Tichys Einblick
Der Mann, der über eine Rede stürzte

Ex-Bundestagspräsident Philipp Jenninger ist gestorben

Der frühere Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) ist tot. Er starb am Donnerstag im Alter von 85 Jahren. 1988 stürzte er über eine Rede, die man missverstehen wollte und die eine beispiellose Hysterie der politisch Korrekten auslöste.

Jenninger gehörte dem Bundestag von 1969 bis 1990 an. Von 1984 bis 1988 war er dessen Präsident. Seine Gedenkrede zur antijüdischen Pogromnacht vom November 1938 löste 1988 eine Welle der Empörung aus. Dem CDU-Politiker wurde damals vorgeworfen, er habe Hitler und den Nationalsozialismus verharmlosen wollen. Später gaben die meisten Politiker und Journalisten zu, dass man ihm damals unrecht getan habe.

Politisch korrekte Hysterie

Ich schrieb wenige Tage nach dieser Rede zusammen mit dem Politikwissenschaftler Eckhard Jesse unter dem Titel „Die Tabus der Tabubrecher“ einen Beitrag in der Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“, in dem wir Jenninger in einer aufgeladenen Atmosphäre politisch korrekter Hysterie verteidigten. Jenninger wurde unterstellt, er habe Hitler und den Nationalsozialismus beschönigt, weil er bei der Verlesung seiner Rede die Anführungszeichen zu manchen Begriffen nicht ausreichend betont habe. Schon während seiner Rede verließ eine Reihe von Abgeordneten der Grünen, der SPD und der FDP aus Protest den Plenarsaal und aus den Reihen dieser Parteien wurde rasch der Rücktritt Jenningers gefordert. Es entstand eine hysterische Diskussion in Deutschland und im Ausland, und Jenninger musste sofort von seinem Amt zurücktreten.

In der für solche Medienkampagnen typischen hoch emotionalisierten Situation versuchten Eckhard Jesse als Politikwissenschaftler und ich als Historiker die Rede ruhig zu analysieren. Wir wandten uns in dem gemeinsamen Artikel gegen die seinerzeit immer wieder vorgetragene These, es gebe Themen, über die man nicht öffentlich sprechen dürfe. „Verbirgt sich dahinter nicht auch eine Arroganz jener, die selbst glauben, aufgeklärt und urteilsfähig zu sein, dies aber dem angeblich ‚mündigen Staatsbürger’ absprechen möchten? Sind solche Argumente nicht auch problematisch, weil sie kontraproduktiv wirken? Weil der Eindruck entsteht, wichtige Aspekte sollten verschwiegen, notwendige Diskussionen unterdrückt werden?“

Man warf Jenninger vor, er habe die Zustimmung der Deutschen zu Hitler überzeichnet, was jedoch eindeutig nicht der Fall war. „Aber war es nicht“, so fragten Jesse und ich, „der – bisher selten unternommene – Versuch des ‚Verstehbarmachens’ und des ‚Verstehens’ dessen, was geschah?“ Damals gab es nicht viele, die es wagten, Jenninger gegen ungerechtfertigte Kritik zu verteidigen, wie auch das von dem CDU-Politiker Armin Laschet herausgegebene lesenswerte Buch „Philipp Jenninger – Rede und Reaktion“ zeigt (in dem der Aufsatz von Jesse und mir abgedruckt ist). In der Folge wurden Jenninger und seine Rede rehabilitiert.

Zu seinem 70. Geburtstag 2002 sagte Jenninger der Deutschen Presse-Agentur über die Beweggründe für seine Rede: „Ich wollte den Jugendlichen in Deutschland aufzeigen, warum ihre Großeltern und Eltern damals „Heil Hitler“ geschrien haben.“ Niemand habe ihm bislang nachweisen können, dass er etwas Falsches gesagt habe. Unterstützung erhielt er Jahre nach seinem Rücktritt vom Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis. Er sprach von einer „über weite Strecken hervorragenden Rede, einfach nur rhetorisch miserabel gehalten … Wenn es nach uns gegangen wäre, hätte er nicht zurücktreten müssen.“ Bubis berichtete 1995 auch, dass er ganze Passagen Jenningers ein Jahr nach dessen Rücktritt in seiner eigenen Gedenkrede zur Pogromnacht in der Frankfurter Synagoge verwendet habe. „Kein Mensch hat’s gemerkt“, so Bubis.

Seine Partei ließ ihn im Stich

Jenninger blieb zwar nach seinem Rücktritt Bundestagsabgeordneter und arbeitete im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages mit, meldete sich aber, tief getroffen von der Kampagne, in den Plenarsitzungen nicht mehr zu Wort. Die Enttäuschung über den mangelnden Rückhalt seiner eigenen Partei bewog ihn auch, bei der Bundestagswahl 1990 auf eine erneute Kandidatur zu verzichten und in die Diplomatie zu wechseln.

1991 löste er Dietrich Graf von Brühl als deutscher Botschafter in Wien ab, wo er vier Jahre lang tätig war. Von Mai 1995 bis zu seiner Pensionierung im Juni 1997 war Jenninger deutscher Botschafter beim Vatikan in Rom. 1997 geriet Jenninger noch einmal in die Schlagzeilen, als er für das Amt des Präsidenten des renommierten Stuttgarter Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) kandidierte. Nach heftigen Protesten von SPD und Grünen sowie von linken Intellektuellen zog er seine Kandidatur zurück.

Ich erinnere mich an Jenninger vor allem als einen Mann, der Opfer einer Hysterie der politisch Korrekten aus den Reihen von SPD, FDP und Grünen wurde und den seine eigene Partei in einer kritischen Situation im Stich ließ – auch wenn sie sich heute wieder zu ihm bekennt. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sagte in einer Erklärung zu Jenningers Tod: „Ich habe Philipp Jenninger, mit dem ich eng, freundschaftlich und vertrauensvoll zusammengearbeitet habe, dabei als einen leidenschaftlichen Abgeordneten erlebt und ihn als überzeugten Demokraten sehr geschätzt.“

*Teile dieses Beitrages sind der Autobiografie von Rainer Zitelmann entnommen.