Tichys Einblick
Diskreditierte Idee

Die Europäische Union nimmt Abschied

Die EU verabschiedet sich von der Demokratie, der Gleichberechtigung der Mitgliedstaaten, der freien Marktwirtschaft und dem Vereinigten Königreich - und vor allem ihrem historisch-kulturellen Substrat, schreibt der Historiker David Engels.

Mike Kemp/In Pictures via Getty Images

Schon im antiken Rom empfanden die Bürger es erniedrigender, wenn der Senat oder der Kaiser ihnen ein republikanisches Mitspracherecht vorgaukelten, als wenn er seine tatsächliche Autorität offen und ehrlich ins Spiel brachte: Sich dem äußeren Zwang zu unterwerfen, schien ihrem Selbstwertgefühl weniger abträglich zu sein als die tägliche Herausforderung, den Willen der Herrschenden erahnen zu müssen, um ihnen dann „freiwillig“ entgegenzuarbeiten und noch dafür danken zu müssen, dass sie sich in den Dienst des vermeintlichen bürgerlichen Konsenses setzten. So kann denn manche offen zur Schau getragene Tyrannis für die geistige und politische Gesundheit einer Gesellschaft langfristig besser sein als die tägliche Erniedrigung einer als Demokratie getarnten Oligarchie.

In diesem Sinne darf man der EU vielleicht sogar dankbar sein, in den vergangenen Monaten viel zur Klärung jener Ungewissheiten beigetragen zu haben. Bereits seit einigen Jahren hat der Selbstanspruch, doch nur das „Beste“ der „Menschen“ zu wollen, zunehmend Risse gezeigt, und wenn die Probleme unserer Zeit auch scheinbar nur, wie ein ehemaliger Bundespräsident formulierte, bei den „Bevölkerungen“, nicht aber den „Eliten“ zu verorten sind, zeigt der zunehmende Erfolg konservativer und EU-skeptischer Parteien, dass es den europäischen Eliten immer weniger gelingt, ihre Wohltaten adäquat zu (v)erklären. Die Ereignisse der letzten Monate haben dem Fass allerdings den Boden ausgeschlagen: Die Farce um die neue EU-Kommission, die flagrante Ungleichberechtigung verschiedener EU-Mitgliedstaaten, die stille Enteignung der Sparer durch die neue EZB und der Brexit dürften auch die letzten Zweifel darüber ausgeräumt haben, dass die real existierende EU dem europäischen Gedanken eher schadet als ihn fördert.

Der Vorwurf des Demokratiedefizits der EU ist mindestens so alt wie der Versuch, aus einem Staatenbund einen Bundesstaat zu basteln, und zwar nicht auf Grundlage einer (vor ein paar Jahrzehnten gar nicht so unwahrscheinlichen) breiten Zustimmung der Bürger, sondern unzähliger bewusst herbeigeführter Sachzwänge, welche aus der verwaltungstechnischen Einheit allmählich die politische ableiten. Die im Vorfeld der EU-Wahlen breit beworbene Idee des „Spitzenkandidaten“ für den Kommissionsvorsitz schien zunächst ein Schritt in die richtige Richtung, stellte sich aber dann nur als PR-Coup heraus, um EU-Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen: Einmal die gewünschte Mehrheit erzielt, konnte man das vollmundige Versprechen einer Demokratisierung der Kommission fallenlassen und zur üblichen Hinterzimmerdiplomatie zurückkehren. Dass sich als Resultat dieses Vorgehens seit einigen Wochen plötzlich zwei Damen auf den höchsten EU-Positionen wiederfinden, die sich nicht nur unter dem dringenden Verdacht von Korruption und Veruntreuung befinden und innenpolitisch hoch belastet sind, sondern auch in ihrer Laufbahn stets die Interessen der Bürger denjenigen der herrschenden Ideologie unterordneten, dürfte kaum zu einem Nachlassen des EU-Skeptizismus vieler Bürger führen und zeigt zudem, wie sehr die EU seit dem Ausscheiden Großbritanniens zur Verfügungsmasse des deutsch-französischen Kartells geworden ist.

