Tichys Einblick
Schicksalsfragen entscheidet nicht das Volk

Gedanken zum allgegenwärtigen Politikerschlagwort „unsere“ Demokratie

Es scheint einen Unterschied zu geben zwischen der Demokratie, die für alle gilt, und der Demokratie, die die Politiker meinen. Diejenigen, die an der Macht sind, halten naturgemäß nicht viel von der Herrschaft des Volkes.

picture alliance / CHROMORANGE | Stefan Dinse

Kaum eine Politikerrede kommt mehr ohne die Floskel „unsere“ Demokratie aus. Man höre einmal in die Bundestagsdebatten hinein, bei denen kaum ein Redner sich versagt, von „unserer“ Demokratie zu sprechen. Warum nicht einfach „die“ Demokratie?

Es scheint einen Unterschied zu geben zwischen der Demokratie, die für alle gilt, und der Demokratie, die die Politiker meinen. Diejenigen, die an der Macht sind, halten naturgemäß nicht viel von der Herrschaft des Volkes. Sie haben schon immer alles dafür getan, um eine solche Herrschaft einzugrenzen. Sonst hätten wir längst die direkte Demokratie, hätten wir Volksabstimmungen.

Angela Merkels Demokratieverständnis

Am 3. März 2010 verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede zur Vorstellung des Allensbacher Jahrbuchs der Demoskopie:

„Wir können im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik sagen, dass all die großen Entscheidungen keine demoskopische Mehrheit hatten, als sie gefällt wurden. Die Einführung der sozialen Marktwirtschaft, die Wiederbewaffnung, die Ostverträge, der NATO-Doppelbeschluss, das Festhalten an der Einheit, die Einführung des Euro und auch die zunehmende Übernahme von Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt – fast alle diese Entscheidungen sind gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt. Erst im Nachhinein hat sich in vielen Fällen die Haltung der Deutschen verändert. Ich finde es auch vernünftig, dass sich die Bevölkerung das Ergebnis einer Maßnahme erst einmal anschaut und dann ein Urteil darüber bildet. Ich glaube, das ist Ausdruck des Primats der Politik. Und an dem sollte auch festgehalten werden.“

Im Klartext: Erst „im Nachhinein“ also, wenn alles schon entschieden ist, darf sich die Bevölkerung „das Ergebnis einer Maßnahme“ anschauen und dann übernehmen, was die Mächtigen für sie bereitet haben.

Wohin treibt die Bundesrepublik?

Erste Warnungen vor solchen Machenschaften reichen zurück bis in die Nachkriegsjahre der Bundesrepublik Deutschland. „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ ist der Titel der 1966 veröffentlichten Streitschrift des renommierten Philosophen Karl Jaspers, Lehrer und Freund von Hannah Arendt.
Zitat: „Die Demokratie der Bundesrepublik wandelt sich vor unseren Augen. Es werden Wege beschritten, an deren Ende es weder eine Demokratie noch einen freien Bürger geben würde, vielleicht ohne dass die, die sie gehen, dieses Ende wollen. Diese Wege sind nicht unausweichlich. Aber nur ein zur Freiheit drängendes, seiner selbst darin bewusstes Volk kann die Demokratie in freier republikanischer Verfassung, die bisher nur eine Chance ist, verwirklichen.“

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„Die Verfasser des Grundgesetzes scheinen vor dem Volke Furcht gehabt zu haben“, schreibt Karl Jaspers weiter. „Denn dieses Gesetz schränkt die Wirksamkeit des Volkes auf ein Minimum ein. Alle vier Jahre wählt es den Bundestag. Die ihm von den Parteien vorgelegten Listen oder Personen sind schon vorher durch die Parteien gewählt.“ Es werden also die gewählt, die schon gewählt sind.

Er konstatiert: „Eine Mitwirkung des Volkes durch das Referendum wurde nicht zugelassen. Das Volk ist dem Namen nach der Souverän. Aber es hat keinerlei Einwirkung auf die Entscheidungen, außer durch die Wahlen, in denen nichts entschieden, sondern nur die Existenz der Parteienoligarchie anerkannt wird. Die großen Schicksalsfragen gehen nicht an das Volk. Ihre Beantwortung muss das Volk über sich ergehen lassen, und es merkt oft gar nicht, dass etwas und wie es entschieden wird.“

Pikante Fußnote: Schon damals ließ der BND-Chef Reinhard Gehlen – übrigens ehemals Wehrmachtsgeneralmajor und Leiter der Abteilung „Fremde Heere Ost“ – Karl Jaspers’ „Gesinnung“ überprüfen.

