Tichys Einblick
Die vergiftete Gesellschaft

Ein persönlicher Bericht über die Zerrissenheit der Gesellschaft

Meinungsfreiheit, Meinungsvielfalt und Buntheit stehen auf der wehenden Fahne der herrschenden Ideologie. Meist ist damit aber nur die Freiheit der eigenen Meinung gemeint. Aber wenn die bunten Fahnen wehen, wird es den Bunten schnell zu bunt, wenn die falschen Farben dabei sind.

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Ich lernte vor kurzer Zeit in einem Café eine sympathische Dame kennen. Wir scherzten, lachten, diskutierten. Es stellte sich schnell heraus, dass unsere politischen Ansichten unterschiedlich waren. Sie, eine sehr nette linke Sozialarbeiterin, die die hier eingewanderte orientalische Welt betreut, ich ein älterer Herr, der die orientalische Welt bereist und immer wieder auch dort lebt.

So lachten, scherzten und diskutierten wir im Café. Dann verabschiedeten wir uns und verabredeten uns mit Freude zu einem neuen Treff.

Für mich sind unterschiedliche Ansichten bereichernd. Vielleicht weil ich in vielen unterschiedlichen Kulturen gelebt habe, und ich deshalb andere Sichtweisen interessant finde. Denn in jeder Vorstellung, auch wenn sie meiner gegensätzlich ist, finde ich immer auch ein Stück von mir.

Selbst wenn ich eine Meinung ablehne, weiß ich, unter anderen Umständen, unter anderen Einflüssen, würde ich auch nicht anders denken als der andere. So freute ich mich auf ein baldiges Wiedersehen mit meiner neuen Bekanntschaft.

Bald bekam ich folgende Mail:

Lieber Klaus-Jürgen,

ich hoffe, ich überfalle dich nicht zu sehr mit meinen Gedanken, aber sie müssen raus:

Sicher hast du auch meinen kleinen Schreck bemerkt bei unserem letzten Gespräch und ich habe wirklich versucht offen zu sein für dein Argument, eine Alternative zum links-liberalen Mainstream sei gut für die Demokratie. So weit, so gut.

Aber die Nähe dieser Opposition zum Rechtsextremismus und zur Gewalt, die vielen Äußerungen auch von Offiziellen und noch anderes mehr ist weit weg von meinem Verständnis von Demokratie.
Wir sind beide politisch denkende Menschen und sprechen gerne über Gesellschaften und die Welt.
Es würde uns beiden schwerfallen, die zur Zeit aktuellen Themen außen vor zu lassen und letztendlich ist zumindest ein ähnlicher Grundkonsens und eine ähnliche Haltung doch Grundlage für Wohlbefinden.
Immer und immer wieder würden wir an Punkte kommen, wo jeder seinen Standpunkt verteidigt und sich vom anderen aus Überzeugung abgrenzt. Keinen bringt das weiter. Zumindest bei Freunden wäre ich gerne in der Comfortzone.

Du bist ein ganz sympathischer interessanter Mensch, aber ich kann bei diesem „Querdenken“ nicht mit.

Hoffe wirklich, du kannst meine Gedanken nachvollziehen und wünsche dir von Herzen alles Gute.

Viele Grüße
XXX

Und es ist nicht das erste Mal, dass mir Bekannte sagen: In meinem privaten Rahmen will ich Menschen mit anderen Meinungen nicht ertragen. Es sind meist Leute, die selbst entschiedene Toleranzforderungen an andere stellen.

Nun liegt es erst einmal nahe, zu sagen, auf solche Personen kann man gerne verzichten:

Auf Zeitgenossen, die tendenziöse Berichterstattung der Leitmedien für bare Münze nehmen und sich gerne leiten lassen.

Auf Mitbürger, die die Ausgrenzung Benachteiligter durch die Mächtigen beklagen, und dann selbst rabiate Ausgrenzung betreiben.

Auf Personen, die Buntheit fordern, aber dann nur ihre eigene monochrome Meinung ertragen.

Aber sollte man das tun, sollte man auf sie  verzichten? Nein, denn genau diese Leute, diese anderen Meinungen sind eine Bereicherung für einen selbst. Wer sich nicht in Frage stellen lässt, verrennt sich leicht. Das habe ich bei allen meinen Reisen in fremde Kulturen gelernt.

Und hinter allen konträren Ansichten stecken ja Zeitgenossen, die in ihrem Menschsein oft sympathisch und bereichernd sind.

Offensichtlich bleiben aber viele lieber in ihrer Komfortzone, in ihrer Filterblase, da sie sich sonst bedroht fühlen. So umgeben sie sich lieber mit konformen Meinungen, anstatt die Unbequemlichkeit auf sich zu nehmen, sich mit anderem zu konfrontieren.
Das würde allerdings wirkliche Toleranz erfordern und das bedeutet mehr, als Glaubenssätze aufzusagen.

