Tichys Einblick
Konsumphilosophie à gogo 15

„Gut genug“ als inhaltliche Strategie – Marken werden immer von Innen zerstört

Was Parteien vom Niedergang der Markenartikelindustrie lernen können.

© Carsten Koall/Getty Images

Das Pulver verschossen … der Rauch legt sich. Jeder wusste sowieso alles zu kommentieren und vor allem seit jeher viel, viel besser. Die Erosion der Parteienlandschaft, der Niedergang der Volksparteien, der Erfolg der Totgeglaubten, die ewig ethischen Erziehungsversuche der Bildungselite … auch Nachrichten wollen verkauft werden und deshalb unternehmen aufgeregte Kommentatoren die Pädagogisierung der „Abgehängten“, „Modernisierungsskeptiker“ oder schlichtweg „Enttäuschten“. Eine ganze Industrie lebt davon, diesmal nicht in China, sondern in den gut platzierten Redaktionsräumen an Elbe, Spree und Rhein.

Gerade in Hinblick auf die differenzierten Werbe- und Kommunikationsstrategien der Parteien, die von hochdekorierten Markenexperten, Kommunikationsprofis und renommierten Werbeagenturen teilweise über Jahre erdacht werden, stellt sich die Frage, ob die Rechnung aufgegangen, die geheimen Verführungsversuche der Parteien gefruchtet haben und die hohen Kostenstellen gerechtfertigt sind. Die inhaltliche Entscheidung über die Strategie liegt – wie beispielsweise im Fall der CDU – allein bei der „Chefin“. Demokratie findet parteipolitisch nie „innen“ statt. Denn Positionierung und allgemeine Beteiligung schließen sich aus.

Was Pampers und die SPD unterscheidet

Oft ist vom Sterben der Volksparteien die Rede, aber auch die kleineren Parteien hätten Schwierigkeiten, ihre Milieus über die Angabe der Wahlstimme zu Aktivität zu bewegen. Aus der Marken-Soziologie ist bekannt, dass der Niedergang traditioneller Gemeinschaften, bspw. der parteipolitischen Lebenszusammenhänge, den Wunsch zur Bündnisbildung, d.h. Identifikation, nicht reduziert, sondern lediglich umgelenkt hat. Heute können sich Menschen über die Wahl ihres Autos („Porsche“ oder „Dacia“), ihrer Kleidung („Kik“ oder „Boss“), ihres Reisezieles („Bali“ oder „Balearen“) ihr „Ich“ konsequent zusammenstellen – die Variationsbreite ist selbstverständlich abhängig vom Geldbeutel. Unser „Ich“ ist zum allergrößten Teil die Kombination von bereits Bestehendem – das allerwenigste, was uns charakterisiert, haben wir selbst geschaffen. Sozialpsychologisch erklärt dieser Zusammenhang den „Siegeszug des Markenwesens“ und die Realitätsferne von Menschen, die die Marke verdammen und abschaffen wollen. Sie würden den modernen Menschen abschaffen …

Allerdings besteht eine strukturelle Differenz zwischen Parteien und Konsumgütern: Eine Partei hat die Eigenart umfassendere Bereiche der Lebensumwelt zu erfassen, sie ist heterogen in ihrer Leistungsstruktur, während eine Ware für die überwiegende Anzahl ihrer Kunden lediglich ein kleines Aktivitätsfeld umfasst. Es ist schlichtweg (noch) nicht vorstellbar, dass man Sanella, adidas oder Kaufhof zubilligt zu Schul- oder Geldpolitik Stellung nehmen zu müssen – auch wenn Marken wie Apple, Starbucks oder BMW einem „Wertesystem“ bereits nahekommen und ihre Stammkundschaften als „Evangelisten“ (sic!) bezeichnen. Dies sind aber noch eher die Ausnahmen. Sie beide eint, dass die Wahl eines Produktes oder einer Partei immer eine übergreifende, überpersonelle Botschaft enthalten muss: Mercedes ist hochwertig, ALDI ist preiswert, FDP ist liberal und die Linkspartei für „soziale Gerechtigkeit“. Bekenntnis macht also nur dann Sinn, wenn ich davon ausgehen kann, dass das Gegenüber mein Bekenntnis versteht und in meinem intendierten Sinne einordnet: Meine Wahl muss be-griffen werden. Anders formuliert: Kundschaft kündet! Die Stabilisierung dieses inhaltlichen „Gleichklanges“ ist eine Hauptaufgabe der Kommunikation.

