Tichys Einblick
Seibold ist ein Symptom

Eine Presse ohne Regierungskritik ist wertlos

Die Medien in Deutschland sind spätestens in der Ära Merkel in den Ruf unkritischer Regierungsnähe geraten. Mittlerweile bestreiten Journalisten sogar, dass Regierungskritik eine Kernkompetenz ihres Geschäftes sei. Sie wollen mit „Werten“ und „Haltung“ die Demokratie schützen. In Wirklichkeit schaffen sie diese damit ab.

IMAGO / Michael Gstettenbauer

Kritik am System – so lautete der Vorwurf. Er kommt vom ZDF und wendet sich gegen die Journalistin Katrin Seibold. Meinungsfreiheit, wirft Seibold zurück, habe es beim ZDF nicht gegeben. Und mehr: Man habe dort bewusst „Fake News“ produziert. Ob falsche Giftgasanschläge oder Corona, nicht kritischer Journalismus, sondern der Regierung und dem Narrativ gewogene „Einordnung“ war die Leitlinie.

Es ist ein Konflikt, der in Deutschland kaum aufgearbeitet worden ist; und es ist ein Mosaikstein eines größeren Bildes. Die Presse, nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen des Westens, kennt ihre ureigene Aufgabe nicht mehr. Mit dem Siegeszug des Liberalismus hat sie augenscheinlich alle Ziele erreicht. Sie befindet sich – wie das Abendland – in einer Identitätskrise.

Ähnlich, wie die europäischen Völker ihre Identität verleugnen, oder das Christentum als Religion Europas hilflos seine Rolle sucht, so hat auch die Presse als europäische Erscheinung seit der frühen Neuzeit ein Problem mit sich selbst. Sie geht in ihrer Problembewältigung in eine ganz ähnliche Richtung wie die anderen Elemente Alteuropas, die heute nur noch Geister ihrer selbst sind: Sie wehrt sich dagegen, was sie eigentlich war, was sie eigentlich ist.

Sie haben es wieder getan
ZDF entlässt Journalistin wegen kritischer Nachfragen zu Corona
Stilbildend ist dabei die Abwehrhaltung, die sich angesichts versäumter Kritik bei den großen Themen eingebürgert hat: Die alleinige Aufgabe der Presse sei es nicht, die Regierung zu kritisieren. Das Argument wiederholt sich in letzter Zeit. Womöglich, weil ein nicht geringer Teil des Mediengeschäfts in Deutschland mittlerweile über staatliche oder halbstaatliche Organisationen läuft. Dabei bedient dieser Vorwurf nichts weiter als einen Strohmann. Niemand fordert, die Presse solle nur Regierungskritik machen. Andersherum argumentiert ist eine Presse ohne Regierungskritik wertlos.
Für Journalisten gilt dasselbe wie für Philosophen: Wenn sie nicht gefährlich sind, sind sie keine

Es fällt leicht, den staatlichen Medienapparat in Russland oder gar Fox News in den USA aus richtigen wie falschen Gründen zu kritisieren. Was man dagegen nie hört, ist eine Kritik an den eigenen Anstalten. Der Bayerische Rundfunk hat noch im letzten Jahr ein Format ausgestrahlt, das diesen Widerspruch betont. Dort heißt es:

„Journalisten werden weltweit in ihrer Berichterstattung behindert, verfolgt und getötet. Der Grund: Unabhängige Medien stellen die Mächtigen infrage. Sie kontrollieren deren Handeln und hinterfragen deren Interessen. Nur eine informierte Öffentlichkeit kann demokratische Entscheidungen treffen, etwa in Wahlen.“

Der Religionsphilosoph Peter Kreeft legt in seinem Stück Socrates meets Jesus dem athenischen Philosophen die Frage an eine moderne Studentin in den Mund, wo denn die ganzen Philosophen seien; als diese antwortet, sie hielten sich in der Fachabteilung für Philosophie auf, ist Sokrates überrascht: Philosophie ist keine Abteilung, sondern gefährlich, und Philosophen, die nicht gefährlich seien, seien gar keine Philosophen.

