Tichys Einblick
Die Wahl der Qual:

Der Wahltag wird Tag eins von Merkels Vermächtnis

Deutschland erwartet eine rotgrüne Regierung. Das ist das Ergebnis von 16 Jahren Niedergang und Verwahrlosung unter Merkel. Unter ihr hat die CDU das Milieu gefüttert, das sie selbst erbittert bekämpft. Merkels Zeche hat Laschet nun zu begleichen.

Angela Merkel und Armin Laschet beim Festakt zum 75. Geburtstag des Landes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, 23.08.2021

IMAGO / Future Image

Nach der jüngsten Wahlumfrage von INSA für Bild (30.08.2021) kämen CDU und CSU nur noch auf 20 Prozent, während die SPD 25 Prozent der Stimmen erhielte. Die Grünen haben ihren Zenit überschritten und würden nur noch 16,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können, während die AfD bei 11 Prozent verharrt. Die Linke mit ihren 7 Prozent müsste langsam beginnen, um ihren Wiedereinzug zu bangen. Bei der letzten Bundestagswahl 2017 vermochte sie noch, 9,2 Prozent einzufahren. Die FDP darf sich bei 13,5 Prozent sonnen. 

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Freuen dürfen sich auch die SPD und die Grünen über die Werte der FDP, denn sie machen eine rotgrüngelbe Koalition wahrscheinlich, also eine rotgrüne Koalition mit einem gelben Alibi. Denn die FDP wird nur dazu benötigt, den bürgerlichen Wähler zu beruhigen. Doch diese Beruhigung würde doppelt teuer ausfallen, denn die FDP wird für das viele, was sie abnicken soll, auch einen Preis verlangen. Man erinnert sich noch an die „Hotelsteuer“, diesmal wird es ein eigenes schickes Digitalministerium werden, in dem sich FDP-Funktionäre beruflich selbstverwirklichen dürfen. Zudem wetteifern Grüne und FDP darum, wer in der Migrationspolitik und wer in der Desavouierung von heterosexueller Ehe und Familie die Nase vorn hat. Jede Stimme für die FDP ist demzufolge eine Stimme für Rotgrün.

Ich wollte, es wäre anders. Ich wollte, wir hätten eine wirklich liberale Partei. Ob sich die Roten und die Grünen am Ende für die FDP oder für die Linke entscheiden, liegt am Kräfteverhältnis von SPD und Grüne und an der Willfährigkeit der FDP, die man unter Lindner nicht unterschätzen sollte. 

Wenig Präsenz in den Straßen
Wo sind die Plakate-Kleber für Laschet und die CDU geblieben?
Wenn man die Stimmen Links der Mitte zusammenzählt, dann kommt Rotrotgrün auf 48,5 Prozent, die Parteien Mitte-rechts nur noch auf 44,5 Prozent. Im Jahr 2017 rangierten die Mitte-rechts-Parteien mit 56,3 gegenüber 38,6 Prozent der Stimmen weit vor den Linksparteien. Blickt man auf die Zahlen, entsteht der Eindruck, dass zum ersten Mal in Deutschland eine linke Mehrheit existiert. Nach diesen Zahlen wäre auch eine rotgrünrote Koalition möglich, doch der Unterschied der Politik einer rotgrüngelben Koalition und einer rotgrünroten Koalition würde nur marginal sein. Dabei stehen diesmal nicht Realisten wie Gerhard Schröder und Joschka Fischer an der Spitze der SPD und der Grünen, sondern Utopiker wie Saskia Esken, Norbert Walter-Bojahns, Kevin Kühnert, Annalena Baerbock und Robert Habeck. 

Ist die deutsche Gesellschaft weiter nach links gerückt, hat unter Angela Merkel ein Linksruck stattgefunden? Hat eine Mehrheit in diesem Land das „Narrenschiff Utopia“ bestiegen, vor dem Franz Josef Strauß warnte?

In Deutschland gilt: Wer über Jahre hinweg nicht wesentlich schlechter geworden ist, ist irgendwann einmal der beste. Angela Merkel war nie gut für Deutschland, ihre Kanzlerschaften bedeuten für das Land nicht einmal verlorene Jahre, nicht nur Jahre des Stillstandes, das wäre ja noch erträglich, sondern Jahre grüner Dekadenz, Jahre einer Wohlstandsverwahrlosung, die durch den irrationalen Wunsch nach Ablass sediert wird.

