Tichys Einblick
Scheitern an der Wirklichkeit

Das Prinzip der deutschen Gegenwart: der feige Kompromiss

Die Entfremdung unserer Lebenswirklichkeit entsteht aus der Hybris, den Geist über die Natur zu erheben, sie wird mit Kompromissen übertüncht, die kurzfristige, oberflächliche Lösungen vortäuschen, langfristig aber nur die ungeklärte Differenz zur Wirklichkeit aufstauen, bis der Kompromisskomplex an der Realität zerbricht. Von Felix Hackmann.

Völker und Gesellschaften hatten und haben stets ein gemeinsames Grundverständnis über das Leben, und wie es zu bewältigen sei. Und die Politik der Regierenden fußte und fußt auf diesen Prinzipien, durch deren Umsetzung man sich eine bessere Zukunft verspricht.

Je länger diese Prinzipien von der breiten Masse befolgt werden, desto sichtbarer werden diese auch in den äußeren Gegebenheiten und Erscheinungen des jeweiligen Landes.

Da war zum Beispiel das Prinzip der Disziplin der japanischen Samurai, das sich in ihrer aufrechten Haltung, in der Perfektionierung des Schwertkampfes, einer hohen Bildung, den streng, aber liebevoll gestalteten Frisuren und der Ästhetik der buddhistischen Tempel ausdrückte. Das Prinzip der ökonomischen Gleichheit in kommunistischen Staaten, wie zum Beispiel der DDR, tauchte ihr Erscheinungsbild in monochromes Grau. Das Prinzip der Unterordnung und Befolgung der Gebote Allahs in der Islamischen Welt fand und findet seinen hörbaren Ausdruck in dem tagein tagaus über die Städte des Nahen Ostens schallenden Muezzinruf und wird sichtbar durch die verschleierten Frauen auf den Straßen. Jede Kultur wird bestimmt von einem solchen Prinzip.

Und im heutigen Deutschland?

In der überfüllten zweiten Klasse des ICEs von Kassel nach Hamburg riecht es nach Essen aus Tupperboxen. Im Gang befreit sich jemand von seiner Jack-Wolfskin-Jacke. Unter einem Sitz ragt ein Par Birkenstock-Sandalen hervor. Eheringe an den Händen von Uno-spielenden Pullöverchen, Fjällräven-Rucksäcke in verschiedenen Farben. Ein Wehrdienstleistender wirkt wie ein blinder Passagier.

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Die Nutzerprofile in den sozialen Netzwerken erscheinen wie vergebliche Versuche der Vereinbarung von Traum und Wirklichkeit. Fade Reflexionen der Zeit. Turnschuhe wandeln unter Jogginghosen oder Jeans über die Bahnhofsgleise. Über den Einkaufsstraßen liegt ein Geruch von Döner und gebrannten Mandeln. Überall Aufkleber, immer wieder Regenbogenfarben und Refugees-Welcome-Parolen.

All das wird zusammengehalten von einem nahezu sakralen Geist der Verehrung einer toleranten, politisch korrekten Lebensführung. Der fordert mindestens eine teilweise, mitunter die gänzliche Selbstaufgabe. Man schränkt sich gern ein, niemandem wird hier auf die Füße getreten – das deutsche Prinzip der Gegenwart ist die Feigheit des faules Kompromisses. Sie ist das ungeschriebene Gesetz, auf das die moderne deutsche Gesellschaft schwört und sich verlässt.

Der feige Kompromiss

Das mediale Gesicht dazu ist Hubertus Meyer-Burckhardt. Der Fernsehmanager und -moderator trägt Socken mit Pünktchen an den Füßen. Meist hält er sich bedröppelt an seinen Moderationskarten fest, wenn er sich durch die NDR Talkshow lächelt. Natürlich wünscht er sich, dass Merkel noch ein wenig weiter macht. Bei ihm wie bei den meisten Deutschen reicht die Vorstellungskraft offenbar nicht mehr für eine Postmerkelzeit. Der einst für Deutschland prägende Innovationsgeist ist lange verflogen, verstrahlt vom verklärten Status quo, an dem sich Bonzen des Zeitgeistes wie Meyer-Burckhardt berauschen.

