Tichys Einblick
Nicht angekommen

Das Gemeinsame ist weit mehr als nur die gemeinsame Sprache

Hält Frau Özoguz für sich selbst eine deutsche Kultur jenseits der Sprache schlicht nicht für identifizierbar, dann sagt das wohl viel mehr über das Dilemma von Parallelgesellschaften und Integration selbst noch in intellektuellen Zuwandererkreisen.

© Adam Berry/Getty Images

„Vervielfältigung von Vielfalt“, was soll das sein? Etwa eine Evolution von Vielfalt? Aber welche kultur-homöopathischen Dosen von irgendwas sind hier gemeint? Formuliert jedenfalls hat diese Wortschöpfung Aydan Özoguz (SPD), Integrationsbeauftragte der Bundesregierung als ihre Definition einer deutschen Leitkultur.

Für Özoguz ist eine spezifisch deutsche Kultur „jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar“, schrieb sie im Mai 2017 in einem vieldiskutierten Gastbeitrag für den Tagesspiegel. „Schon historisch haben eher regionale Kulturen, haben Einwanderung und Vielfalt unsere Geschichte geprägt. Globalisierung und Pluralisierung von Lebenswelten führen zu einer weiteren Vervielfältigung von Vielfalt.“

Wären sie noch widerstandsfähig, müssten hier zunächst mal die deutschen Christen protestieren. Das Christentum als quasi älteste paneuropäische Bewegung, die europäisch-christliche Kultur zu regionalisieren, funktioniert nämlich nicht. Aber stattdessen erschöpft sich der christliche Einspruch 2017 im Blümchengebet, wie etwa beim Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann, für den nämlich soll die Kirche „ein Zeichen der Hoffnung“ sein, um eine „Revolution der zärtlichen Liebe“ zu erreichen, von der Papst Franziskus spreche. Umarmungen als Allheilmittel bei Identifikationskrisen.

Die, die heute in Deutschland das gesellschaftliche und politische Leben prägen, sind mehrheitlich in den 1960er Jahren geboren. Angehörige der geburtenstarken Jahrgänge, die sich nicht daran erinnern können, dass ihre persönliche Geschichte von Einwanderung und Vielfalt auf eine Weise geprägt wurde, wie es nun Aydan Özoguz erzählt. Die 1967 in Hamburg geborene und 1989 mit 22 Jahren eingebürgerte Politikerin, deren Name im Wikipedia mit einer Hördatei zur türkischen Aussprache versehen wurde („Eidan Ösus“), mag das für sich persönlich so empfunden haben, ihre Wahrnehmung allerdings geht an jener der Mehrheitsgesellschaft vorbei.

Gesellschaftskultur, nicht Leitkultur!
Wenn nun Frau Özoguz für sich persönlich eine deutsche Kultur jenseits der Sprache für nicht identifizierbar hält, dann sagt das viel aus über das Dilemma von Parallelgesellschaften und Integration selbst noch in wirtschaftlich erfolgreichen Zuwandererkreisen, denn die Özoguzs wanderte schon 1957 als Gastarbeiter nach Deutschland ein, um im Lebensmittelhandel ein gutes Auskommen zu finden und ihren Kindern unter Mithilfe der Solidargemeinschaft ein Studium zu ermöglichen. Erwähnen muss man in dem Zusammenhang die beiden Brüder der Politikerin, die sich Ende der 1970er Jahre islamistisch radikalisierten. Zwar nimmt Özoguz für sich in Anspruch, die Haltung ihrer Brüder wäre eine Ausnahme in der Familie. Aber sie hat nur diese zwei Geschwister. Da muss man Familie schon deutlich weiter denken, als es in Deutschland heute allgemein Praxis sein soll um hier noch glaubwürdig eine Ausnahme konstruieren zu können. Nein, Ausnahme ist hier eher Schwester Aydan.

Aber warum sollte man Frau Özoguz nicht zustimmen, wenn sie der deutschen Kultur einen Fingerabdruck über die Sprache hinaus abspricht? Die Autoren Dorn/Wagner hatten ja bereits vor ein paar Jahren mit ihrem Buch „Die deutsche Seele“ vorgemacht, wie man scheitern kann, wenn man eben diese in Begriffen wie beispielsweise „Abendbrot“ und „Waldspaziergang“ zu identifizieren sucht. Oder gar in der Lust am Nacktbaden nebst ostdeutscher FKK-Kultur.

Jüngst hatte sich auch der deutsche Innenminister in einem Neuanstoß der angeranzten Leitkulturdebatte eines Friedrich Merz ausgerechnet in der Bild am Sonntag mit zehn Thesen an der Definition des Deutschseins versucht. Bei ihm stand zwar FKK und Abendbrot nicht an erster Stelle, aber dafür ein besonderes Verhältnis zu Israel und Toleranz im Allgemeinen. Den Stein ins Rollen freilich brachten seine Thesen nicht.

