Tichys Einblick

In diesem Text macht sich ein Boomer über junge progressive Menschen lustig

Der Fall des Fridays-For-Future-Aktivisten Tom Radtke in Hamburg kommt nicht überraschend. Wer Infantilität zum politischen Ideal macht, fördert einen neuen Politikertypen

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Am Anfang der Fridays-For-Future-Kampagne stand ein damals 15-jähriges schwedisches Mädchen mit Zöpfen und einem handgemalten Plakat. Das Ende der Bewegung zumindest in ihrem Kerngebiet Deutschland könnte ein 18-jähriger Hamburger markieren, der ein wenig an die Figur Alfred E. Neuman des Comic-Hefts M.A.D erinnert: Tom Radtke, Listenkandidat der Linkspartei für die Hamburger Bürgerschaftswahl auf Platz 20, und plötzlich sehr, sehr prominent.
Und das mit einem einzigen Tweet. Am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, machte sich Radtke durch die Kurzmitteilung bundesweit berühmt:

„Heute vor 75 Jahren wurde Auschwitz befreit. Der Holocaust war eines der größten Verbrechen im 2. Weltkrieg. Die Nazis gehören auch zu den größten Klimasünder*innen, da ihr Vernichtungskrieg und ihre Panzer riesige Mengen an CO2 produziert haben. Viele Politiker sagen, dass sich das nicht wiederholen darf. Aber was tun sie gegen den Klima-Holocaust, der in diesem Moment Millionen Menschen und Tiere tötet? Greta Thunberg hat in Davos richtig gesagt, dass sich seit Beginn der Klimaproteste nicht genug getan hätte. Wir müssen die Klimaerwärmung jetzt stoppen, damit sich ein Holocaust nicht wiederholt.“

Auf dieses direkte Verknüpfung zwischen Judenmord und dem Verbrauch fossiler Energie war bis dahin noch niemand gekommen. Auch nicht darauf, den von FFF angekündigten millionenfachen Tod von Mensch und Tier schon einmal vorsorglich als zweiten Holocaust zu bezeichnen. Und was die Weltkriegspanzer betrifft, die in der Tat nicht nur Munition, sondern auch CO2 ausgestoßen hatten: Nach dieser Logik tragen auch die Kriegsgegner Hitlers einen erheblichen Teil der CO2-Schuld; hätten sie einfach kapituliert, wären die kriegsbedingten Kohlendioxid-Emissionen sehr viel geringer gewesen.

Die deutschen FFF-Aktivisten sperrten Radtke nach dem Tweet den Zugang zu der bewegungseigenen Kommunikationsplattform und distanzierten sich von ihm. Seine Partei forderte ihn auf, den Listenplatz zurückzugeben, und kündigte ein Parteiausschlussverfahren an.

Dann folgte Teil zwei der Geschichte: Radtke bestand darauf, nichts falsch gemacht zu haben, er weigert sich folglich bis jetzt, seinen Kandidatenplatz zu räumen. Dass er nicht versteht, was an seiner Öffentlichkeitsarbeit verkehrt sein sollte, lässt sich leicht erklären – und zwar nicht nur aus dem Geist von FFF, sondern dem mittlerweile zeitgemäßen politischen Kommunikationsstil überhaupt.
Zum einen gilt es heute als etabliertes Prinzip, zu prüfen, welches Thema an einem bestimmten Tag gerade in den Nachrichten und vor allem in den sozialen Medien vorherrscht, oder, wie es heute heißt, trendet, um dann mit seiner eigenen Botschaft aufzuspringen, egal, ob die gerade zu dem Thementrend passt oder nicht.

Das hielt beispielsweise Grünen-Chefin Annalena Baerbock so, als die im Juni 2019 vor der Bundespressekonferenz auf das mediale Tagesthema – neuesten Zitteranfall von Angela Merkel – ihre grüne Klimasommer-Botschaft pfropfte:

“Auch bei der Bundeskanzlerin wird deutlich, dass dieser Klimasommer gesundheitliche Auswirkungen hat.”

Immerhin entschuldigte sich Baerbock später dafür.

Karl Lauterbach von der SPD fiel dadurch auf, dass er im Dezember 2018 auf Twitter einen durch einen Vulkanausbruch ausgelösten Tsunami in Indonesien mit dem Klimawandel und der Schuld des Westens verknüpfte.

