Tichys Einblick
Null Respekt

Video aus dem Polizei-Alltag – dazu Ignoranz, Wegschauen, Verschweigen

Ein junger Mann schreit einen Polizist an, bespuckt ihn, schlägt zu und bedroht ihn. Lesen Sie nur weiter, wenn Sie Schmutz und Schund ertragen können. Polizisten müssen das täglich so aushalten. Wie verhält man sich in einer solchen Situation?

Nein, wir lassen die Worte so stehen und arbeiten nicht mit Pünktchen, fast nicht. Es ist ein Video aus einer Welt, die Polizisten täglich ertragen müssen – und in der sie kaum Rückendeckung von ihren Vorgesetzten erhalten. Immerhin: Eine Welle der Empörung geht durchs Land, seit dieses Video läuft. In dem ins Netz gestellten Video sehen wir, wie ein junger weißer Mann einen Polizist anschreit, bespuckt, schlägt und mit dem Tode bedroht:

„Ich habe weder Respekt vor Vater Staat, weder Respekt vor dir. Auf deine scheiß Uniform rotze ich, Alter, hast du gerade gesehen?“

Der Wachpolizist bleibt ruhig und distanziert. Als er versucht, den Angreifer zu Recht sanft von sich wegzuschubsen entgegnet der 23-jährige Täter:

„Fass mich noch einmal an, du Wichser!“, droht der Angreifer. „Dann wirst du ein paar in die Fresse kriegen. Dann kann ich dir versprechen, dass du tot bist. Durch das 666 Kartell, du F****!“

Daraufhin schreibt SPD-Politiker Tom Schreiber auf Twitter:

„Da könnte ich kotzen! Hat man dieses Arschloch ermittelt? Er muss zur Verantwortung gezogen werden.“

Vor allem die Polizeibeamten „kotzen“, die solche keineswegs ungewöhnliche Anmache jeden Tag ertragen müssen. Viele von ihnen haben aufgegeben, deshalb Strafanzeigen zu schreiben, möglicherweise wie der betroffene Polizeibeamte. Erst die Polizeibehörde sah sich aufgrund der Öffentlichkeitswirksamkeit veranlasst, von Amtswegen eine entsprechende Anzeige zu erstellen.

Hat sich schon einmal jemand die Frage gestellt, warum immer mehr Polizisten resignieren und auf eine Strafverfolgung verzichten? Ich glaube nicht, dass es ein ähnliches Echo gegeben hätte, wäre der Bösewicht ein farbiger Migrant gewesen. Die Polizei bzw. der Polizeibeamte würde demnach im Gegenteil Gefahr laufen, als Rassist beschimpft zu werden. Zeigt ein Polizist den Aggressor an, fällt die Strafe milde aus. Also wozu der ganze Aufwand, Ärger und persönlichen Investitionen?

Die Berliner Polizei twitterte zum Tatgeschehen:

„Was die Situation angeht: #ZivileHelden hätten auf viele verschiedene Arten helfen können … Ein Video des Geschehens ins Netz zu stellen ist KEINE Hilfe“

Warum der Wachpolizist auf die Hinzuziehung von Kollegen vor Ort offensichtlich verzichtet hat, darüber kann nur gemutmaßt werden. Siehe meine o.g. Zeilen. Freilich wäre es – vielleicht – hilfreich gewesen, wenn ein anderer Fahrgast den Notruf gewählt hätte. Die Frage ist nur, ob man durchkommt, wann man durchkommt und ob der Täter nicht inzwischen längst über alle Berge wäre. Denn die Warteschlange ist vorprogrammiert, täglich kommen in Berlin 500 Notrufe nicht an. Das Problem ist seit Jahren bekannt, geändert hat sich trotzdem nichts.

Auch der RBB mokierte sich darüber, dass keiner der Fahrgäste eingegriffen hat. Solche Täter sind hoch emotionalisiert und können dann Dinge bis hin zum Totschlag tun, die sie (eigentlich) nicht geplant hatten. Der Polizeibeamte hat sich ohnehin dahingehend richtigerweise deeskalierend verhalten, dass es zu keiner unmittelbaren Gefährdung von Leben und Gesundheit gekommen ist. Der Einsatz von Pfefferspray in geschlossenen Räumen verbietet sich von selbst, es sei denn man möchte das totale Chaos.

