Schon bei der Bundestagswahl 2017 strebte die Union auf Betreiben von Angela Merkel eine Koalition mit den Grünen an. Dieses Vorhaben scheiterte dann allerdings daran, dass CDU, CSU und Grüne zusammen nicht die erforderliche Mehrheit erreichten – nicht zuletzt aufgrund des Erfolgs der AfD – und die FDP sich weigerte, den deswegen benötigten Mehrheitsbeschaffer für eine schwarz-grüne Regierung zu spielen. Inzwischen haben sich dank Fridays for Future und der Corona-Pandemie die Chancen für eine schwarz-grüne Mehrheit bei der kommenden Bundestagswahl aber deutlich verbessert. Fände diese schon in den nächsten Tagen statt, könnten Union und Grüne zusammen auf 55 bis 60 Prozent kommen und so problemlos eine rechnerisch stabile Regierung bilden. Angesichts dieser Sachlage hat selbst Friedrich Merz bekannt gegeben, er strebe eine schwarz-grüne Regierung an, sollte die CDU ihn zu ihrem Vorsitzenden wählen und CDU und CSU ihn daraufhin gemeinsam zum Kanzlerkandidaten küren.
Die Minister der SPD finden sich so zusammen mit ihrem neuen Führungs-Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zwar regelrecht in ihrem Element sozialdemokratischer Konjunktur- und Sozialpolitik und haben deswegen alle Absichten einer vorzeitigen Beendigung der Koalition mit der Union ad acta gelegt; gleichzeitig leiden sie jedoch sichtbar an dem Umstand, dass die Wähler ihnen ihre Anstrengungen nicht honorieren, und die Grünen bundesweit in allen Umfragen weiterhin deutlich besser abschneiden als die SPD, obwohl sie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie allenfalls auf Landesebene einen eher bescheidenen Beitrag leisten können. Nicht die SPD, sondern die Grünen sollen nach derzeitiger Stimmungslage der Wähler zukünftig gemeinsam mit der Union die Geschicke des Landes leiten, obwohl namentlich die SPD-Minister sich für die eigentlichen Manager und Bewältiger der Corona-Krise halten.
Der Schnellschuss bei der Kür des SPD-Kanzlerkandidaten ist somit wohl eher ein Akt der Verzweiflung angesichts der wachsenden Zustimmung im Wahlvolk für eine schwarz-grüne anstelle einer schwarz-roten Koalition denn ein strategisch durchdachter Schachzug zur Eroberung des Kanzleramtes. Ob er etwas fruchtet, werden die kommenden Umfragen zeigen. Sollte die SPD weiterhin im 15-Prozent-Ghetto stecken bleiben, werden die Tage von Olaf Scholz als neuer Retter der SPD ähnlich schnell gezählt sein wie die seines Vorgängers Martin Schulz. Sollten sich die Umfrageergebnisse der SPD jedoch nach oben bewegen, steigen die Chancen auf eine weitere Runde schwarz-roter Koalition.