Und was noch bedeutsamer ist: Sie müssten ertragen können, dass jemand in der Sache einer anderen Meinung ist, ihn aber trotzdem menschlich sympathisch finden.
Das ist bei der heutigen Emotionalisierung der Meinungen für viele schwer erträglich.

Das gilt für jegliche Ideologie, natürlich nicht nur für die linke, sondern auch für die rechte und es gilt für jede ideologisch fixierte Religion.

Wie gering muss das Selbstbewusstsein sein, dass es schon bei den ersten Gegenargumenten zerbröckelt. Dann wird es nicht mehr ertragen, den anderen als Menschen mit anderer Meinung zu sehen.

„Ich bin nicht rassistisch, aber …“ viele Bürger leiten ihre Kritik an der herrschenden Meinung mit diesem Satz ein. Was bedeutet das? Das heißt, der Meinungsdruck ist so groß, dass sie meinen, sich erst einmal entschuldigen zu müssen. Von den Meinungsmedien wird ihnen dieser Satz sofort im Munde herumgedreht. Sie unterstellen dem Sprecher, er sage: „Ich bin nicht rassistisch, aber …“, … aber er wäre es in Wirklichkeit eben doch.

Eine befreundete Buchhändlerin hat mit bereits schlechtem Gefühl („mit eingezogenem Genick“) das neue Sarrazinbuch über den Islam in ihrer Auslage. Nun muss sie sich vielen Kunden gegenüber rechtfertigen, einige drohten mit Käuferboykott. Den Rechtfertigungsdruck, eine „falsche“ Meinung zu verbreiten, empfindet sie als immens.

Es geht sogar noch weiter. Ein befreundeter Autor ist ein strikter Gegner des Regierungs- und Medienmainstreams. Entsprechend oppositionell schreibt er. Seine Mutter hat nun Angst um ihn, sie hat Angst, dass ihm etwas passieren könne. Sie kann nicht recht formulieren, wovor sie genau Angst hat. Aber sie bittet ihren Sohn, nicht mehr gegen die Regierung und die Medienmacht zu schreiben. Was sagt uns das? In weiten Kreisen der Bevölkerung herrscht Angst, öffentlich das Falsche zu sagen und dafür bestraft zu werden.

Daher auch der Satz: Das wird man wohl noch sagen dürfen. Er impliziert die Vorstellung, bestimmte Meinungen nicht mehr sagen zu können, dafür belangt zu werden und drückt ein trotzig-ängstliches Aufbegehren aus. Dies wird von der medial herrschenden Schicht besonders lächerlich gemacht, hat sie doch plötzlich Angst, dass ihre Meinungsherrschaft in Frage gestellt wird.

Plötzlich gewinnt das Wort „Fremdenfeindlichkeit“ eine andere Bedeutung. Es ist die Ausgrenzung einer als fremd empfundenen Meinung, die bedrohlich ist, weil sie die Herrschaft des eigenen Glaubens gefährdet. Und die Herrschaft wird heute durch die die Öffentlichkeit beherrschende Meinung begründet.

Meinungsfreiheit, Meinungsvielfalt und Buntheit stehen auf der wehenden Fahne der herrschenden Ideologie. Meist ist damit aber nur die Freiheit der eigenen Meinung gemeint. Aber wenn die bunten Fahnen wehen, wird es den Bunten schnell zu bunt, wenn die falschen Farben dabei sind.

Das ist auf der rechten Seite oft nicht anders. Ich habe auf der Frankfurter Buchmesse versucht, mit Götz Kubitschek, dem Verleger des Antaios Verlags zu diskutieren. Ich habe nur Achselzucken geerntet, seine Mitarbeiter waren sogar aufgebracht über meine Gegenargumente.

Scheinheiligkeit ist ein Kennzeichen von herrschender Ideologie. Ideologie wird benutzt, um sich moralisch überlegen zu fühlen. Derjenige, der diese Überlegenheit angreift, wird als Angreifer gegen die eigene Person empfunden. Für den Ideologen, den Gläubigen, gibt es ein „moralisches“ Recht, diese richtige Moral durchzusetzen. Die mildeste Form ist die Ausgrenzung.

Wie weit ist es mit Deutschland schon wieder gekommen. Nach zwei dunklen Zeiten ist Deutschland kurz davor, in das nächste dunkle Zeitalter abzurutschen. Lassen wir uns nicht entmutigen.

Der Weg der Demokratie ist heute steinig, leicht holt man sich blutige Füße, wenn man Stein des Anstoßes ist.

Bitte schreiben Sie doch Ihre Erfahrungen zu diesem Thema. Die negativen, aber besonders die positiven sind nicht zu vergessen.

Wie ist Ausgrenzung passiert, wie Eingrenzung gelungen?
Was haben sie verloren, was haben Sie gewonnen?


In seinem Buch „So fremd, so vertraut“ schildert K.-J. Gadamer unterhaltsam die Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Kultur. Scheinbar Fremdes wird plötzlich verstehbar und in der eigenen Geschichte verortet.

Zum Multi-Media-Buch gibt es unter gadamers-reisen 19 Fotoshows und Filme