Demokratieverständnis heute

Zurück zu Angela Merkels Rede, die uns vor Augen führt, wie weitsichtig Karl Jaspers’ Überlegungen waren.

Karl Jaspers: „Die großen Schicksalsfragen gehen nicht an das Volk. Ihre Beantwortung muss das Volk über sich ergehen lassen, und es merkt oft gar nicht, dass etwas und wie es entschieden wird.“

Angela Merkel: „Wir können im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik sagen, dass all die großen Entscheidungen keine demoskopische Mehrheit hatten, als sie gefällt wurden.“

Dass das Volk dabei nichts zu sagen hat, ist ihr klar, doch sie findet es richtig so. Die sogenannte neue Weltordnung ist in Merkels Reden allgegenwärtig, und für dieses Ziel sollen „wir“, so Merkel, „Souveränität und Rechte an andere abgeben“. Denn „wir“ haben „wahrlich keinen Rechtsanspruch auf Demokratie und Marktwirtschaft auf alle Ewigkeit“.

Das, was vielen heute erst langsam ins Bewusstsein dringt, hat sich – mehr oder weniger ausgeprägt – über die Jahrzehnte entwickelt. Mit dem Höhepunkt der Merkel-Jahre und deren „Krönung“ durch die Covid-Maßnahmen und die „neue Normalität“. Wer noch eines Beweises für den Niedergang der Grundrechte bedarf, schaue sich dieses Video an: Friedlicher Bürger liest aus dem Grundgesetz vor.

Uns aufgezwungene „Transformationen von gigantischem historischen Ausmaß“

Schon im Januar 2020 hatte uns die Kanzlerin in Davos „Transformationen von gigantischem historischen Ausmaß“ angekündigt. Die nachfolgende Regierung machte dann am 27. Februar 2022 weiter mit der Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Scholz, in der er die Bürger darauf einschwor, der Ukraine unverbrüchlich zur Seite zu stehen. „Wer als Friedenstaube umherläuft, ist ein gefallener Engel, der aus der Hölle kommt“, redete sich Scholz später auf einer Veranstaltung in Rage. Verteidigungsminister Pistorius spricht auf der Pressekonferenz vom 4. Mai jenes Jahres von einer kriegstüchtigen „Bundeswehr der Zeitenwende“.

Um die von Angela Merkel propagierte neue globale Ordnung zu erreichen, muss der Wert, sich in einer nationalen Gemeinschaft aufgehoben zu fühlen, sich zugehörig zu einer gemeinsamen verbindenden Geschichte und Kultur zu verstehen, zerstört werden. Das geschieht durch Geschichtsvergessenheit, Heimatverlust durch Zuwanderung fremder Kulturen, sowie durch das Säen von Uneinigkeit in der Bevölkerung, auf dass sich Teilgruppen gegeneinander wenden, statt sich als Gruppe vereint gegen einen gemeinsamen Gegner zu stellen. Es sind die alten Herrschaftsstrukturen, die nun wieder ihr eigenes Narrativ, ihre Ideologie, über die Wirklichkeit legen. Der Volkswille soll schließlich mit dem Elitenwillen deckungsgleich werden.

Methoden der Durchsetzung

Es geht um:

  • Regierungsattacken auf die durch das Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit;
  • Behauptungen werden aufgestellt und bedürfen heute oft keiner Beweise mehr;
  • Diskurs- und Gesinnungskontrolle mit Unterstützung der Einheitsmeinungsmedien („Kommentare sind deaktiviert“);
  • Political Correctness, Angstmache;
  • Kampfbegriffe: Hass und Hetze, Delegitimierung des Staates, Coronaleugner, Klimaleugner, Impfgegner, Putin-Versteher, Querdenker, Schwurbler;
  • Politische Gegner werden zu Feinden gemacht – Meldestellen, Zensur;
  • Aufrichtung von „Brandmauern“;
  • Verfolgungen auch unter der Strafbarkeitsgrenze, Kontenkündigungen, überfallartige Hausdurchsuchungen, Entlassungen, Entfernung aus dem Staatsdienst, monatelange Untersuchungshaft aufgrund von angeblichem Spendenbetrug sowie Ausstellung von Impf- und Maskenattesten;
  • Aufruf der Regierung zu Demonstrationen zur Ausschaltung der Opposition;
  • der Opposition Rechte verweigern, die allen anderen Parteien zustehen, Rückgängigmachung einer Wahl durch die Bundeskanzlerin.
Der „neue Mensch“

