Tichys Einblick
Frogs an der Macht

Der neue Glaube an eine sichere Niederlage Putins ist leichtfertig

Zu Anfang erwartete man im Westen einen schnellen Zusammenbruch der ukrainischen Armee, jetzt ist man von ihrem Sieg überzeugt. Die Ukraine muss das glauben, um ihren Kampfwillen zu behalten. Aber der Westen stiehlt sich so zum zweiten mal aus der Verantwortung.

Ukrainische Soldaten nach der Rückeroberung von Rudnyts ke in der Nähe von Kiew, 28. März 2022

IMAGO / NurPhoto

Carl von Clausewitz prägte den Begriff „Kulminationspunkt“: es ist der Moment, in dem die Kraft des Angriffes so weit abnimmt, dass die Verteidigung in die Offensive übergehen kann. Clausewitz meinte: „Die Gewalt eines solchen Rückschlages ist gewöhnlich viel größer, als die Kraft des Stoßes war.“ Die Theorie bestätigte sich mit Napoleons und Hitlers Scheitern in Russland.

Folgt man der medialen Rezeption der Lage in der Ukraine, ist dieser Wendepunkt jetzt erreicht, die Ukraine ist an zwei von vier Fronten in begrenzte Offensivoperationen übergegangen. Treibt die Ukraine die russische Armee jetzt zurück – und gewinnt diesen Krieg? Nachdem man in Deutschland den Krieg in den ersten Tagen überpessimistisch schon für verloren erklärte, wie etwa Christian Lindner gegenüber dem ukrainischen Botschafter, wirkt das Bild jetzt zu optimistisch.

Der österreichische Journalist Christian Wehrschütz fragt in einem sehenswerten Interview den österreichischen Oberst Markus Reisner, ob in diesem Krieg denn überhaupt ein solcher Kulminationspunkt möglich wäre. Reisner ist skeptisch – der Ukraine fehle es an schwerem Gerät, ohne das keine größere Gegenoffensive möglich wäre. Die Lage ist festgefahren.

Übergang in den Stellungskrieg

Der russische Vormarsch in die Ukraine verlief zunächst durchaus schnell. Nachdem der von Russland geplante „Enthauptungsschlag“ – mittels Luftlandungen direkt nach Kiew vorzudringen – scheiterte, rückten in allen Landesteilen russische Truppen dennoch entlang von Autobahnen und Schienen in offener Landschaft tief ins Landesinnere vor. Von Weißrussland aus, am westlichen Ufer des Dnepr entlang, bis in die westlichen Vororte von Kiew gelangte man binnen weniger Tage; von Osten her, an Sumy vorbei, drangen die russischen Truppen mehrere hundert Kilometer ins Landesinnere vor; von der Krim aus gelang schnell die Vereinigung mit den Truppen im Donbas, von der Krim aus nach Westen die Überschreitung des Donbas bei Cherson und von der Krim aus nach Norden ein Stoß Richtung Saporischschja und die Einnahme des dortigen größten Kernkraftwerks der Ukraine.

Das russische Militär wurde dann durch im Wesentlichen zwei Faktoren gestoppt: erstens durch die Überdehnung ihrer Nachschubwege und die effektiven ukrainischen Schläge gegen diese und zweitens durch den völlig unterschätzten Widerstandswillen der Ukrainer in den Städten.

Die russischen Truppen scheiterten, auch wenn sie Städte teils vollständig eingekreist hatten. Im Häuserkampf fiel dann vor allem die Überlegenheit der ukrainischen Mannstärke ins Gewicht. Während Russland nur rund 150.000 Soldaten im Land hat, verfügt die Ukraine nach Generalmobilmachung über mehr als eine halbe Million Mann, dazu bewaffnete Zivilisten, die selbstständig Widerstand leisten. In den Städten kommt die russische Material-Überlegenheit nicht zum Tragen, Panzer können mit einfachen Mitteln wie Panzerfäusten oder selbst Molotowcocktails ausgeschaltet werden.