Man darf sogar annehmen, dass Thomas de Maizière im Nachgang lieber nichts geschrieben hätte. Dabei trifft er, was offensichtlich vielen entgangen ist, immerhin die Konturen dessen, was er beschreiben wollte, wenn er der deutschen Leitkultur ein gemeinsames kollektives Gedächtnis für Orte, Ereignisse und Traditionen zugrunde legt. Wenn er Leitkultur also generativ verankert. Warum auch nicht? Wer das biologistisch empfindet, der übersieht, das Leitkultur Chronologie braucht, will man sie nicht in jeder Generation neu erfinden.

Der Minister attestiert Zuwandererfamilien, dass, wenn diese die Leitkultur nicht kennen, vielleicht nicht kennen wollen oder gar ablehnen, sie sich auch nicht zugehörig fühlen könnten. Also verständlich erzählt: Wer die Kultur seines Landes, ob nun per Herkunft oder Wahl, auf Sprache reduziert, der will irgendetwas nicht kennen oder lehnt ab, was andere mehrheitlich befürworten.

Auf jeden Fall aber aber sieht de Maizière deutsche Kultur nicht in einer „Vervielfältigung von Vielfalt.“ Das ist nicht nur kontraproduktiv, sondern verweigert in beinahe ungehörigem Maße Zugehörigkeit. Eine Verweigerung, nicht einmal als typisches Migrantenproblem, sondern als eines entwickelter Individualgesellschaften weltweit.

Wer einmal an einer Bezirksratssitzung oder der Vereinsitzung des örtlichen Sportvereins teilgenommen hat, der versteht, dass das große überregionale Zusammengehörigkeitsgefühl behutsam im Kleinen errungen werden muss. Aber immer auf Basis des Bestehenden. Helmut Kohl beispielsweise war ja im Grunde auch als Kanzler noch Bezirksratsmitglied ohne ihn damit diskreditieren zu wollen.

Falsche Weichenstellung
Grundsatzfehler der deutschen Einwanderungsdebatte
Ein Stammtisch-Thinktank für das Gemeinwohl und nicht etwa der Stuhlkreis für die konsequente Auslebung von Vielfalt und Anderssein. Vielleicht ist es tatsächlich so: Wesenselement deutscher Leitkultur bleibt ein Maß an Anpassung – oft genug gegen das eigene Wollen für eine wie auch immer formulierte bedeutendere größere Sache. Generationenübergreifend, fortschrittsfähig und basierend auf einem kollektiven Gedächtnis als Wesensmerkmal jeder Hochkultur im Guten wie im Schlechten. Und wo könnte das einflussreicher sein, als in der deutschen Kultur mit ihren Verwerfungen im 20. Jahrhundert? Dorn und Wagner würden wohl auf ein gemeinsames Liedgut, die deutschen Märchen und die kulinarischen Höhepunkte hinweisen, aber das greift zu kurz. Es wird nicht mehr flächendeckend gesungen, gelesen oder traditionell gegessen. Da hätte so eine Kulturnegation Marke Aydan Özoguz tatsächlich für den Moment Oberwasser. Aber das bedeutet noch nicht das Ende einer Kultur, die sich etwa nur noch über Sprache definieren würde. Die Überlieferungen und Geschichten sind ja alle noch da. Sie haben sich lediglich verlagert ins Persönliche, ins Private. Möglicherweise alles nur eine Frage der Archivierung. Einer, um die man in Internetzeiten nicht bange sein muss.

So bleiben die teils schrecklichen Erzählungen der Großeltern und Eltern von beispielsweise Flucht und Vertreibung, von Leid und Entbehrung, von Schuld und Sühne, vom Neuanfang in Deutschland, von diesem alles beherrschenden Wir-leben-noch-Gefühl der Nachkriegszeit Wesenkern der deutschen Kultur der Gegenwart. Kultur als Lehrmeister einer generationenübergreifenden Entwicklungsgeschichte. Kulturevolution basierend auf und zwingendermaßen experimentierend mit dem Vorhandenem, will sie nicht aussterben.

Und vorhanden ist ja etwas. Das spürt jeder, dessen Familie schon über Generationen hier lebt, wenn er beispielsweise Sonntagmachmittag mit seinen Nachbarn über den Gartenzaum ein paar Sätze wechselt in dem vertrauten Gefühl, gemeinsam Teil von etwas sein, das über das nebeneinanderher oder die Vielfalt der Rabatten und Rasenschnitthöhen hinaus geht. Nein, dieses Gefühl muss nicht tagtäglich intellektuell aufbereiten werden.  Es ist einfach da. Und das ist weit mehr, als nur die gemeinsame Sprache; selbst dann noch, wenn die Definition dafür in ruhigere Zeiten verlegt werden müsste.

Per Email gegenüber TE bat Katharina Asbrock, Pressereferentin von Aydan Özoguz, der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, um Verständnis, dass man aufgrund der Vielzahl der Interviewanfragen und des engen Terminplans derzeit leider keine Möglichkeit für ein Interview sehe. Das bedauern wir. Gerne hätten wir Frau Özoguz Gelegenheit gegeben, persönlich Stellung zu beziehen.