Kommunikation soll die Vorurteilsstruktur hinsichtlich eines Namens oder Kennzeichnung vertiefen, so dass Menschen die spezifischen Inhalte unnachdenklich vergegenwärtigen. Diese Fokussierung von Komplexität macht überhaupt erst ein „Überleben“ in der modernen Welt mit 3.000 Werbebotschaften pro Tag und 12.000 Artikeln in einem Supermarkt möglich. In diesem Kommunikationsgewitter mit einer neuen Botschaft durchzukommen, ist heute so gut wie unmöglich. Und selbst einmalige massengängige Aktionen oder aufsehenerregende Werbefilmchen sagen nichts darüber aus, ob die Vorurteilsstruktur gestärkt worden ist. Aufmerksamkeit allein hat nichts mit der Stärkung des Botschaftscharakters zu tun.

Immer mehr Wissen um den Verbraucher bringt nichts

Man sollte meinen, dass die Welt in Ordnung ist: Inzwischen wissen die Marketingexperten alles über den sogenannten Verbraucher, wobei der Begriff allein schon offenbart man meine, kaufen diene einzig und allein der Bedürfnisbefriedigung. In den allermeisten Fällen geht es um mehr als nur um „Verbrauch“, sondern um Auswahl und meistens sogar um individualisierten Genuss – und dabei muss es nicht zwangsläufig um Luxusprodukte gehen: Auch die Wahl zwischen ALDI und Lidl verdeutlicht mehr als „Sattwerden“.

Konsumphilosophie à gogo 11
Plakatwerbung von CDU und SPD – Gesicht und Sicht
Die letzten 40 Jahre der Konsumkultur sind geprägt von einer immer feineren Analyse des Marktes und der Kunden. So geht die aktuelle Analysemethodik des Big Data davon aus, dass das Zusammenführen und Clustern möglichst vieler Datensätze Rückschlüsse auf das zukünftige Konsumverhalten der Menschen zulässt. Die Verschmelzung aller unserer digital erfassbaren Spuren mit einer nahezu unendlichen Anzahl von Variablen führt dazu, Prognosen über Bedarfe und Gewohnheiten abgeben zu können, um passgenaue oder im Marketingsprech „customized offers“ bereitzustellen. In der politischen Diskussion raunte der strukturell identische Gedanke unter dem Begriff der „Voter Targeting“-Psychogramme der Firma Cambridge Analytica kurzzeitig auf. Big Data ist dabei lediglich das aktuelle Ende eines Grundgedankens, der sich seit Beginn der „Verkaufsförderung“ oder späterhin des Marketings durch die Wissenschaft von der Wirtschaft zieht: Egal ob Segmentierung im Markt und Differenzierung im Angebot (1970er Jahre), Zielgruppenanalyse (1980er Jahre) über Direct-Marketing, CRM, Dialog-Marketing , Data-Base Marketing und Mass Customization (1990er und 2000er Jahre) am Ende verbindet die sich immer schneller ablösenden Marketing-Moden ein Wunsch: Die Entwicklung einer perfekten Marken-Maschine, die so strukturiert ist, dass sie in den wahrnehmbaren Präsenzfeldern von Produkt, Distribution, Service und Werbung&PR, den Erwartungshaltungen der Kunden idealtypisch entspricht. Der fundamentale Gedanke hinter einer immer feineren Sensorik und Datenerhebung ist: Je mehr Informationen dem einzelnen Unternehmen zur Verfügung stehen, desto individualisierter kann es auf den einzelnen Kunden eingehen und sich selbst dementsprechend frühzeitig aufstellen und anpassen. Kommunikationserfolg ist gemäß dieser Logik keine Frage mehr eines schöpferischen Geistes, einer zündenden Idee, sondern der größten Datenbasis.
Neuromarketing und andere Neurosen