Die Geschichte zeigt, dass der Angreifer im Häuserkampf bei entschiedenem Widerstand eine mehrfache zahlenmäßige Überlegenheit benötigt – aktuell ist die Ukraine aber vierfach überlegen. Russland kann also kaum weitere Großstädte erobern.

Im umschlossenen Mariupol versucht man das gerade noch einmal – mit dem Einsatz maßloser Brutalität. Drohnenaufnahmen zeigen vollständig ausgebombte Häuserblocks, die Stadt ist mittlerweile nach wochenlangem Beschuss in großen Teilen zerstört, Tausende, vielleicht Zehntausende Zivilisten sind tot. Mariupol beweist, dass Putins Armee zwar geschwächt ist, der russische Präsident aber weiterhin fest entschlossen ist, vor den Augen seines Landes zu siegen – und zwar zu fast jedem Preis. Verhandlungen haben bis dahin wohl eher begrenzte Erfolgsaussichten.

Der Status quo wäre entsetzlich 

Die Front ist so zum Stehen gekommen, in allen Landesteilen. Doch das bedeutet zunächst nur das Überleben der Ukraine, noch nicht ihren Sieg. Denn Russland hat rund ein Viertel des Landesterritoriums unter seiner Kontrolle, hat mehrere Städte abgeschnitten, hat die Luftüberlegenheit, auch wenn ukrainische Flieger teils noch im Einsatz sind. Schließlich hat man mit dem Kernkraftwerk Saporischschja den Energielieferanten für fast die gesamte Südukraine in der Hand.

Der Status quo ist für die Ukraine nicht hinzunehmen, würde sich der Krieg entlang der gegenwärtigen Linien festfahren, wäre das Land kaum überlebensfähig. Doch obwohl der russische Angriff zum Erliegen gekommen ist, kann die Ukraine nicht großflächig in die Offensive übergehen. Lediglich in urbanen und suburbanen Gebieten kann die Ukraine die russischen Truppen zurückdrängen, auch von Stellungen aus, die Nachschubprobleme haben. Die gegenwärtigen ukrainischen Geländegewinne bei Kiew und Mykolajiw sind eine Befreiung aus dem russischen Würgegriff, aber noch nicht der Anfang einer Großoffensive.

Denn während die Ukrainer zwar in Städten überlegen sind, sieht das in offener Landschaft ganz anders aus – ihre veraltete Panzerwaffe musste große Verluste erleiden, sie kann keine Luftunterstützung mobilisieren. Die Ukraine redet ihre Verluste aus verständlichen Gründen klein – der Westen sollten aber zur Kenntnis nehmen, dass, auch wenn es hier keine offiziellen Zahlen gibt, Tausende ukrainische Soldaten dieser Tage sterben und das  Material der Armee durch gezielte Angriffe aus der Luft durch Russland systematisch aufgerieben wird. Und aus dem Westen kommen zwar zahlreiche Panzerabwehrwaffen, aber keine Panzer und Geschütze, ohne die aber kein Angriff möglich ist. So kann die Nato zwar klandestin Panzerfäuste liefern, aber kaum Jets oder Panzer.

Das Ergebnis ist eines, das immer zu besonderem Leid geführt hat: Auf beiden Seiten ist die Offensivkraft der Defensivkraft des Gegners deutlich unterlegen. Die Folge dürfte ein Stellungskrieg sein, der vor allem im Materialkampf entschieden wird.

Die ukrainische Hauptstreitmacht steht zudem immer noch entlang der Kontaktlinie im Donbas, die Russen haben diese Linie nun aber von Südwesten und Nordosten her umgangen und drohen, diese Kräfte einzukesseln. Würde die Eroberung dieser Territorien gelingen, wäre die Ukraine außerhalb ihrer Städte vermutlich handlungsunfähig und ihre Hauptstreitmacht nur noch wenige Wochen existenzfähig.

Die Ukraine ist im Verteidigungskrieg um ihre Existenz – sie Siegesgewissheit ausstrahlen um ihre Soldaten zu motivieren. Doch der Westen wäre töricht, wenn er das einfach glauben würde – denn damit ist der Ukraine nicht geholfen.