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Als Heribert Prantl 2016 seine Lobeshymne „Der Kompromiss wird wichtiger denn je“ verfasste, hatte Merkel ihn schon längst zur Staatsräson erhoben. Der Kompromiss – lateinisch „Compromissum“ – ist seinem Wortsinne nach ein gemeinsames, allseitiges Versprechen. Aus „divide et impera“ hat Merkel in ihren Regierungsjahren das Herrschaftsprinzip des „compromitte et impera“ gemacht. Der Kompromiss wird schon eingegangen, bevor man auch nur versucht, irgendetwas eigenes durchzusetzen. Und zu diesem allseitigen Versprechen gehört der Ausverkauf der Gesetzmäßigkeiten, die die Freiheit des Westens einst begründeten und darum nie zum Gegenstand eines Kompromisses werden dürften.

Der Kompromiss soll ein Deal auf die Zukunft sein. Und wenn er vernünftig ist, kann er das vielleicht auch sein: ein Versprechen nämlich, dass sich Gegensätze überwinden lassen, wenn gegenüberstehende Parteien ein wenig von ihrer Ursprungsforderung zurückstecken und dafür einen Teil der gegnerischen Forderungen akzeptieren. Die Kompromisse des Merkel-Zeitalters zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie eingegangen werden, ohne dass es überhaupt zum Versuch kommt, eine eigene Lösung zu entwickeln, eine Position durchzusetzen. 

Der Kompromiss als Problemflucht

Ein Kompromiss ist qua definitionem kein echter Problemlöser, sondern nur ein ausgleichendes Mittel einer Verhandlung. Den Kompromiss braucht es nur dort, wo Parteien nicht dazu in der Lage sind, einem Problem ergebnisoffen zu begegnen und ihre Ideologien dem Versuch einer kooperativen Analyse und einem gänzlichen Verständnisgewinn über das Problem unterzuordnen.

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Doch diese absolute Transparenz und Ergebnisoffenheit des Diskurses ist im gegenwärtigen Deutschland nicht vorgesehen, wie derzeit auch in der Coronakrise zu erleben ist. Ein Befreiungsplan bis zum Zeitpunkt X bleibt bis heute aus. Die Debatten werden nicht mit Vorsicht, sprachlicher Präzision und Akribie geführt, sondern mit polternder Gier der Egos.  

Unterstützt wird diese Haltung von den Medien, die sich beim Thema Corona einer ergebnisoffenen Debatte verweigern. Die, die sich mit dem Kompromiss des Mainstreams nicht abfinden wollen, die bestrebt sind, ihren Teil dazu beizutragen, ihn im Verständnis aufzulösen und ihre Gedanken offen aussprechen, um eine freie, bestmögliche Annäherung an die Wirklichkeit zu erreichen, werden als extrem dargestellt, als undemokratisch. Das, was das gegenwärtige Kompromiss-Prinzip historisch macht, ist, dass es das systematische Versagens der politischen Klasse und der gesamten deutschen Gesellschaft, wenige Ausnahmen ausgenommen, kennzeichnet.

Das systematische Versagen der politischen Klasse

Die Feigheit des unbedingten Kompromisses steckt aber auch in der Akzeptanz dieses Zustandes des Unzureichenden, der Hinnahme des Intransparenten, eines Status Quo, der keine innere Substanz erkennen lässt. Selbst wenn die Falschheit offensichtlich wird, folgt daraus nichts. Die Akzeptanz ist befriedigend, sättigend genug, um in ihr ganz gut leben zu können.

