Tichys Einblick
Eine Antwortsuche

Drei Verfassungsrichter gegen Merkel – warum ist sie noch im Amt?

Dass man mit jeglichen rechtlichen Regelungen und politische Standards umschiffenden Aktionen wie der von Merkel nicht weit kommt, zeigt sich mittlerweile nur allzu deutlich. Mit der Situation wie sie jetzt ist, ist keinem geholfen. Weder den Flüchtlingen, noch den Bürgern hierzulande.

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„Der Alleingang der Kanzlerin war ein Akt der Selbstermächtigung“, wird der ehemalige Verfassungsrichter Michael Bertram im Kölner Stadt-Anzeiger zitiert. Damit ist er nach Di Fabio und Papier der dritte ehemalige Verfassungsrichter, der sich kritisch zu Merkels Vorgehen in der Flüchtlingskrise äußert und einen möglichen Verfassungsbruch erkannt haben will.

Nun mag die Zeit für derartige Vorwürfe gerade besonders günstig sein. Die Gefahr der öffentlichen Ächtung ob solch brisanter Aussagen, deren Tragweite als beträchtlich eingestuft werden kann, ist seit den Vorfällen von Köln kaum noch gegeben. Erste Vorwürfe bezüglich eines potenziellen Verfassungsbruches existierten jedoch bereits Monate vorher und hielten sich seitdem hartnäckig. Manch einer fühlt sich daher zu der Frage genötigt, weshalb Merkel sich überhaupt noch so lange im Kanzleramt halten konnte. – Eine Antwortsuche.

Merkel, ein Britney-Song in Dauerschleife?

Mittlerweile verlangt es mir fast Respekt ab, wie Angela Merkel es bis jetzt beherrscht hat, die Deutschen im Griff zu behalten. Jede Kritik der vergangenen zehn Jahre prallte an ihr ab. Nichts warf man der Kanzlerin lange vor. Weder ihre Griechenlandpolitik, noch das Umlenken nach Fukushima. Sie, Angela Merkel, war immer so etwas wie ein guter Radiosong: Nicht schlecht genug, um umzuschalten, aber auch nicht gut, gar außergewöhnlich genug, um in Verzückung das Radio lauter zu stellen. Ein guter Radiosong ist das gesunde, das aushaltbare Mittelmaß. Das war Merkel.

Lange hat man sich als Mensch mit ein wenig mehr Anspruch an die Politik, als einfach nur der Bitte, in Ruhe gelassen zu werden, darüber geärgert, dass man nichts gegen das biedermeierische Merkelland unternehmen konnte, dass einem nichts anderes übrig zu bleiben schien, als Merkel seit nun mehr drei Legislaturperioden auszusitzen. Auch eine vierte Amtsperiode hielt man nicht für unwahrscheinlich und bereitete sich schon einmal resiginierend darauf vor. Konnte man bei einem Song von Avicii oder David Guetta doch noch in letzter Minute als anspruchsvollerer Hörer wegschalten, konnte man im Auto auch stets auf die eigene Apple-Music-Sammlung zurückgreifen, blieb diese Option beim Merkel-Lied aus. Für manch einen wohl eine ähnliche Folter, wie die der Häftlinge in Guantanamo, die laut Berichten des deutschen Ex-Häftlings Murat Kurnaz nicht selten mit Britney Spears in Dauerschleife traktiert worden sein sollten. Merkel, ein Britney-Song in Dauerschleife?

Es kommt darauf an. So scheint ein guter Radiosong erst dann zur Folter zu werden, wenn das Radio kaputt ist und man ihn nicht mehr wegschalten kann, oder, wie im Falle von Kurnaz und seinen Mithäftlingen, keine Entscheidungsgewalt darüber hat, was gehört wird. So oder so ähnlich könnte man das Gefühl umschreiben, was mich in den letzten zwei/drei Jahren mit Merkel als Kanzlerin umgeben hat.

Aber genug der Bösartigkeiten. Das möchte ich eigentlich gar nicht. Denn auch ich muss zugeben, dass ich begonnen hatte, mich in Merkelland wohl zu fühlen. Eine Tatsache, die mir erst in den letzten Tagen, seit dem nichts mehr so wohlig und sicher zu sein scheint und eine Neuordnung der politischen Verhältnisse immer wahrscheinlicher wird, bewusst geworden ist. Nein, über 10 Jahre Merkel sind auch an mir nicht spurlos vorübergegangen. Merkel ist Kanzlerin, seitdem ich 17 Jahre alt war. Davor kam altersbedingt in meinem politischen Bewusstsein nur noch Schröder. Die Bundestagswahl 2009 war die Erste, bei der ich wählen dürfte. Ich wählte Merkel. Vier Jahre später das genaue Gegenteil von ihr. Gebracht oder gar geändert hat das alles nichts.