Was kann man tun?

Vorwürfe halte ich für unangebracht. Was hier zu beobachten war, ist ein allseits bekanntes Phänomen, das auf der ganzen Welt auftritt. Fachleute nennen es Verantwortungsdiffusion (ausnahmsweise Wikipedia). Wenn viele Personen an einem Ort sind, fühlt sich niemand verantwortlich. Als ich einmal bei einer Polizeikundgebung mit dem Fahrrad aus Versehen in eine Einbahnstraße widerrechtlich hineinfuhr, konnte ich in aller Seelenruhe an mehreren tausend versammelten Uniformierten vorbeifahren. Niemand fühle sich verantwortlich. Das soll kein Vorwurf sein.

Bleiben wir bei dem U-Bahnvorfall, der sich so ähnlich täglich unbemerkt und ohne Konsequenzen in Deutschland abspielt und immer mehr um sich greift. Da hilft auch nicht der ständige Verweis auf die angeblich gesunkene Kriminalität. Das ist für mich der eigentliche Skandal. Dort wo der Staat versagt, soll auf einmal der Bürger mutige Courage zeigen, dem man ansonsten rät, sich bei Überfällen nicht zu wehren?

Stichwort Zivilcourage: Ein Fahrgast müsste sich dann verantwortlich fühlen, mehrere andere Mitfahrer, nach Möglichkeit stark wirkende Männer auffordern um mit diesen zusammen den Täter beruhigend aber klar und deutlich ansprechen. „Fachleute“, die eine Armlänge Abstand bei solchen krisenbehafteten Begegnungen empfehlen, meiden Sie bitte, wenn Ihnen Ihre Gesundheit lieb und teuer ist. Auf keinen Fall gehen Sie allein zum Täter in dessen unmittelbare Reichweite, es sei denn, Sie sind Karateweltmeister oder sowas ähnliches, oder selbst ein erfahrener Straßenkämpfer und wollen die Eskalation. Einsame Helden sterben als erstes. Möglich und weniger gefahrvoll wäre auch ein Aussteigen mit dem Täter um diesen mit der Polizei am Telefonhörer (falls eine Verbindung gelingt) zu verfolgen. Je größer die Distanz, desto besser. Muss man aber nicht als Bürger. Natürlich sollte man der eintreffenden Polizei als Zeuge zur Verfügung stehen, wenn es denn dazu kommt.

Ich schließe mich der Kritik am Video ausdrücklich nicht an. Natürlich werden dadurch die Persönlichkeitsrechte des Täters verletzt. Ich erinnere daran, dass der zweifache Kindermörder von Mohammed (4 Jahre) und Elias (sechs Jahre), Silvio S. nur dadurch verhaftet werden konnte, da ein Unternehmer entgegen aller Rechtsvorschriften auch den angrenzenden Fußweg im öffentlichen Verkehrsraum mit auf dem Bildschirm hatte. Natürlich kann man beide Fälle nicht vergleichen, es scheint jedoch eine nachhaltige Wirkung des letzten Videos eingetreten zu sein. Gut so.

Ganz gegen meine Erwartung wurde der Täter am 24.01.2018 auf dem Flur des Amtsgerichts Tiergarten festgenommen. Ein Richter entscheidet am darauffolgenden Tag, ob gegen den Hellersdorfer Haftbefehl erlassen wird. Das Ergebnis der Haftprüfung ist mir zum Zeitpunkt der Erstellung des Artikels nicht bekannt.
Glaubt jemand ernsthaft, dass man diese Konsequenz, die ich selbstverständlich begrüße, an den Tag gelegt hätte, wenn es keinen öffentlichen Aufschrei der Entrüstung gegeben hätte – durch das Video? Berlins Justiz ist kaputtgespart, die Polizei dramatisch belastet. All das trägt dazu bei, dass die Zahlen in den Polizeilichen Kriminalstatistiken sinken. Machen wir uns nichts vor.


Steffen Meltzer, Autor von Schlussakkord Deutschland: Wie die Politik unsere Sicherheit gefährdet und die Polizei im Stich lässt