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Wenn Ai Wei Wei ein Kunstwerk zum Prinzip des gegenwärtigen Deutschland entwerfen sollte, würde vielleicht eine Statue von Peter Altmaier dabei herauskommen. Nichts an ihm ist ausgewogen, nichts symmetrisch. Vor den Kameras der Tagesschau wirkt er immer so, als habe er sich mit letzter Kraft da hin geschleppt. Oft geht es um eine dieser endlosen Verhandlungen zur Vereinbarung von Klimaschutz und Wirtschaft. Was er wirklich will, weiß man nicht. Vermutlich eigentlich gar nichts. Die beste Voraussetzung also für Kompromisse im Sinne seiner Meisterin Merkel: Nachgeben, aufgeben, was man eigentlich bewahren sollte – um an der Macht zu bleiben

Der Mensch ist fehlbar. Das war auch schon vor Altmaier und Meyer-Burckhardt bekannt. Als einziges Wesen ist er durch den Geist der biologischen Evolution enthoben und im Gegensatz zu Tieren und Planzen dazu in der Lage, Begebenheiten, Entwicklungen und Beziehungen der Welt intellektuell begreifbar zu machen, sie zu bewerten und zu analysieren.

Aufgeben, um an der Macht zu bleiben

Das Verständnis ist jedoch niemals unmittelbar. Wir schaffen immer nur die geistige Übersetzung für die Phänomene, die wir wahrnehmen. Von denen wiederum ist nur ein Bruchteil durch naturwissenschaftlich erwiesene Gesetzmäßigkeiten verifiziert und belegt, die Zeit überdauernd und damit als Fundament einer jeden politischen Diskussion verbindlich. Alles andere ist Subjektivität, Spekulation, das Tapsen im Dunkeln, unbewiesene Erfahrungswerte.

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In dieser Schwelle, dem Übergang von Natur zum Geist, liegt also das Entfremdungspotential unserer Lebenswirklichkeit, die aus der Hybris entsteht, den Geist über die Natur zu erheben und Politik auf Subjektivität zu begründen. Die daraus resultierende Entfremdung wird mit Kompromissen übertüncht, die nur kurzfristige, oberflächliche Lösungen vortäuschen, langfristig aber nur die ungeklärte Differenz zur Wirklichkeit aufstauen, bis der Kompromisskomplex, an der Realität zerbricht.

Der einzige Verhandlungspartner, mit dem stets ein Kompromiss zu schließen sein sollte, ist daher das Leben selbst – indem wir verstehen, dass es uns zum Menschen macht, dieses nie gänzlich durchdringen zu können.

Wenn es zwei streitenden Parteien gelänge, ihr Bestreben auf das nackte, ursprüngliche Destilat der menschlichen Bedürfnisse herunter zu brechen, dann sollte ein Verständnis von der gegenüberstehenden Seite, und sei es auch der ärgste Feind, immer möglich sein. Denn ein menschliches Bedürfnis, das nicht entfremdet ist, muss von einem anderen Menschen immer nachvollzogen werden können.

Das alles ist aber ein fernes Ideal. Ganz im Gegensatz dazu wird hier und heute der Kompromiss als solcher zur Tugend erklärt, die politische Schwäche in eine scheinbare Stärke verklärt.

Die Gegenwart ist zäh und die Stimmung restriktiv, von Angst durchsetzt. Man teilt das Land in rechts und links, in Coronaleunger und Coronaversteher, in gute Menschen und Nazis, in Verschwörungstheoretiker und die, die die Wahrheit kennen. 

Und da ist nichts zu erkennen, das dieses Land aus dem Schlummer der feigen Selbstverleugnung wecken könnte. Man schaut zum Himmel und fragt sich, ob es so etwas überhaupt geben kann, so einen Deus ex Machina, eine Kraft aus einer neuen Zeit, die die Triebfedern des Denkens entstaubt, von Angst und Trägheit befreit und den gordischen Knoten der Feigheit mit Mut, sich über das Lähmende hinwegzusetzen, zerschlägt.

Aber selbst wenn es dies gäbe, würden die Deutschen wahrscheinlich lieber in der zweiten Klasse Uno spielen.


Felix Hackmann

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