Allerdings sollen, so rational ist man dann immerhin, die anderen den Ablass, den man sich gönnt, bezahlen, die Unterschicht und der alte Mittelstand, den die Woken, die sich für die Elite der Gesellschaft halten, verachten. Seit Jahren wird schamlos in den Medien, in der Kultur und in der Bildung Framing, Propaganda und Indoktrination betrieben. Das zeigt auf Dauer Wirkung. Außerdem ist es den Linksliberalen und Linken unter tätiger Mithilfe der CDU und der FDP gelungen, alles, was nicht links ist, als „rechts“ zu labeln und im „Kampf gegen Rechts“ werden inzwischen Milliarden Euro Steuergeld an die Fußtruppen der Linksliberalen namens NGOs und an linksliberale und linke Think Tanks verteilt.

Unter der Kanzlerin Angela Merkel hat die CDU das Milieu geschaffen, von dem sie erbittert bekämpft wird. Für diese gesellschaftspolitische Meisterleistung, den politischen Gegner groß zu machen und die politischen Verbündeten zu bekämpfen, kann man der Merkel-CDU nur gratulieren. Es ist Merkel Zeche, die Laschet nun zu begleichen hat. Weil er mit an ihrem Tisch sitzt – nach wie vor –, geht die Rechnung an keinen Unschuldigen, auch wenn er nicht bestellt hat. 

CDU-Kandidat im Triell
Armin Laschet scheitert an seinem ungeklärten Verhältnis zur Kanzlerin
Sicher, der apokalyptische Ton, der in die Politik und in die Medien Einzug gehalten hat, das ständig erzeugte Bild vom Corona- oder vom Klimatod vor Augen erzielt ebenfalls Wirkung. Viele Schulen haben sich von der weltanschaulichen Neutralität verabschiedet und sind zur Indoktrination übergegangen. Man beginnt bereits, Lehrbücher zu gendern. Der Wohlstand bestimmter Schichten, womit Dekadenz und Übersättigung zusammenhängen, lähmt Deutschland. Alfred Andersch schrieb einmal vom behäbig aufgeblasenen Volk der Mitte. 

Die deutsche Gesellschaft kämpft erbittert darum, von Kämpfen verschont zu bleiben. Eine normale politische Richtung – wie rechts – wird wie unter den Kommunisten nicht nur verpönt, sondern deshalb erbittert bekämpft, weil man sich nicht mehr argumentativ auseinanderzusetzen wünscht und „Diskussionsorgien“ (Angela Merkel) verabscheut. Wer nicht links ist, wird gnadenlos attackiert, diffamiert, kulturell gecancelt und es werden ihm die Möglichkeiten zur Veröffentlichung, wenn nicht verwehrt, so doch zunehmend erschwert. All das erzielt natürlich die erwünschte Wirkung. Auch die Politik der Spaltung, die Merkels wichtigstes Herrschaftsmittel ist.  

Aber zieht man all das zusammen, erklärt es dennoch nicht ganz die Zahlen. Ihren plötzlichen Höhenflug verdankt die SPD dem Versagen der Grünen in der Kanzlerfrage. Entnervt schalteten viele Medien von Annalena Baerbock schließlich auf Olaf Scholz um. Seine Rolle bei den Cum-Ex- und Wire-Card-Skandalen und sein Versagen bei den Gewalttaten zum G 20 Gipfel in Hamburg verdrängen die Medien geschickt, um Scholz ein Image von Kompetenz zu verschaffen. Auch Scholz selbst glaubt anscheinend inzwischen den Medien, scheint Cum-Ex, Wire-Card und G 20 Gipfel in Hamburg erfolgreich verdrängt zu haben, denn beim Triell liebte er die Wendung: „Ich und die Kanzlerin“, als ob er der Sonnenkönig ist und Angela Merkel nur seine Bedienstete.

Wenn das stilistische Fiasko von „Ich und die Kanzlerin“ dem Wähler nicht die Augen öffnet, dann ist ihm wohl nicht mehr zu helfen. Denn jemanden zu wählen, der sich zuerst nennt, sollte man tunlichst unterlassen, denn der sagt auch: „Ich und Deutschland“ oder „Ich und die Deutschen“ und schließlich „Ich….und weiter gar nichts.“ 

Damit erklärt sich zwar der Höhenflug der SPD, aber noch nicht der des linken Lagers. 