Luisa Neubauer benutzte die Berichterstattungswelle über die australischen Buschbrände Anfang 2020, um Siemens anzugreifen, weil das Unternehmen eine Sicherheitsanlage für eine Zugstrecke nach Australien liefert, über die ein indisches Unternehmen Kohle transportieren will. Buschfeuer, Klimaerwärmung, künftiger Kohleabbau, eine Gleissignalanlage, die auch jemand anderes liefern würde – ihre Assoziationskette war willkürlich aufgefädelt. Es ging darum, für sich etwas aus dem Trendthema Australien herauszuholen. Aber das reichte schon für tagelange Neubauer- Nachrichten.

Tom Radtke folgte nicht nur diesem Monty-Python-Muster – and now for something completely different – sondern auch ziemlich genau der FFF-Medienstrategie der maximalen Apokalyptik, in der grundsätzlich nichts zu übertrieben ist. „Ich will, dass ihr in Panik geratet“ – in Greta Thunbergs zentrale Strategie fügt sich ein Klima-Holocaust problemlos ein.
So etwas Ähnliches hatte schon der Extinction-Rebellion-Gründer Roger Hallam versucht. Er merkte dann allerdings, dass diese Assoziation in Deutschland nicht besonders gut ankam.

Aber anders als Hallam nimmt Radtke ein weiteres FFF-Prinzip für sich in Anspruch: inszenierte Infantilität. Ich bin jung, ich meine es gut, deshalb darfst du mich nicht kritisieren, Boomer – diese Selbstimmunisierungsstrategie von FFF funktionierte bislang gegenüber sehr vielen Medien tadellos.

Nur eben nicht beim Thema Holocaust, selbst, wenn Radtke „Klimasünder*innen” korrekt gendert. Der junge Mann praktizierte also eigentlich alles genau so wie die großen der Fridays-Szene, er rutschte nur auf die falsche Tonspur. Das versteht er allerdings nicht.

„Es ist nicht falsch, Bewusstsein für die Klimakrise zu schaffen“, verteidigte sich Radtke in der Welt: „Auch mit drastischen Begriffen und Aktionen, die Leute wachrütteln.“ Denn: „Auschwitz können wir nicht rückgängig machen. Aber den Klimawandel können wir noch stoppen.“

Um seine tadellose antifaschistische Gesinnung zu beweisen, verkündete er, habe er die 95-jährige Auschwitzüberlebende Esther Bejarano „zum nächsten Klimamarsch“ eingeladen. Leider hätte sie noch nicht geantwortet.

Für die Misshelligkeiten mit FFF hatte er auch eine Erklärung, die er einleuchtend fand. Das habe weniger an seinem Tweet gelegen, sondern an der Parteienkonkurrenz. Bei den Fridays for Future sei alles fest in grüner Hand. Da habe er als Linkspartei-Nachwuchs gestört.

Da die Linkspartei Hamburg Tom Radtke – für Radtke völlig unverständlich – hinauswerfen will und die FFF-Leute nicht gut über die lose Stimmungskanone an Bord reden, startete der Juniorpolitiker innerhalb kürzester Zeit Phase drei: er drückte auf den roten Vernichtungsknopf, den jeder aus der Festung des Schurken in Bond-Filmen kennt. Radtke twitterte:

„Wenn ihr weiter über mich lügt, sehe ich nicht warum ich nicht eure dreckigen Geheimnisse (z. B. den Pädophilen bei FFF Hamburg) noch für mich behalte. Wenn keine Richtigstellung kommt, dann werde ich morgen alles erzählen. Auch zu Luisa.“

Bemüht sich Nico Hofmann schon um die Filmrechte?

Es folgte noch ein Radtke-Tweet, dieses Mal schon explizit:

„Der Hamburger Bundestagsabgeordnete sollte aufpassen, sonst ergeht es ihm so wie seinem ehemaligen Fraktionskollegen Edathy. Ich kenne die Namen einiger seiner Opfer.“

Nico Hofmann – oder wer auch immer die ganze Sache verfilmt – sollte sich jedenfalls schon einmal Notizen machen, um später den Überblick zwischen Staffel eins bis fünf nicht zu verpassen.

Es gibt nicht viele Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete, auf die sich die Drohung beziehen könnte.

Von Aufmerksamkeitsökonomie versteht Tom Radtke ganz offensichtlich etwas, wenn auch nicht unbedingt von Twittertechnikfolgenabschätzung.