In der Zwischenzeit wurde passend dazu der „neue Mensch“ – der Hoffnungsträger der Diktaturen und Ideologen des zwanzigsten Jahrhunderts – herangebildet. Die „Lufthoheit über den Kinderbetten“ (Olaf Scholz) soll den Eltern entzogen und unter Aufsicht eines „starken Staates“ gestellt werden. Dass der Mensch in seinen ersten Lebensjahren am formbarsten ist, haben sich autoritäre Strukturen stets zunutze gemacht. Sich später aus einer solchen Konditionierung zu lösen, ist bekanntermaßen schwer, und damit rechnen diejenigen, die das für ihre Zwecke zu nutzen wissen.

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Dabei geht es heute nicht mehr um Volksgemeinschaft, Zucht, Ordnung und körperliche Ertüchtigung, sondern um eine bunte Regenbogen-Ideologie, um Müßiggang, Ablenkung von den existentiellen Dingen des Lebens hin zu sofortiger Wunscherfüllung, Drogenkonsum und freiem Sex in allen Formen. Und es geht um die unter Missachtung der Naturgesetze top-down installierte Gender-Ideologie, sie seit dem „Vertrag von Amsterdam“ von 1997/1999 als verbindliche Richtlinie für alle Mitgliedsstaaten der UN auftauchte. Da sich dieses Konstrukt auf keine naturwissenschaftlich erforschte biologische Grundlage berufen kann, kann es nicht falsifiziert und somit nicht widerlegt werden. Sicher ist nur, dass es große Verunsicherungen – bis in die Kindheit und Jugend hinein – stiftet, während es nur auf eine kleine Minderheit zutrifft. Dazu bietet auch die täglich in den Medien präsente „Klimakatastrophe“ genügend ideologisches Potential.

Wenn man in Mediatheken nach einem Film für den Abend sucht, fällt immer mehr das veränderte Angebot auf. Es sind nicht mehr viele Streifen dabei, die uns Menschlichkeit, Verständnis und Empathie lehren und das Herz erwärmen. Hässlichkeit triumphiert über Schönheit und Ästhetik. Pornographie, Gewalt und Obszönität ist überall – besonders seit Erfindung der Smartphones – nun auch Kindern verfügbar, die über das ganze Spektrum der vorher nur Erwachsenen zugängigen sexuellen und anderen Betätigungen informiert werden, was zu der Desensibilisierung, Verwirrung und Verrohung führt, die wir in der Öffentlichkeit zunehmend beobachten können. Es geht um staatliche Übergriffigkeit, um die uneingeschränkte Kontrolle des öffentlichen Raums bis in die Privat- und Intimsphäre hinein. Ein ideologisch gleichgerichtetes Parteienkartell ist dabei, das Deutschland, das wir kannten, abzuschaffen.

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Ein ideologisch geprägtes Menschenbild – sei es faschistisch, rassistisch, kommunistisch, oder nun genderistisch – kommt mit unseren eigenen Mensch-Erfahrungen in Konflikt. Ideologien erkennt man daran, dass sie immer wieder Absurditäten produzieren, die dem Verstand nicht zugängig sind. Und die sehen wir heute zuhauf. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz nennt es „das falsche Leben“.

In diesem Jahr wird der 300ste Geburtstag von Immanuel Kant gefeiert. Mit seinem Denkansatz „sapere aude“ – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen – ist er der wohl wichtigste Denker der Aufklärung. Wie man diesen Geburtstag angemessen begehen will, ist mir ein Rätsel. Leben wir doch gerade jetzt in Zeiten der Gegenaufklärung, der Ideologien und der weltweit aufflammenden Kriege. Und ist doch Ideologie gerade das Gegenteil von rationalem Denken und der Aufforderung, sich seines eignen Verstandes zu bedienen.

Kants Philosophie setzt auf die Kraft der individuellen Vernunft. Im Alter machte er sich noch Gedanken über die Voraussetzungen eines ewig anhaltenden Friedens („Zum ewigen Frieden“). Doch wie wir aus Erfahrung wissen, werden die Medien auch den großen Kant wieder nach ihren Interessen umzubiegen wissen. Ging doch schon durch die Gazetten, dass er Rassist gewesen sei.

Umso wichtiger ist es, sich wieder einmal vor Augen zu führen, wie manipulierbar der Mensch ist und sich mit Immanuel Kants Schriften und den Lehren der Aufklärung seelisch und geistig gegen diese große Gefahr zu wappnen.

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