Ähnlich verhält es sich mit Journalisten. Journalisten, die einer Regierung nicht gefährlich sind, sind vermutlich keine. Es überrascht, dass diese simple Aussage, die der Bayerische Rundfunk oben gelten lässt, er nicht auf deutsche Verhältnisse anwendet. Nicht erst seit Corona ist das offensichtlich. Doch Medien erkennen ihr Kerngeschäft nicht mehr, wenn sie selbst dem ideologischen Apparat angehören, den sie eigentlich im Sinne von „checks & balances“ im Zaum halten sollten.

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„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Das Corona-Kartenhaus war monatelang wacklig. Es brauchte einen Welt-Reporter wie Tim Röhn, um es anzutippen. Insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk fällt nicht dadurch auf, bei den großen Themen der Vergangenheit den Verantwortlichen den Zahn gezogen zu haben. Investigative Recherchen erfolgen bei Sachverhalten, die in die Orchideenfächersammlung der Redakteure gehören: etwa bei Gender Pay Gap, Rechtsextremismus oder Klima. Nie hören wir etwas über die Verdrahtung von Öko-Lobbys mit den Mächtigen, von der sicherheitspolitischen Sackgasse der letzten Jahrzehnte, von den Milliardengräbern bundesrepublikanischer Wolkenschlösser. Krönung des Hohns sind die vielfachen „Faktenchecker“, die nicht etwa Politiker und Journalisten prüfen, sondern die Bevölkerung darüber belehren, was sie zu glauben haben.

Vorfälle wie die Relotius-Affäre sind daher entlarvend wie erheiternd. Doch Relotius schrieb nur Reportagen, die desaströse Kuschelei der Macht war seine Sache nicht. Mittlerweile geht es in den Medien nicht mehr um Wahrheit oder Lüge, Fakt oder Falschmeldung. Es geht bereits seit Jahren um „Framing“, und dazu gehört mittlerweile auch das Selbstverständnis der Presse, die sich gar nicht mehr als „Vierte Macht“ sehen will, heißt, als Korrektiv der freiheitlich-demokratischen Ordnung. Unverhohlen macht die Deutung die Runde, dass nicht die Berichterstattung als solche, nicht die Kritik an der Macht, sondern Haltung und Erziehung im Mittelpunkt stehen.

Das Paradigma: Regierungskritik hat ausgedient, weil jetzt die „Richtigen“ herrschen

Der Grund dafür ist einfach: Diejenigen, die einst die Presse benutzten, um den eigenen Einfluss auszuweiten, wollen dieses Instrument nun nicht mehr gelten lassen, da die Richtigen am Ruder sind. Verschwörungstheorie? Teile des Establishments machen daraus keinen Hehl. So sagt etwa der MDR-Journalist René Martens:

„Als linke Positionen in größeren Debatten noch eine etwas größere Rolle spielten, war es in solchen Kreisen opportun und en vogue, insbesondere ARD und ZDF als ‚regierungsnahe Medien‘ o.ä. zu bezeichnen. Spätestens seit 2015 hat diese Formulierung toxischen Charakter bekommen, weil Konservative und weiter rechts stehende Leute sie seitdem exzessiv nutzen, um ihr Missfallen darüber zum Ausdruck zu bringen, dass die Mehrheit der Journalistinnen und Journalisten einen minimalen Anflug von Menschlichkeit in der Flüchtlingspolitik der damaligen Bundesregierung positiv bewertete. (…) Seit 2020 kommen zu diesen Kritikern der (vermeintlichen) Nähe noch die sich ähnlich äußernden Mitglieder des Teams Todessekte dazu (landläufige Bezeichnung: Gegner der Corona-Maßnahmen).“