Nach der Drohung am Freitag folgte erst einmal – nichts. Aber das kann sich stündlich ändern. Möglicherweise erzählt er demnächst sogar ein paar CO2-schmutzige Geheimnisse von Luisa Neubauer. Langstreckenflüge, von denen noch niemand sonst weiß?

Unter Radtkes jüngstem Tweet sammelte sich so allerlei. Unter anderem eine juristische Fernberatung; einer unterrichtete ihn, dass das Nichtanzeigen einer Straftat strafbar sein kann, falsche Verdächtigung aber auch. Anders als die meisten Medien sieht die Justiz einen 18-Jährigen nicht nur als vollmundig an, sondern auch als strafmündig.

Und dann meldete sich noch ein aufmerksamkeitsverstärkender ZDF-Mitarbeiter zu Wort:

Jemand anderes in der gleichen Radtke-Twitter-Diskussion meinte – und darin liegt der eigentlich interessante Punkt:

„Da fragt man sich, wie die Auswahlverfahren der @Die Linke_HH verlaufen. Werden die Kandidaten per Tombola oder Strohalmziehen bestimmt?“

Weder noch. Es gelten andere Kriterien. Und zwar nicht nur in Hamburg, sondern bundesweit. Im Großen und Ganzen: Ein idealer neuer Kandidat nicht nur der Linkspartei sondern der Linken allgemein muss jung sein, politisches Frischfleisch, zur Selbstdarstellung neigen, eine gewisse Hemmungslosigkeit mitbringen, außerdem einen Twitteraccount. Und er/sie/d sollte auf der politisch richtigen Seite stehen. Was sich allerdings von selbst versteht. Histrioniker werden bei gleicher Eignung bevorzugt.

Gerade die Linkspartei, insgesamt eine eher ältere und graue Vereinigung, früher unter anderem Namen, greift sich traditionell fast jeden Neuzugang, der ein bisschen medienverwertbare Jugendfrische verspricht. Darunter gab es durchaus schon radtkeähnliche Fälle.

Im Jahr 2004 zog die damals 18-jährige Schülersprecherin Julia Bonk als jüngste Abgeordnete Deutschlands in den sächsischen Landtag ein. Sie forderte die Freigabe von Heroin mit der Begründung, jeder hätte ja auch die Freiheit, von einer Brücke zu springen. Sie agitierte gegen Deutschlandfähnchen während der Fußball-WM 2006, wobei sie die schwarzrotgoldenen Farben mit dem Nationalsozialismus in Verbindung brachte. Irgendwann stellte die Fraktion ihr einen Aufpasser an die Seite, der dafür sorgen sollte, dass nicht mehr jede ihrer Ansichten ungefiltert nach draußen fand. Trotzdem landete Bonk nach einigen skurrilen öffentlichen Auftritten in der Psychiatrie.

Im Bundestagswahlkampf 2017 musste die Hamburger Linkspartei ihre Kandidatin Sarah Rambatz, Jahrgang 1993 und damals auf Listenplatz 5, zum Eilrückzug drängen, weil sie auf Facebook geschrieben hatte:

“antideutsche Filmempfehlungen? & grundsätzlich alles wo Deutsche sterben.”

Möglicherweise wurde sie später reifer. Die Linkspartei wollte sie allerdings nicht später, sondern gleich.

Zurück zu Tom Radtke: Vor kurzem versuchte der Landesgeschäftsführer der Hamburger Linkspartei Martin Wittmaack, mit dem jungen Genossen zu reden. Nach Radtkes Tweets zu urteilen lief es nicht erfolgreich.
“Es war das erste Mal“, kommentierte Wittmaack, “dass wir überhaupt mit ihm ein Gespräch Auge in Auge führen konnten.” Wobei offen blieb, ob Wittmaacks Gespräch das erste nach Radtkes Holocaust-Tweet war oder das erste nach seiner Aufstellung als Wahlkandidat.

Die Sehnsucht vor allem linker Parteien nach blutjungem Nachwuchs mit viel Scharf ist, siehe Bonk und Rambatz, nicht ganz neu. Durch die FFF-Bewegung schafft es der Phänotyp allerdings gerade aus den Randbereichen ins Zentrum der Politik. In einigen Fällen – Bonk, Rambatz, Radtke – bricht die junge Politkarriere ab. Erstaunlich viele ähnlich gelagerte Karrieren führen zum Erfolg.
Dabei hilft zum einen die Neigung der wohlmeinenden Medien, die ständig nach der verwertbaren Stimme der neuen progressiven Generation und dem nächsten Hashtag suchen, was beispielsweise dazu führt, dass jeder Luisa-Neubauer-Satz als bedeutend erklärt wird, solange es um irgendwas mit Klima geht.