Die graue Republik und das Versagen der deutschen Parteien
Vom langen Abschied der Volksparteien
Was ich jetzt wählen würde? Zum ersten Mal in meine Leben habe ich keine Ahnung. Ich bin politisch heimatlos, wie Thomas Oppermann sagen würde. Und das nicht nur wegen Merkel. Auch die anderen Parteien haben ihren Anteil daran. Merkel konnte gut verwalten. Nicht zuletzt die Dinge, die Schröder unter Rot/Grün auf den Weg gebracht hat. Nicht selten habe ich mich auch deshalb in den letzten Jahren immer wieder nach Goldkettchen-Gerd, wie ihn mein Weggefährte zu linken Zeiten Volker Pispers immer nannte, zurückgesehnt. Das lag nicht nur an seiner Politik, von der ich sicherlich nicht alles richtig fand, sondern auch und vor allem daran, dass ich mich nach jemandem mit Charakter und Profil zurücksehnte. Nach dem Letzten, der noch so etwas wie eine klare Kante besaß.

Gepoltert und gewettert habe ich in den letzten Jahren viel gegen Merkel. Wie unruhig mich das Gefühl macht, plötzlich vielleicht demnächst ohne sie zu sein, hat mich selbst überrascht. Vermutlich war das der geheime Zauber der Angela M., den ich ihr nie zubilligen wollte. Vielleicht hatte sie doch am Ende viel mehr Mutti-Ausstrahlung, als mir je in meinen spöttischen Äußerungen bewusst war.

Deutschland, das Land der Glückseligen, in dem alles irgendwie läuft. Ich habe das vor allem in meinen linken Zeiten nie bewusst so empfunden, aber eigentlich war es so. Und unabhängig davon, ob und wie viel Angela Merkels Politik Anteil daran hatte, so hat man sie immer unbewusst damit verbunden.

Die Königin der Teflon-Attitüde plötzlich so schwach

Umso fassungsloser ist man jetzt, wo man die Königin der Verwaltung, des In-Ruhe-Lassens und der Teflon-Attitüde plötzlich so schwach erlebt. Zeiten, in denen sich offenbart, dass auch eine Angela Merkel sich grundlegend verzetteln kann und dass sie offenbar nicht die Größe hat, Fehler einzuräumen. Dass sie diese vielleicht nie hatte und dass man das irgendwo vielleicht auch immer wusste. Dass sie es bis jetzt aber auch nicht musste, weil man sie hat mit allem durchkommen lassen.

Und bis vor kurzem schien es so, als würde es auch dieses Mal so sein. Selbst ein seit Monaten unterstellter potenzieller Verfassungsbruch konnte die Menschen nicht dazu veranlassen, wirklichen Druck auf die Kanzlerin auszuüben. Weder von Seiten der Bürger, von all jenen Parteikollegen und 10-Minuten-Klatschern auf dem CDU-Parteitag vor ein paar Wochen, noch – und das ist für mich die größte Schande– von der Presse, war je wirklich ernstzunehmende Kritik an der Politik zu vernehmen (den opportunistischen Horst Seehofer mal ausgeschlossen). Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Essay (ich glaube, es war in der New York Times), welches schon vor einiger Zeit die geschlossene Merkel-Lobpreisung des Deutschen Journalismus monierte. Gerade der Journalismus, so dachte ich immer, müsse doch kritisch mit den Herrschenden ins Gericht gehen. Und ja, auch bei Merkel gab es genug zu kritisieren.

Ich glaube, dass diese journalistische Hofberichterstattung einen erheblichen Anteil daran hatte, dass viele von uns (auch ganz unbemerkt) so bequem und milde im Umgang mit Merkel und der hiesigen Politik geworden sind. Natürlich ist man auch und vor allem in Sachen der politischen Bildung nicht von Selbstverantwortung befreit. Dennoch sollte der Einfluss von Medien, die selbst so eine belanglose Sache, wie eine ESC-Teilnahme eines Künstlers mit zweifelsohne fragwürdigen (privaten!) Ansichten, zur öffentlichen Treibjagd hochschreiben können, nicht unterschätzen.

