Tichys Einblick
Auch Putin wartet noch ab

Die Nawalny-Affäre – ein Krimi mit offenem Ausgang

Im Konflikt um den Mordanschlag auf den russischen Oppositionellen Nawalny und die Frage nach der Zukunft der Gaspipeline Nord Stream 2 spielt Merkel nun die EU-Karte - und damit nur auf Zeit.

imago Images/Itar-Tass

Ein Krimi könnte nicht fesselnder sein. Nur, dass es sich hier um die Wirklichkeit handelt, und gerade deshalb die Dramaturgie des weiteren Geschehens nicht absehbar ist. Doch bei den Auswirkungen des Mordanschlags auf den prominenten Putin-Kritiker Alexej Nawalny hat die Story erst begonnen.

Die erste Phase verlief wie erwartet. Aus dem Kreml hörte man erstmal gar nichts. Im Westen trat eine gewisse Schockwirkung aufgrund der Verruchtheit des Einsatzes einer chemischen Waffe ein. Deutschland reagierte dann vor allen anderen schnell. Kanzlerin Merkel selbst setzte sich ungewohnt deutlich an die Spitze der Kritiker. Sie sprach von einem Verbrechen, verlangte von Moskau schnelle Aufklärung und schloss harsche Maßnahmen der EU nicht aus. Indem die Kanzlerin den Rahmen der anbrechenden Debatte absteckte, übernahm sie zugleich die Kontrolle über deren Verlauf, zumal sie ahnte, dass schon bald auch die eh umstrittene deutsch-russische Gaspipeline „Nord Stream 2“ auf die Tagesordnung kommen würde.

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Nur kurze Zeit nach ihrem ersten Aufschlag legte die Befürworterin des Energie-Deals mit Putin nach. Die Wirtschaftsbeziehungen mit Moskau hätten nichts mit den Vorgängen um den Dissidenten Nawalny zu tun. Eine Sprachregelung, die umgehend von ihren Getreuen in der Union (Laschet, Altmaier und Söder), Spitzenvertretern der deutschen Wirtschaft, der SPD und natürlich auch von Linkspartei und AfD dankbar übernommen wurde. Scharfer Gegenwind kam von den beiden Mitkonkurrenten Laschets im Wettstreit um den zukünftigen Parteivorsitz der Union, Merz und Röttgen. Doch die Kanzlerin, die trotz mancher nebulöser Wendungen am Pipeline-Projekt festhält, wollte auf Nummer sicher gehen. Während sie sich bisher um die Kritik und Einwände der Partnerstaaten in der EU am Russlandgeschäft nicht kümmerte, sollte jetzt das deutsch-russische Großunterfangen in seinem Fortgang eine europäische Angelegenheit sein.

Das Kalkül ist klar. Wie immer in der EU würden die Abstimmungsprozesse sich hinziehen und die Interessen einzelner ein Ergebnis hinauszögern. Das bedeutet Zeitgewinn!

Da stehen wir jetzt. Moskau weist alle Vorwürfe einer Tatbeteiligung zurück und lässt gleichzeitig durch seine Herolde in Deutschland, allen voran die SED-Größen Gysi und Bartsch (s. Anmerkung) die wildesten Legenden verbreiten. Einmal wird der Verdacht auf westliche Geheimdienste gelenkt, dann wieder könnten es wirtschaftliche Interessen der bösen Amerikaner sein, die dahintersteckten. Jedenfalls müsse die Unschuldsvermutung auch für Putin & Co. gelten. Geflissentlich übersieht man dabei, dass es schon eine ganze Reihe ähnlicher Verbrechen mit der gleichen Handschrift und Urheberschaft gegeben hat.