Aber es zeigt sich noch ein anderer Einfluss. Eine Bundeskanzlerin, die auf die Frage nach Veränderungen der öffentlichen Sicherheit durch die Massenmigration mit dem Satz antwortet: „Strafdelikte sind bei uns nicht erlaubt“, eine Grünen-Parteivorsitzende, die das Stromnetz zum Speicher erklärt – sie und andere bauen, um es steinmeieresk zu sagen, Barrieren zu Luisa Neubauer und Tom Radtke ab.
Es gibt zwei Methoden, um sich den Zorn der Guten und Gerechten in Politik und Medien zuzuziehen: Zum einen, alte weiße Männer nicht grundsätzlich schlecht zu finden. Und zweitens, hochengagierte schnellredende und schnelltwitternde Jugendliche nicht für die ideale Besetzung von Parlamenten und Siemens-Aufsichtsgremien zu halten.

Manche Karrieren von Jungen, siehe oben, scheitern trotz Medienbegeisterung. Viele sehr ähnlich gelagerte gelingen. Beispielsweise die der bayrischen Grünen-Politikerin Katharina Schulze, Jahrgang 1985. Bundesweit bekannt wurde sie 2019, als sie als Spitzenkandidatin im bayerischen Wahlkampf C02-Sparmaßnahmen forderte, und per Twitter aus ihrem Kalifornien-Urlaub mit Plastikeisbecher in der Hand die zurückgebliebenen grüßte.

Schulze umging und umgeht Kommunikationsfallen wie Holocaust einerseits und Filme mit vielen toten Deutschen andererseits. Sie achtet auch auf wichtige Alliierte:

Im bayerischen Landtagswahlkampf gab es kurz vor dem Wahltermin eine Veranstaltung mit normalen Bürgern, die ihr Fragen stellten und feststellen mussten, dass die junge grüne Frau Satzbausteine aneinander reihte, die wenig bis nichts mit den gestellten Fragen zu tun hatten. Dabei zeigte sie themenabhängig eine beängstigende Lachgrimasse. Nach einer bestimmten Zeit wiederholten sich die Textbausteine. Ein potentieller Wähler meinte damals, er könnte sich Schulze vielleicht als Schülersprecherin vorstellen, aber nicht als Landespolitikerin.
Möglicherweise lag es auch an diesem Auftritt, dass die Grünen in Bayern nicht die 20 bis 25 Prozent holten, die ihnen vorübergehend in Umfragen prophezeit worden waren.

Trotzdem gehört die fidele Frau aus Bayern zu einem neuen Typus, der in der FFF-Ära ins politische Geschäft einrückt und die Szene auch bundesweit in ein paar Jahren beherrschen dürfte. Über den Auftritt von Katharina Schulze bei Markus Lanz vor ein paar Tagen schreibt Holger Finn auf Eigentümlich Frei:

„Die Pupillen der grünen Spitzenfrau, die hier abwechselnd als Bundesverkehrsminister, Bundeswirtschaftsminister, Bundesenergieminister und grüne Weltregierung auftritt, sind nicht zu erkennen. Die üblichen Symptome allerdings schon: Schnell sprechen, laut, zusammenhanglos und verwaschen, Sätze verschwinden in der Mitte, andere Sätze beginnen mit ihrem eigenen Ende und gipfeln jeweils in der Anrufung der ‚Pariser Beschlüsse’, ohne die ein Leben auf der Erde nicht vorstellbar ist. Konkrete Antworten gibt es nicht, auf nichts, stattdessen werden Worthülsen wie ‚grüne Mobilitätsgarantie’, ‚autofreie’ Innenstadt und ‚gerechte Klimawende’ abgeschossen.“

Hätte Tom Radtke in Hamburg nicht den Selbstzerstörungsknopf gedrückt, sondern an sich gearbeitet: er wäre vielleicht irgendwann auf ein sicheres Katharina-Schulze-Niveau oder sogar die Baerbock-Ebene gekommen.

Der junge Mann kann noch nicht einmal anführen, er würde jetzt nur seines Geschlechts wegen so angegriffen.
Obwohl: genau das sollte er jetzt sagen. Ein bento-Interview springt dabei mindestens heraus.

Und vielleicht sitzt er ja doch schon vor 2030 in irgendeinem Gremium, das über dieses Land bestimmt.