Denn dies ist eine weitere Lehre der letzten Wochen: In der Union freier und gleicher Mitgliedsstaaten sind einige offensichtlich freier und gleicher als andere. Während die EU überall auf der Welt für die Rechte verschiedenster Minderheiten eintritt, fühlt sie sich für die polizeistaatliche Niederwerfung der friedlichen katalanischen Unabhängigkeitsbewegung kurioserweise nicht zuständig; und während jeder noch so kleine angebliche Verstoß sogenannter illiberaler Demokratien gegen die „europäischen Werte“ zu breit zur Schau getragener Besorgnis und Sanktionsdrohungen Anlass gibt, wie kürzlich wieder im Falle Polens, ja sogar zur offenen Unterstützung von Oppositionsparteien im Wahlkampf führt, gilt es als „innere Angelegenheit“ Frankreichs, wenn monatelang mit brutalster Gewalt jeden Samstag die Gelbwesten niedergeknüppelt werden – nicht auszumalen, welche Maßnahmen seitens der EU ergriffen worden wären, wenn auch nur ein Bruchteil jener Ereignisse sich in Warschau oder Budapest abgespielt hätte…

Die wohl größte Katastrophe der EU: der Brexit

Auch die Fortsetzung der mehr als bedenklichen Finanzpolitik des kürzlich mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichneten scheidenden EZB-Präsidenten zeigt deutlich, wo die Prioritäten der EU liegen. Nachdem die Schulden einzelner Mitgliedstaaten zunächst durch eine völlig überzogene Austeritätspolitik in schwindelnde Höhen getrieben wurden, setzte die Überflutung der Finanzmärkte mit billigem Geld und die Vernichtung des Zinsmechanismus ein, wodurch nicht nur der erneute Ausbruch von Schuldenkrisen verhindert werden sollte, sondern auch deren Lösung zu einem Ding der Unmöglichkeit gemacht wurde; mit der Folge einer faktischen Umwälzung des Schuldenproblems von den Großbanken auf den Steuerzahler und eines larvierten Übergangs von der Markt- zur Planwirtschaft – wenn auch auf Basis einer extremen Fragilität gegenüber äußerem Druck, welche früher oder später entweder eine noch größere Gängelung der freien Wirtschaft oder einen völligen Zusammenbruch der bisherigen ökonomischen Strukturen hervorrufen muss.

Der große Graben in der Gesellschaft
Zweierlei Demokratie
Und schließlich der vollzogene Brexit, die wohl größte Katastrophe der EU – nicht nur, weil sie eindrucksvoll gezeigt hat, wie leicht eine moderne Demokratie in einen Zustand völliger Paralyse versetzt werden kann, sondern auch, weil sie ein Menetekel für die Unfähigkeit der EU ist, jene breite Zustimmung zu erlangen, die sie ihrem Eigenanspruch gemäß verdient hätte. Zwar ist zweifelhaft, inwieweit der Brexit dem Vereinigten Königreich tatsächlich jene erhoffte Selbstständigkeit zurückgeben wird und nicht nur, was wahrscheinlicher ist, eine dezent kaschierte Umstrukturierung der bestehenden Abhängigkeiten. Deutlich ist aber, dass das Narrativ von der (angeblich) offenen, multikulturellen, pluralistischen, liberalen, globalisierten und demokratischen Gesellschaftsordnung nicht mehr verfängt, und an seine Stelle der Wunsch nach einer Rückkehr zu alterprobten Ordnungssystemen getreten ist – auch wenn dies einen tragischen Rückbau jener heute bitter notwendigen gesamteuropäischen Schicksalsgemeinschaft impliziert.
Die EU ist zu einem rationalistischen weltstaatlichen Projekt geworden

Hier kommen wir wohl zum größten Versagen der EU: Anstatt ihre Identität explizit auf den Grundlagen der griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Tradition aufzubauen, die politische, wirtschaftliche und soziale Integration des Kontinents auf die Gemeinsamkeiten unserer von Lissabon bis Vladivostok geteilten abendländischen, „hesperialistischen“ Zivilisation zu gründen und daraus auch die Verpflichtungen und Leitlinien weiteren Agierens abzuleiten, ist die EU zu einem rationalistischen weltstaatlichen Projekt mutiert, das mit seinem tatsächlichen historisch-kulturellen Substrat nur noch wenig zu tun hat und auch noch stolz ist auf diese scheinbare „Unparteilichkeit“. Indem Politik zunehmend durch das Eintreten für tatsächliche oder selbsternannte ethnische, religiöse, geschlechtliche oder sonstige „Minderheiten“ moralistisch verbrämt wird und faktisch weitgehend den Interessen einer kleinen politischen und wirtschaftlichen Elite in die Hände spielt, anstatt die Interessen der überwältigenden Masse der „normalen“ europäischen Bürger zu verteidigen, ist die EU dabei, die europäische Idee an sich zu diskreditieren. Wenn die Maske fällt und die Fronten sich klären, wird sie diesen Verrat an unserem historischen Erbe teuer bezahlen müssen – und der Bürger mit ihr.


David Engels ist Professor für Römische Geschichte an der Freien Universität Brüssel und Forschungsprofessor am Instytut Zachodni in Posen (Polen). 


Dieser Beitrag ist zuerst bei Die Tagespost erschienen.