Praktische Vernunft genügt nicht
Laschets „Klimapolitik“ kann im Wahlkampf nicht zünden 
Es mag eine Wahrheit sein, die allerdings nicht zum Feiern Anlass gibt, dass die Deutschen wohl keinen Intellektuellen, keinen Denker, keinen Tatkräftigen für die Spitze Deutschlands suchen.  Dem ersten misstrauen sie, außerdem gibt es kaum noch einen in der politischen Kaste, der den Anspruch erheben darf. Den zweiten verstehen sie nicht, weil er realistisch und deshalb komplex agiert. Und den dritten fürchten sie. Sie lieben nicht den „Macher“, sondern denjenigen, der als Macher erscheint. Nicht den Tatkräftigen, sondern denjenigen, der Tatkraft durch Bewegungslosigkeit ersetzt, der Kurs hält, wohin der Kurs auch führen mag.

Die Deutschen lieben den rasenden Stillstand. Sie lieben denjenigen, der ihnen erklärt, dass alles anders und modern wird, und sich dabei für sie nichts ändert. Sie lieben denjenigen, der ihnen ein gutes Gefühl verschafft. Sie wollen eigentlich Angela Merkel nicht mehr und wollen doch Angela Merkel behalten. Und so wird ihnen Olaf Scholz zum Merkel-Ersatz, nur dass Merkel nicht das reine Aushängeschild des Parteiapparats war, das Scholz ist. Denn Olaf Scholz ist so etwas wie das Capri-Sonnen-Motiv auf dem Ökogetränk rotgrüner Planwirtschaft. 

Um den Aufstieg des Olaf Scholz zu verstehen, hilft ein Blick in das klassische  japanische Theater, das auf festen Rollentypen basiert. Auch die weiblichen Figuren werden von Männern dargestellt. Ein berühmter Schauspieler, der eine alte Frau spielte, die gerade erfahren hatte, dass ihre Söhne ermordet worden waren, und den das Publikum für die ergreifende Darstellung verehrte, wurde gefragt, wie ihm die realistische Darstellung des tiefen Leides gelang. Er antworte, dass es sehr einfach wäre, er ginge langsam seinen Weg von einem Ende der Bühne zum anderen, wende sich hin und wieder mit ganzem Köper um, weil die Wirbelsäule wegen des Alters fest war, und verschnaufe wegen der Beschwerlichkeit des Gehens auf halbem Weg. Das wäre alles. Der Rest wäre das, was das Publikum auf Grund seines Wissens in ihn hinein sehen würde.

Union und Kanzlerkandidat im Tief
Wenig prominente CDU-Politiker sollen Laschet retten
Ein nicht geringer Teil des Erfolgs von Olaf Scholz besteht genau darin, dass er eine ideale Projektionsfläche darstellt, dass viele Wähler in Olaf Scholz genau das hineinsehen, was die Medien ihnen bewusst oder unterbewusst suggerieren, irgendwie eine neue Angela Merkel. Mit Scholz wird Kompetenz, mit Laschet Streit, mit Scholz Gelassenheit, mit Laschet Nervosität verbunden. Scholz wird von der Partei wie ein Denkmal getragen, hinter dem alle anderen verschwinden, unsichtbar werden, Laschet hingegen wurde allein gelassen und steht auch allein auf weiter politischer Flur. Der Wähler spürt, dass ihm der Beistand der eigenen Partei fehlt. Als Beobachter hat man nicht das Gefühl, dass man im Konrad Adenauer Haus für ihn kämpft. Die Merkelgetreuen bereiten sich auf das Ende ihrer Ära vor, die Parteibürokraten und Apparatschiks halten sich zurück. Es scheint, als kämpften mit vollem Einsatz nur die Merz-Anhänger für Laschet. Es ist in der öffentlichen Wirkung ein einsamer Kampf, den der Kanzlerkandidat führt. Ob ein Wimmelbild hilft? Auch ein Wimmelbild kann den Eindruck der Einsamkeit verstärken. So erinnert Armin Laschet im Wahlkampf an Johann Ohneland, der auch ein viel besserer König von England war, als die Fama kündet. Johann Ohnelands Biographie verfassten dessen Feinde. 