Quod licet Iovi, non licet bovi. Der Fall von Panorama-Moderatorin Anja Reschke und ihrem Bekenntnis zum Haltungsjournalismus muss an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Viel wichtiger ist die Reaktion darauf, die auch die Medien des ÖRR seitdem beherrschen: Die Frage lautet nicht, welche Zukunft eine solche Art des Journalismus für die Gesellschaft hat und hätte, und ob eine solche Art von öffentlicher Hand zu bezahlen wäre; sie lautete und lautet bis heute vielmehr, ob Journalisten diese Werte hochhalten dürfen, um die Demokratie zu verteidigen. Diese Frage formuliert bereits die Antwort. Sie ist aber grundlegend falsch. Denn es sind nicht „Werte“, sondern die Kritik an den Verhältnissen und insbesondere die Opposition zur Macht, die diese Demokratie am Leben erhalten.

Das ist – im Gegensatz zu jener über Werte – keine moralische Diskussion, sondern eine politikwissenschaftliche. Ein weiteres Argument, das die Presse von der Aufgabe als „Vierte Gewalt“ entbinden will, ist folgendes: Mit der Durchsetzung des Liberalismus, der Verfassung und der Abschaffung von Adel und Monarchie hat die Demokratie de facto gewonnen. Die Presse muss nicht mehr als Korrektiv eingreifen, weil die Politik von demokratisch gewählten Abgeordneten und einer demokratisch gewählten Regierung gemacht wird. Die Presse hat damit ihren Sinn als „Vierte Gewalt“ verloren. Eine solche Sicht ist im besten Fall naiv, im schlimmsten Fall manipulativ. Der französische Staatsmann Alexis de Tocqueville hat genau das Gegenteil konstatiert: Nicht die Monarchie, sondern die Demokratie braucht für ihr Überleben eine regierungskritische Presse.

Nur die Presse kann der politischen Minderheit eine Stimme geben

Das klingt zuerst paradox; doch bei genauerer Analyse ist die Demokratie weitaus gefährdeter, ohne freie, kritische Presse in die Tyrannei abzudriften, als etwa eine aristokratische Regierung mit ihren vielfältigen Partikularinteressen. Jeder Adlige ist ein Hindernis, das es zu überwinden gilt. In der Demokratie regiert jedoch die Mehrheit. Das bedeutet nicht immer, dass es sich um das Volk in der Masse handeln muss. Es reicht das Mehrheitsprinzip als Regierungsprinzip, heißt: Die Mehrheit ist immer die Regierung, die Minderheit immer Opposition. Das Problem: Die Mehrheit muss nicht immer richtig liegen und sie vertritt häufig nicht die Interessen einer Minderheit. Tocqueville hat dieses Dilemma in seiner Demokratie in Amerika so zusammengefasst:

„Erfährt in den Vereinigten Staaten eine Person oder eine Partei eine Ungerechtigkeit, an wen soll sie sich wenden? An die öffentliche Meinung? Gerade sie bildet die Mehrheit. An die gesetzgebende Gewalt? Sie repräsentiert die Mehrheit und gehorcht ihr blind. An die ausführende Gewalt? Sie wird von der Mehrheit ernannt und ist deren gehorsames Werkzeug. An das Militär? Das Militär ist lediglich die bewaffnete Mehrheit. An die Geschworenen? Das Geschworenenkollegium ist die Mehrheit mit dem Recht, Urteile zu fällen (…). Wie ungerecht und unvernünftig die Maßnahme auch ist, die uns trifft, wir müssen uns ihr also fügen.“

Wer das letzte Jahrzehnt seit Beginn der Finanzkrise erlebt hat, fühlt sich sofort an den Zustand jener Tyrannei der Mehrheit erinnert, den Tocqueville oben beschreibt. Auch hinsichtlich öffentlicher Äußerungen und der Geradlinigkeit öffentlicher Kommunikation hat Tocqueville Folgendes beobachtet: „Solange die Mehrheit ungewiss ist, redet man; hat sie aber unwiderruflich gesprochen, verstummt jeder, und Freund wie Feind scheinen sich einmütig vor ihren Wagen zu spannen.“ Der Mensch wird stumm im Angesicht von Mitmenschen, die der Überzeugung sind, dass sie die Mehrheitsmeinung teilen und die Mehrheit vertreten.