Warum dieser Erfolg? In einer smart auftretenden Allianz von Normalverteilung und Neuronen („Neuromarketing“) glauben Marken-Manager, endlich die Schlüssel in den Händen zu haben, um die Wertschöpfungskraft von Unternehmen reibungsfrei stärken zu können. Endlich ist die Entscheidung, was wirklich wirkt, nicht mehr dem Zufall überlassen, sondern en detail steuerbar – gerade das Marketing muss sich nicht wie in den Jahrzehnten zuvor den Vorwurf gefallen lassen, immense Gelder unkontrolliert zu versenken.

Allerdings besteht ein Problem: Die Marktanteile der klassischen Markenartikler stagnieren in den meisten Fällen nur noch, während „No Name“-Produkte, Handelsmarken und Standardangebote ihre Marktanteile stetig vergrößern (Anteil der Handelsmarken bei sog. „Schnell drehenden Konsumgütern“ in Deutschland 2015: 45%) – trotz einer immer feineren Markt- und Bedürfnisforschung und trotz durchdachter und vielfach getesteter Marketing- und Kommunikationsstrategien.

Hinzukommt eine weitere, aber entscheidende Erfahrung: Die Bereitstellung von Individualisierungsoptionen oder immer speziellere Produkte führen nicht zu einem dauerhaften Erfolg. Im Gegenteil: Der Anteil der „Standardartikel im Leistungsportfolio der klassischen Markenartikler“ nimmt weiterhin zu – beispielhaft sei der Erfolg der Marke „Dacia“ (Renault-Konzern) oder „Simply Dry“ (Pampers) genannt. Die Logik „Jedem Kunden sein möglichst passendes Produkt“ scheint nicht automatisch Marktanteile zu sichern, geschweige denn signifikant zu erhöhen. Adidas verkauft unter 0,1% selbst gestaltete Schuhe. Sozialpsychologisch sind auch hier die Gründe klar: Marken sollen durch ein spezifisches Leistungsportfolio Probleme lösen, nicht aufwerfen. Kreation bedeutet immer Aufwand – diese Energien benötigt man ab einem bestimmten Lebensalter für Kinder und Karriere und nicht die Farbgebung der neuen Sportschuhe. Und außerdem widerspricht das individualisierte Produkt dem allgemeinen Botschaftscharakter der Marke. Wenn ich vor lauter Individualität die Marke nicht mehr erkenne, dann erübrigt sich die Marke eigenständig.

Das Gros der Kundschaft ist viel eher daran interessiert, verlässliche und solide Marken-Produkte zu kaufen – Produkte, die ihren eigentlichen Zweck möglichst gut erfüllen und die unter dem Titel „Good enough“ klare und verlässliche Orientierung in Zeiten des Kommunikationsgewitters bieten. Kurzum: was nützt mir ein Smartphone mit 10.000 „Features“ von denen ich de fakto nur 20 wirklich nutze? Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die verbreitete Differenzierungs-Strategie der Marken-Artikler diese Entwicklung berücksichtigt und in der Folge eine Fokussierung des Leistungsportfolios stattfindet. Das Gegenteil scheint der Fall: Marken segmentieren sich zunehmend und versuchen über eine möglichst dezidierte Marktforschung noch die kleinste Zielgruppe zu erspähen und ihr passgenaue Produkte anzudienen. Der Effekt ist eine zunehmende Desorientierung – die klare Signalgebung einer Marke, also ihr eigentlicher Daseinsgrund, wird gestört.

Signalstruktur der Parteien?