Deutschland zwischen Euphorie und Lethargie 

Die in Deutschland vorherrschende Analyse zur Lage im Konflikt schwankt extrem. Bis zum 24. Februar war sich die Bundesregierung einig: Putin wird schon nicht angreifen. Oder nur ein „bisschen“, mit „minor incursions“, wie Joe Biden angedeutet hatte. Als er dann doch angriff, schien klar: Die Ukraine kapituliert binnen weniger Tage. Aus Kreisen der Bundesregierung hieß es, man wolle keine Waffen liefern, die würden ja am Ende sowieso nur Russland in die Hände fallen. Und selbst mit den Sanktionen zögerte man – wohl in der stillen Hoffnung, dass die Ukraine schnell fällt und man sich dann aufs Hinterher-Verurteilen beschränken kann und gar nicht mehr aktiv werden muss.

Deutschland unterschätzte die ukrainische Armee, genau wie man zuvor die afghanische Armee, die eine solche defätistische Einschätzung tatsächlich verdient hätte, überschätzt hatte. Doch jetzt ist die Stimmung schnell gekippt – in eine breite Siegesgewissheit. Die russische Moral sei geschwächt, Putin kurz vor einem Machtverlust.

Das merkwürdige Schwanken der Stimmungslage im Land ist schwer zu erklären, konsequent ideologisch motiviert scheint sie aber nicht zu sein. Es lassen sich eigentlich nur zwei Gemeinsamkeiten feststellen: Erstens, man liegt immer falsch, und zweitens, das Ergebnis der Einschätzung der Lage ist immer, dass Deutschland im Prinzip nicht handeln muss.

Erst hielt die Bundesregierung an NordStream 2 fest und verweigerte beharrlich die von der Nato geforderte Aufrüstung, weil Putin ja sowieso nicht angreifen würde. Dann zögerte man, weil die Ukraine sowieso verloren ist. Und jetzt sagt man fröhlich: Ist ja nochmal gut gegangen, zurück zum Tagesgeschäft.

Das Schicksal der Ukraine aber liegt jetzt in den Händen des Westens. Die ukrainische Armee ist kampfwillig und Russland ist tatsächlich geschwächt; Putin hat sich strategisch verkalkuliert. Aber der Ukraine fehlt es jetzt an Ausrüstung, um den Krieg auch abseits des reinen Abwehrkampfes in den Städten zu führen und die feindliche Streitmacht aus dem Land zu werfen.

Der Westen bewegt sich bisher im Ungefähren, ungefähr wird dann aber auch der Ausgang dieses Krieges sein: Selenskyj wird sich in Kiew halten können, Putin das Land aber zerstückeln und zerschlagen. Ein Ergebnis ohne Sieger, aber mit maximalem Leid für die Bevölkerung.

Der Kulminationspunkt dieses Krieges wird sich weder in Kiew, noch in Charkiw, Mykolajiw oder Cherson ereignen, aber es gibt ihn schon. Die Entscheidung fällt in den Hauptstädten des Westens und besonders auch in Berlin – als größte Wirtschaftsmacht Europas und einer der weltgrößten Rüstungshersteller bleibt die Bundesrepublik bei ihren Waffenlieferungen aktuell selbst hinter dem 1,3-Millionen-Einwohner-Staat Estland zurück.

Die Bundesregierung muss sich entscheiden, ob sie wirklich auf den Sieg der Ukraine hinarbeiten will oder ob sie es – wie bisher – nur so aussehen lassen möchte, als würde man die Ukraine tatkräftig unterstützen. Berlins zögerlich Haltung ist auch dadurch zu erklären, dass in Berlin noch immer die „Frogs“ an der Macht sind – „Friends of Gerhard“, also die Helfer von Putin-Fan Gerhard Schröder. Zum engsten Kreis des damaligen besonders russlandfreundlichen Kanzlers zählten Olaf Scholz und Frank-Walter Steinmeier.

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