Tichys Einblick
"Sozialisten in allen Parteien"

Der Graben zwischen „Liberalismus“ und „Konservativismus“ ist heute unüberbrückbar

In vielen westlichen Ländern existiert ein politischer Graben. Ist er im Reich der Ideen weniger tief? Zumindest gab es da einige Übergänge. Von Karl-Peter Schwarz.

imago images / blickwinkel

Anne Applebaum zählt zu den prominentesten liberalen Intellektuellen. Die amerikanische Journalistin schrieb mehrere Bücher über die Sowjetunion und Osteuropa, für ihre Geschichte des Gulags erhielt sie den Pulitzerpreis. Mit Polen ist Applebaum besonders gut vertraut. Radek Sikorski, ihr Mann, war unter anderem Verteidigungs- und Außenminister und vertritt die oppositionelle liberale Bürgerplattform (PO) im Europäischen Parlament.

Im Sommer erschien ihr jüngstes Buch: „Twilight of Democracy“ (Zwielicht der Demokratie). Es beginnt mit einer Silvesterparty zur Jahrtausendwende, zu der das Paar hundert Freunde in ihr Haus in der Woiwodschaft Pommern eingeladen hatte: Politiker und Journalisten, allesamt Antikommunisten, allesamt Befürworter der NATO-Mitgliedschaft und des Beitritts Polens zur EU. Dies habe man damals unter „rechts sein“ verstanden.

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„Fast zwei Jahrzehnte später würde ich auf die andere Straßenseite wechseln, um einigen der Leute nicht zu begegnen, die auf meiner Neujahrsparty waren. Die wiederum würden sich nicht nur weigern, mein Haus zu betreten, sondern es wäre ihnen sogar peinlich zuzugeben, dass sie jemals dort waren.“ Eine tiefe Kluft trenne ehemalige Freunde nicht nur in Polen und Ungarn, sondern in vielen Ländern der EU, in England und in Amerika. Auf der einen Seite aufgeklärte, multilateral und multikulturell orientierte Demokraten (unter ihnen Merkel und Macron), die die liberale Ordnung verteidigten, auf der anderen Populisten, nostalgische Konservative, bornierte Nationalisten und autoritär strukturierte Machtmenschen wie Orban, Trump und Johnson, die von „wütenden, rachsüchtigen, mit Ressentiments geladenen“ Verlierern des gesellschaftlichen Wandels gewählt würden. Diese neuen Rechten seien gegen Immigration, insbesondere gegen jene aus muslimischen Ländern, propagierten ein sozial konservatives und religiöses Weltbild und misstrauten supranationalen Institutionen, insbesondere der EU.

Der Philosoph Ryszard Legutko gehört zu den polnischen Intellektuellen, vor denen Applebaum auf die andere Straßenseite wechselt. Legutko vertritt die polnische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Europäischen Parlament. In seinem Buch „Der Dämon der Demokratie. Totalitäre Strömungen in liberalen Gesellschaften“ (Karolinger Verlag, Wien 2017) behauptet er, die enge Verwandtschaft zwischen Liberalismus und Kommunismus habe es den Kommunisten nach der Wende leicht gemacht, das neue Paradigma von Markt, Demokratie und Multinationalismus zu übernehmen. An die Stelle des Ziels der klassenlosen Gesellschaft seien Säkularisierung und Europäisierung getreten. Was auch immer dem im Wege stehe, werde als rückständig bekämpft und mit der „Auslöschung durch die Geschichte“ bedroht, ganz besonders die Familie, die Nation und die Religion. Der Liberalismus, glaubt Legutko, habe seine „Tyrannei“ in ganz Europa errichtet.

Hayeks Warnung vor „Sozialisten in allen Parteien“

Einig sind sich Legutko und Applebaum darin, dass die Kluft zwischen „Liberalismus“ und „Konservativismus“ heute unüberbrückbar sei. Im 19. Jahrhundert bekämpften Konservative und Liberale einander erbittert; im 20. Jahrhundert setzten sie sich gemeinsam gegen den Totalitarismus zur Wehr, zuerst gegen den roten, dann an der Seite der Linken gegen den braunen, nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich wieder gegen den roten; seit dem Ende des Kommunismus stehen sie sich wieder als Gegner gegenüber, als wollten sie zu ihren Ursprüngen als politische Bewegungen in der Ära der Französischen Revolution zurückkehren.

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Liberale Parteien haben ihr Profil häufig geändert. In Deutschland, Österreich und Italien mutierten Liberale in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zu Nationalisten und Imperialisten, während sie eine militante und gar nicht liberale Kampagne gegen die katholische Kirche führten. In England pflegten sie ein entspanntes Verhältnis zur Religion und vertraten ihre Werte im konservativen Lager. Heute gibt es liberale Konservative und konservative Liberale sowie Rechts-, Links-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturliberale. Man findet Liberale heute so häufig wie die „Sozialisten in allen Parteien“, vor denen Friedrich August von Hayek gewarnt hatte („Der Weg zur Knechtschaft“, 1944).
Der „Liberale“ soll wissen „wohin wir uns bewegen sollen“?