Vereinzelte sind leicht beherrschbar
Tyrannei der Mehrheit
Tocqueville prophezeit diese Tyrannei der Mehrheit nicht nur, er benennt auch die Mittel, um dieser vorzubeugen. Für Tocqueville ist die Demokratie kein Ende, und sie ist auch nicht inhärent freiheitlich. Ganz im Gegenteil sieht Tocqueville die Kräfte von Gleichheit und Freiheit im Kampf, wobei Gleichheit Zentralismus und Gleichschaltung mit sich bringt. Die Freiheit ist demnach stets bedroht und damit auch das Ideal einer freiheitlichen Demokratie – eine Theorie, die der Ansicht der heutigen Elite komplett widerspricht, die davon ausgeht, dass, wenn erst einmal die Demokratie errungen sei, auch der Rest sich geben würde. Es ist ein Irrtum zu glauben, der Populismus sei der einzige Wegbereiter einer Tyrannei der Mehrheit; sie ist dem demokratischen System inhärent.
„Die Presse ist recht eigentlich das demokratische Werkzeug der Freiheit“

Von den verschiedenen Rezepten, die Tocqueville beschreibt, um diesen Umsturz der Demokratie in die Tyrannei zu unterbinden, ist die freie Presse nur eines. Aber sie ist deswegen so wichtig, weil sie einem Individuum oder einer Minderheit die Kraft gibt, sich wirksam zu artikulieren, zu verbreiten und die herrschende Ansicht zu korrigieren. Die Pflicht der Presse sieht Tocqueville daher in ihrer Kraft als Korrektiv der Politik der Mehrheit, wobei der französische Philosoph damit sowohl gegen die Regierungsmehrheit und ihre Stellvertreter zielt als auch die Mehrheit im Volk allein, die diese Vertreter wählt. Tocqueville führt seinen Gedankengang so aus:

„Die Gleichheit isoliert und schwächt die Menschen; die Presse aber stellt jedem von ihnen eine sehr wirksame Waffe zur Seite, deren sich auch der Schwächste und Isolierteste bedienen kann. Die Gleichheit nimmt jedem Einzelnen die Unterstützung seiner Nächsten; die Presse aber gestattet es ihm, alle seine Mitbürger und Mitmenschen zu Hilfe zu rufen. (…) Ich glaube, die Menschen, die in der Aristokratie leben, können die Pressefreiheit allenfalls entbehren; die aber in demokratischen Ländern leben, auf keinen Fall. Um die persönliche Unabhängigkeit dieser Menschen zu gewährleisten, verlasse ich mich weder auf die großen politischen Versammlungen noch auf die Vorrechte noch auf die Verkündigung der Volkssouveränität. (…) Die Presse ist recht eigentlich das demokratische Werkzeug der Freiheit.“

Als „Werkzeug der Freiheit“ käme es einem Staatstheoretiker wie Tocqueville nicht in den Sinn, dass die Presse etwas anderes sein könnte als in erster Linie ein Instrument, um den Verwerfungen der Demokratie entgegenzutreten; statt ihre „Werte“ zu verteidigen, legt sie den Finger in die Wunde. Weitergedacht ist die Degeneration der Presse – ob als Boulevard, Haltungsmedium oder Regierungssprechrohr – unbedingt mit der Degeneration der Demokratie verknüpft. Damit hat Tocqueville bereits die heutige Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorhergesagt.

In dem Moment, in dem die Presse ihre eigentliche Aufgabe vergisst, geht nicht nur sie zugrunde. Wer deshalb glaubt, im besten Deutschland aller Zeiten zu leben, weil er die Demokratie vollendet glaubt, verrät in Wirklichkeit jene Demokratie, die er zu verteidigen vorgibt.

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