk zu vertreten, in Wirklichkeit aber den Eindruck einer von allen Problemen enthobenen politischen Führung macht. Die Übereinstimmungen der Außenwahrnehmung von Politik und Kirche sind frappierend – inklusive der Predigten, die in einigen Diözesen größere Ähnlichkeiten mit Meldungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks haben, denn mit der Verkündigung der Botschaft Christi.

Corona wäre – übrigens nicht nur in Deutschland – eine Chance für die Kirche gewesen, doch trottete sie letztlich nur dem Staat nach. Weihwasser wurde unhygienisch, die Kommunion ein Drahtseilakt sanitärer Maßnahmen. Nicht, dass es in der Vergangenheit Beispiele gab, wie man mit Seuchen umgegangen wäre, ohne zugleich andere in Gefahr zu bringen. Der Heilige Carlo Borromeo, Erzbischof von Mailand, zelebrierte etwa die Messe während der Pest auf dem Domplatz, die Gläubigen konnten von Balkonen, Fenstern, Tribünen und Dächern zuschauen. Missionare und Seelsorger riskierten ihr Leben, um Leprakranken beizustehen oder Pestkranken die Krankensalbung zu spenden.

Der zeitgenössischen Kirche fiel nur die einsame Messe vor dem Bildschirm ein. Den Ungeimpften, die de facto als neue Aussätzige behandelt wurden, sprang sie nicht bei. Dazu bedurfte es eines deutschen Kardinals aus Rom. Als Kardinal Gerhard Müller darauf hinwies, dass es weitergehende Interessen hinter der Krise gebe und die Impfung eine persönliche Sache sei, zog er sich den Hass der Medien wie der Kirche hierzulande zu und wurde kurzerhand zum Verschwörungstheoretiker erklärt. Abweichungen durfte es keine geben, gleich auf welcher Ebene.

Wie sieht nun die Konsequenz aus, die die DBK zieht? Bätzing kündigt an, dass die Beschlüsse des „Synodalen Wegs“ nun umgesetzt werden müssten. Und die Präsidentin des ZdK, Irme Stetter-Karp, nannte die Zahlen „traurig, aber wenig überraschend“. Die Kirche habe wegen des Missbrauchsskandals Vertrauen verspielt. Doch das ist eben nur ein Teil der Wahrheit – denn dann wären die Austrittszahlen zwar hoch, aber nicht galoppierend. Die Tagesschau formuliert gar den Eindruck, die Austritte hingen mit dem Missbrauchsgutachten von 2022 zusammen, das Benedikt belastete.

Zwischen 2013 und 2018 lagen die Zahlen zwischen 160.000 und 210.000 Austritten pro Jahr. 2020, im ersten Corona-Jahr, betrugen sie 221.000. Danach folgte ein rapider Anstieg. Es ist demnach definitiv ein Trend zu beobachten, der sich losgelöst vom Missbrauchsgeschehen beschleunigt hat. Ob nun wegen Corona, Woelki oder „Synodalem Weg“. Daraus die Konsequenz zu ziehen, dass möglicherweise die DBK und auch das ZdK in den letzten drei Jahren etwas falsch gemacht haben, beantworten die Verantwortlichen mit: nur mehr davon. Auch hier sind die Parallelen zur Politik der Bundesregierung auffällig.

Auch die einzelnen Bistumszahlen zeigen, dass die Austritte mit einem allgemeinen Trend zusammenhängen. Gibt es einen „Woelki-Effekt“, dann ist er in der ganzen Republik fassbar. Im Erzbistum Köln traten 51.345 Katholiken aus der Kirche aus, in München-Freising, dem Sitz von Kardinal Reinhard Marx waren es 49.029. Legt man allerdings zugrunde, dass Köln mehr Gläubige als München hat, dann kehrt sich die Statistik um: Prozentual hat München dann mehr Austritte als Köln. Doch warum zieht daraus niemand den Schluss, der Eintritt für den „Synodalen Weg“ vonseiten Marx hätte der Kirche genauso geschadet wie Woelkis Dauerskandale?

Die Hoffnung, dass diese Rekordzahlen zum Aufarbeiten führen, sind gering. Zu sehr ist die Kirche zerstritten, zu sehr wird jede Zahl, jeder Skandal, jeder Auftritt kirchenpolitisch bewertet. Die Spaltung hat dazu geführt, dass die „Lager“ die Verantwortung an die jeweils andere Seite delegieren. Dass hinter Woelki der Unmut immer lauter wird, ist ebenso eine Facette, wie der Umstand, dass die Bischöfe den „Synodalen Weg“ nicht mehr weiterfinanzieren wollen. Die Katholische Kirche in Deutschland sitzt auf einer ganzen Reihe von Pulverfässern, an die nur die richtige Lunte angelegt werden muss.

Für die derzeitige Situation trägt auch Rom seinen Teil der Verantwortung. Papst Franziskus dürfte sich mittlerweile selbst eingestehen, dass eine Absetzung Woelkis überfällig gewesen wäre. Zugleich hat er den „Synodalen Weg“ viel zu lange gewähren lassen. Die Haltung zu Corona war letztendlich aus dem Vatikan immer wieder vorgegeben. In Deutschland führen diese drei spezifischen Missstände zu einem Zustand, den man nur noch als teuflisches Chaos bezeichnen kann.

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