Oft wird in einschlägigen Debatten das Nachwort zu Hayeks „Verfassung der Freiheit“ zitiert, das in der amerikanischen Erstausgabe (Chicago, 1960) unter dem Titel „Why I Am Not a Conservative“ erschien. Hayek stellte ihm ein Zitat von Lord Acton voran: „Zu allen Zeiten sind wahre Freunde der Freiheit selten gewesen und ihre Triumphe waren Minderheiten zu verdanken, die sich durchgesetzt haben, weil sie sich mit Hilfstruppen verbündeten, die oft andere Ziele verfolgten als sie selbst.“ Anders als der Liberale, argumentierte Hayek, könne der Konservative „seiner ganzen Natur nach keine Alternative bieten ( ) zu der Richtung, in der wir uns bewegen“. Der Liberale hingegen wisse, „wohin wir uns bewegen sollen“. Bei diesem Satz läuten wohl nicht nur bei Legutko die Alarmglocken, denn ähnlich hatte Karl Marx den Kommunisten im „Manifest“ (1848) die „Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate (der) geschichtlichen Bewegung“ zugeschrieben.

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Dabei war Hayeks Nachwort, das in der 1971 erschienenen deutschen Übersetzung nur noch „Konservativismus und Liberalismus“ heißt, bereits ein Wendepunkt in seinem Denken. Sein Liberalismus, schrieb er, habe wenig mit irgendeiner politischen Bewegung zu tun. Es sei ihm immer mehr bewusst geworden, „welch große Kluft zwischen meinem Standpunkt und dem rationalistischen kontinentalen Liberalismus“ bestehe. Nicht nur waren Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die sich in den 1980er Jahren an Hayeks Reformvorschlägen orientierten, durch und durch konservative Politiker. Auch Hayek selbst modifizierte seine politische Theorie, indem er typisch konservative Positionen integrierte.
Liberale können nicht auf konservative Werte verzichten

Es wäre Hayek sehr schwergefallen, sein Spätwerk vom Konservativismus abzugrenzen, bemerkte James Buchanan in einem kurzen Essay unter dem Titel „Warum auch ich kein Konservativer bin“ (2005). Hayek habe sich eine evolutionäre Sicht zu eigen gemacht und andere Liberale als „Konstruktivisten“ klassifiziert. Dies, meinte Buchanan, gefalle natürlich auch den Konservativen.

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Doch auch Buchanan glaubte nicht, dass Liberale auf konservative Inhalte verzichten könnten: „Der christliche Glaube mit seiner Betonung der Selbstverantwortung und Unabhängigkeit ist zum klassischen Liberalismus komplementär. In dem Maße, wie Gott zurückkehrt, wird die Abhängigkeit des individuellen Bürgers vom Staat schwinden; jedenfalls so lange, wie religiöser Eifer nicht zu politischem Druck auf jene führt, denen es am entsprechenden Glauben mangelt. Die Trennung von Kirche und Staat dürfte derartigen Eifer in Schach halten.“ („Restoring the Spirit of Classical Liberalism“, 2005).

Auch Konservative bekennen sich zur bürgerlichen Eigentumsordnung und ihrem Kern, der freien Verfügung über das Privateigentum. „Keine soziale Klasse hat die anderen unverschämter ausgebeutet als die, die sich heute selbst Staat nennt“, liest man etwa bei Nicolas Gomez Davila, der weiß Gott kein Liberaler war. Im Reich der Ideen ist die Wand zwischen dem klassischen Liberalismus und dem Konservativismus durchlässiger, als es Anne Applebaum und Ryszard Legutko suggerieren.

Auf Privateigentum beruhende Gesellschaften prosperieren

Die „liberalen Demokraten“ von heute treten für eine multilateral gesteuerte Weltordnung ein, die sich über Nationen, Traditionen und Religionen hinwegsetzt. Darin ähneln sie der postmarxistischen Linken. Konservative hingegen lehnen es ab, historisch gewachsene durch konstruierte Ordnungen zu ersetzen. Das verbindet sie mit dem klassischen Liberalismus, der als eigenständige politische Bewegung scheitern musste, weil er aus sich heraus keine kollektiven Ziele definieren kann. Was bleibt ist die Einsicht, dass eine auf Privateigentum beruhende Gesellschaft nicht nur wirtschaftlich prosperiert, sondern auch die Individualität und die Freiheit der Bürger am besten bewahrt.


Dieser Beitrag von Karl-Peter Schwarz erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

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