Von fern aus Bayern schaut derweil der beleidigte Franke dem Scheitern seines Rivalen zu, ohne zu begreifen, dass Laschets Scheitern auch sein Scheitern wäre, das Scheitern der Union, das Scheitern Deutschlands. 

Darin besteht der eigentliche Grund für eine Mehrheit des linken Lagers. Armin Laschet fehlt die Unterstützung der Basis und des Apparats seiner Partei. Letzteres ist besonders bitter, hat er dem Apparat doch die Wahl zum Parteivorsitzenden zu verdanken. Doch alle jene, die ihre politischen Spielchen pflegen, sollten wissen, dass sie eine Tür öffnen, die den Sturm ins Haus blasen lässt. Sie gefährden ihre Partei. 

Eigentlich vermag die CDU, einen Teil ihrer Wählerschaft aus zwei Gründen nicht mehr zu mobilisieren. Und nur am ersten trägt der Kandidat die Schuld. Laschets Vorteil, ein Mann des Apparats zu sein, gereicht ihm nun zum Nachteil. Er hat sich nie im Wahlkampf von Angela Merkel befreien können. Er wollte eine eigene Statur unter Merkels Regenschirm gewinnen, doch der Regen kommt diesmal nicht von oben, sondern von vorn. Angela Merkel hatte, als es um die Macht ging, eiskalt gehandelt, mit hohem persönlichen Risiko zumal, Helmut Kohl aufs Altenteil geschoben und Wolfgang Schäuble marginalisiert. Die Kälte fehlt anscheinend Armin Laschet, die Kälte und die Bereitschaft, ins Risiko zu gehen, den, wenn es nottut, Mantel der Geschichte zu ergreifen, wie es Helmut Kohl einst tat.

Über Jahre hinweg und von Wahltag zu Wahltag haben Wähler der CDU – in Geiselhaft genommen – die rotgrüne Politik Angela Merkels gewählt unter der Drohung, dass es schlimmer werden würde, wenn die Rotgrünen diese Politik umsetzen. Doch irgendwann verliert diese Drohung ihre Zähne, irgendwann entsteht ein irrationaler, wilder, grimmiger Entschluss, dass es dann eben so werden soll. Man kennt das enervierende Geräusch quietschender Bremsen und erwartet irrationalerweise den erlösenden Aufprall. Das ist die Situation Deutschlands in diesen Tagen, das Warten auf das Eintreten des Unfalls. Der Liebesentzug der Wähler für die CDU ist keine Liebeserklärung für Rotgrün, doch er führt zur Wahl von Rotgrün – und mehr benötigt Rotgrün nicht.

Praktische Vernunft genügt nicht
Laschets „Klimapolitik“ kann im Wahlkampf nicht zünden 
Das Ergebnis der Wahl wird das Resultat von Merkels viel zu langer Kanzlerschaft sein. Sie wird ein wirtschaftlich ruiniertes und politisch gespaltenes, in sich verfeindetes Land hinterlassen. Sie wird ein Land hinterlassen, das sich von der Wirklichkeit verabschiedet und sich hemmungslos der politischen Romantik hingegeben hat. Was kann da der vernünftelnde Realismus eines Armin Laschet ausrichten, steht er doch vor dem Wahllokal, an dessen Tür das Schild hängt: Bitte nicht stören. Wir träumen gerade so schön. 

Die Deutschen träumen gern von Zeit zu Zeit. Es hat sich für sie niemals ausgezahlt, im Gegenteil. Sie träumen gelegentlich von Größe – und wenn es nur auf dem Gebiet der Moral ist. 

Dagegen hätte nur eine große Erzählung, eine wirkliche Alternative geholfen. Für große Erzählungen scheint Armin Laschet nicht der richtige Mann zu sein. Das hat zuzeiten Vorteile, sogar in den meisten aller Zeiten, doch nicht in Umbruchsituationen. Vielleicht ist Armin Laschet auch der richtige Kanzlerkandidat, nur zur falschen Zeit. 

Ganz gleich, Angela Merkel wird Armin Laschet mit von der großen politischen Bühne nehmen, und nicht nur ihn, sondern die CDU mit, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Der 26.09. wird Angela Merkels Erfolg werden, sie hat hart dafür gearbeitet.