Was bedeutet diese Erfahrung für die politische Kommunikation? Die weiter fortschreitende Segmentierung der Parteienlandschaft wird zurecht mit veränderten, vornehmlich flexibleren und vielfältigeren Lebensmilieus erklärt. So wie es im Supermarkt inzwischen in jeder Produktkategorie ein Dutzend Produkte gibt, so böten Parteien nun (fast) jedem Lebensstil eine geistig-stilistische Heimat. Sicherlich ist dieser Gedanke richtig, aber an sich haben die „Volksparteien“ (CDU/CSU und SPD) durch Arbeitsgemeinschaften und individualisierte Kommunikationskonzepte – ähnlich wie die Marken-Artikler – vermeintlich richtig darauf reagiert. Dennoch wirkt über die lange Sicht betrachtet (vor allem bei der SPD) nichts. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, den „Good-enough“-Effekt auch auf die politische Kommunikation zu beziehen. Es wäre möglich, dass die Schwäche der SPD eben nicht an einem „Zuwenig“, sondern im Gegenteil an einem „Zuviel“ an Lösungen liegt (Zitat Kevin Kühnert Juso-Vorsitzender: „Wir benötigen nicht mehr inhaltliche Spiegelstriche.“), wobei die Merkel-CDU eben diese „Kundenorientierung“ aufgrund des Merkel`schen Verständnisses von Politik nicht vollzieht, sondern mit einem schieren „Sie kennen mich“ (Zitat Angela Merkel) Orientierung, aber eben keine vorgefassten Lösungen vermittelt. In einer Zeit unendlich vieler Botschaften wird nur das gelernt, was ohnehin diffus bekannt ist.

Was folgt daraus:
  • Erfolgreiche politische Kommunikation muss sich an den gelernten und kollektiv verankerten „positiven Vorurteilen“ der jeweiligen Partei orientieren.
  • Erfolgreich ist die Beschränkung auf zwei, höchstens drei „grundsätzliche Inhalte“.
  • Erfolgreich ist nicht die Vielzahl der vermeintlichen Lösungen und Angebote, sondern die Fokussierung auf wenige – meist bestehende – Kerninhalte.
  • Erfolgreich ist die Vermittlung von gefühlter Zusageverlässlichkeit, dabei muss es nicht um Inhalte handeln, sondern auch ein Politikstil (siehe Merkel vor 2015) kann Beständigkeit und damit Sicherheit suggerieren.
Fazit: Erfolge trotz Marketing

Marken sind beständige Wesen. Die mit ihnen in Verbindung gebrachten Vorurteile zu verändern, ist mehr als schwer, wenn nicht sogar unmöglich. Parteien profitieren von der Verhaltensbeständigkeit, indem sie für bestimmte Kernthemen stehen, die meist über politische Persönlichkeiten verkörpert wurden. Diese „langfristigen Erwartungshaltungen“ prägen und strukturieren das Wahlverhalten fundamental. Die Aufgabe des Marketings und ausgeklügelter Kommunikations- und Werbestrategien kann nur sein, diese Vorurteilsstrukturen immer und immer wieder zu bestätigen. Kurzzeitige Impulse in Form aufgeregter Kampagnen mögen die Stimmung beeinflussen, langfristig haben sie keinerlei Auswirkungen. Zum Schluss geht es im politischen Diskurs immer um Sicherheit und Verlässlichkeit in der Aussage. Eine Partei muss, trotz allen (demokratisch evozierten) Schwankens, inhaltlich genau abgrenzbar sein.

Ganz offensichtlich ist eine Partei nur marginal Ergebnis der Kommunikation, d.h. der absichtsvoll in Szene gesetzten Überzeugungskünste. Deren Ergebnis ist Image. Image bedeutet aber Momentaufnahme. Marke dagegen entsteht in einem Prozess unabgestimmten Verhaltens zwischen Sender und Empfänger über lange Zeit.

Nachdem Markenkraft entstanden ist, wirkt sie ordnend. Dies setzt die Einheitlichkeit von Leistung und Auftritt voraus. Politische Kommunikation und Marketing können eine eventuelle Lücke für einige Zeit überspielen – zum Schluss werden Marken aber immer an ihren faktischen Leistungen gemessen … Parteien werden nicht mehr gewählt, weil die Wähler dies von einem Tag auf den anderen aus dem Nichts beschließen, sondern meist, weil die Partei ihre verankerten Zusagen nicht mehr einhält. Kurzum: Marken werden immer von Innen zerstört.