Nun, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist man, so scheint es zumindest, immer noch nicht so weit, einen möglichen Verfassungsbruch ernsthaft zu diskutieren. Selbst Kristina Schröder hielt bei „Hart aber Fair“ an Merkels Kanzlerschaft fest, selbst wenn ihre Flüchtlingspolitik als gescheitert gelten sollte. Eine eigentlich unfassbare Aussage. Der Ton in der deutschen Presse wird hingegen langsam schärfer. Sollte dem Thema Verfassungsbruch durch die Geschehnisse in Köln und anderen Städten nun endgültig Tür und Tor geöffnet worden sein, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis Angela Merkel gehen muss.

Vielleicht täusche ich mich aber auch. Es ist erstaunlich, wie manche Menschen selbst jetzt noch an ihr festhalten. Hat sie ihre früheren Anhänger vielleicht verloren, fällt diesen spätestens jetzt der Schleier von den Augen, legt sich, so scheint es, eben jener Schleier direkt um die Augen all jener, die bis dato die größten Kritiker der Kanzlerin waren. Zugleich offenbart sich hierbei, das fehlende Rechts- und Staatsverständnis vieler Leute. „Merkels Flüchtlingspolitik war ein beispielloser Akt der Nächstenliebe“, liest man dann zum Beispiel und ist entsetzt.

Die Spaltung des Landes hat drastisch zugenommen

Merkels Flüchtlingspolitik ein Akt der Nächstenliebe? Fast wäre mir beim Lesen dieser Zeilen der Keks aus dem Gesicht gefallen. Kann man es wirklich als Nächstenliebe bezeichnen, wenn man am Ende ein ganzes Land politisch und sozial instabil zurücklässt und nebenbei noch die Europäische Gemeinschaft gefährdet? Und glaubt wirklich jemand, dass die sonst so kühl und rational agierende Kanzlerin in einem plötzlichen Anflug von hemmungslosen Emotionen unbedachte Entscheidungen fällt? Ein für mich zweifelhaftes und mitunter naives Bild der Kanzlerin.

Selbst wenn man gewillt ist, all das zu glauben und Merkel positive Absichten im Gefühlsüberschwang unterstellt, so lässt es doch auf ein merkwürdiges Verständnis der Kommentatoren von Staatlichkeit und Regierung sowie der Frage, wie die Stabilität eines Staates gewährleistet werden kann, schließen. Vermeintliche Nächstenliebe ist kein Freifahrtschein um die rechtliche und rechtstaatliche Ordnung außer Kraft zu setzen. Wenn dem so wäre, könnten wir auch gleich wieder eine Diktatur mit einem vor Nächstenliebe strotzendem Diktator oder Diktatorin einsetzen. Dass man mit solchen, jegliche rechtliche Regelungen und politische Standards umschiffenden Aktionen wie der von Merkel nicht weit kommt, zeigt sich mittlerweile nur allzu deutlich. Mit der Situation wie sie jetzt ist, ist keinem geholfen. Weder den Flüchtlingen, noch den Bürgern hierzulande.

Die Spaltung des Landes hat drastisch zugenommen. Freunde und Gegner der Flüchtlingspolitik stehen sich vielerorts wie verfeindete Banden gegenüber, Bürgerwehren formieren sich, Flüchtlinge werden bedroht wie nie zuvor. All das hätte man mit einer geordneten Flüchtlingspolitik, die vor allem den wirklich Bedürftigen hilft, verhindern können. Wie schnell stattdessen eine vermeintliche Insel der Glückseligen wie Deutschland in ein tief gespaltenes, verunsichertes Land voller Chaos transformiert werden kann, sehen wir jetzt. So etwas als Akt der Nächstenliebe zu bezeichnen grenzt schon an Ironie – wenn es nicht so traurig wäre.

Dennoch werden wohl auch diese Stimmen früher oder später verstummen, während gleichsam die anderen, die einen Verfassungsbruch wittern, immer lauter erklingen werden. Bis jetzt will man den Schritt nach Karlsruhe noch nicht gehen. Wieder versucht man es mit einem Brandbrief als Warnung an die Kanzlerin. Vieles spricht dafür, dass es die Letzte sein wird. Aber was  bzw. wer kommt dann? Wird sich etwas bewegen, wenn man die gleichen Politiker nur einmal ordentlich durchschüttelt? Menschen vom Format eines Schröders gibt es in der Politik schon lange nicht mehr. Von den Schmidts und Brandts will ich erst gar nicht anfangen. Zehn Jahre Merkel-Koma. Da darf man schon einmal ratlos ob einer Zukunft ohne die Kanzlerin sein. Das ist jedoch kein Grund an etwas festzuhalten, was letztlich dem inneren Frieden und der Stabilität eines ganzen Landes schadet.