So gesehen ist der Öffentlichkeit auch Frau Merkel noch die Erklärung schuldig, wieso beispielsweise eine Person, die tagsüber Autos verkauft und in der Nacht Autos stiehlt, nicht als eine Person, nämlich eine unseriöse und nicht vertrauenswürdige, behandelt werden soll, sondern fein säuberlich zwischen der Tag- und der Nacht-Erscheinung unterschieden wird. Nun gut, vielleicht kommt das ja noch. (Anmerkung: Die SED wurde niemals aufgelöst, sondern lediglich mehrfach umbenannt, im Falle einer Auflösung hätte nämlich eine Schlussbilanz der Finanzen vorgelegt werden müssen. Die Frage, warum dies nicht geschah, kann sich jeder denkende Mensch selbst beantworten).

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Doch unterdessen geht das Leben weiter. Die innenpolitische Auseinandersetzung wird sich letztlich auf das Ja oder Nein zu Nord Stream 2 fokussieren. Putin wird das Ganze noch eine Weile abwartend beobachten. Wenn der Daumen in Deutschland sichtbar nach unten zeigt, wäre es nicht überraschend, wenn er plötzlich mit einer unerwarteten Lösung aufwartete. Zum Beispiel: Nawalny hätte sich mit islamistischen Terroristen eingelassen und sei in den Drogenschmuggel verwickelt gewesen. Eine Spezialeinheit des KGB sei ihm schon längere auf den Versen gewesen. Letztlich sei es zu Streitigkeiten innerhalb der kriminellen Organisationen gekommen. Der Anschlag auf Nawalny wurde von einem der Clanchefs angeordnet und stümperhaft ausgeführt. Nun aber habe die russische Staatsmacht zugeschlagen. Beim Sturm auf das Versteck der Verbrecher seien mehrere Personen festgenommen, eine Zahl anderer aber auch während des Feuergefechts getötet worden. Das russische Staatsfernsehen präsentierte dann drei übel zugerichtete Wesen, die mit leiser Stimme und gesenkten Köpfen die feige Tat gegen Nawalny gestanden hätten. Putin persönlich dankte den Sicherheitskräften für ihren Mut und ihren Einsatz. Gleichzeitig forderte er die Regierungen des Westens und insbesondere Deutschlands auf, sich umgehend für die bösartigen Anschuldigungen gegen das friedliebende russische Volk zu entschuldigen und die Arbeiten an Nord Stream 2 sofort wieder aufzunehmen.

Und tatsächlich ist dieses Projekt in seiner Bedeutung weitaus mehr als eine reine Erdgastraße. Im Ergebnis würde es die Karten in Europa neu mischen und die Handlungsfähigkeit der EU infolge russischer Dominanz auf Dauer einschränken und gleichzeitig das transatlantische Verhältnis irreparabel beschädigen.

Das russische Außenministerium sprach von „grundlosen Angriffen“ auf Russland und einer „Desinformationskampagne“. Außenminister Sergej Lawrow verkündete im russischen Fernsehen nur, dass Russland natürlich auf ausländische Sanktionen mit Gegenmaßnahmen reagieren werde. Aber Putin selbst hält sich zurück, wartet ab, wie sich die Diskussion in Westeuropa und Deutschland weiterentwickelt. Der äußersten Rechten und Linken kann er sich sicher sein, großer Teile der SPD auch. Nur die Union ist noch nicht entschieden. In dieser zentralen, ja außenpolitisch wichtigsten Frage der Nachkriegszeit, könnte es nicht nur zu einer Zerreißprobe innerhalb der CDU/CSU kommen, sondern ganz nebenbei auch Röttgen, als d e n atlantisch orientierten Außenpolitiker seiner Partei plötzlich in neuem Glanz erstrahlen lassen. Doch wie gesagt – alles ist offen.

Donald Trump wartet ebenfalls ab. Er verkündete allerdings vorsichtshalber ein weiteres Mal, dass er nicht verstehen könne, wie Deutschland amerikanischen Schutz vor Russland erwarte, und zugleich eben dieses Russland mit Milliarden-Beträgen unterstützen wolle und sich zudem in dessen energiepolitische Abhängigkeit begebe.

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