Tichys Einblick
Ein Alleingang nach dem anderen

Das EuGH-Urteil C-157/15 und seine „kreative“ Umsetzung in Deutschland

Der EuGH verkündete das Urteil am 14. MÄRZ 2017. Frau Lüders orchestrierete bereits das deutsche Medienecho schon am 18. FEBRUAR 2017, also 25 Tage vor der Veröffentlichung.

© Carsten Koall/Getty Images

Das EuGH-Urteil C-157/15 und seine „kreative“ Umsetzung in Deutschland
Am 31.05.2016 – rund 9 Monate nach Grenzöffnung und dem Einströmen von über 1,5 Millionen Menschen aus Arabien und Nordafrika nach Mitteleuropa – empfahl die EU-Generalanwältin in ihrem Schlussantrag zum Vorabentscheidungsverfahren C-157/15 dem Gerichtshof wie folgt zu antworten:

„Wird einer Arbeitnehmerin muslimischen Glaubens verboten, am Arbeitsplatz ein islamisches Kopftuch zu tragen, so liegt keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG vor, wenn dieses Verbot sich auf eine allgemeine Betriebsregelung zur Untersagung sichtbarer politischer, philosophischer und religiöser Zeichen am Arbeitsplatz stützt und nicht auf Stereotypen oder Vorurteilen gegenüber einer oder mehreren bestimmten Religionen oder gegenüber religiösen Überzeugungen im Allgemeinen beruht. Das besagte Verbot kann jedoch eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie darstellen.

2) Eine solche Diskriminierung kann gerechtfertigt sein, um eine vom Arbeitgeber im jeweiligen Betrieb verfolgte Politik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität durchzusetzen, sofern dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird.
In diesem Zusammenhang sind insbesondere zu berücksichtigen:

  • die Größe und Auffälligkeit des religiösen Zeichens,
  • die Art der Tätigkeit der Arbeitnehmerin,
  • der Kontext, in dem sie diese Tätigkeit auszuüben hat, sowie
  • die nationale Identität des jeweiligen Mitgliedstaats.“

Der EuGH hörte vor der Verkündung des Urteils Vertreter des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und Belgiens sowie der EU-Kommission. Vermutlich verzichtete man auf einen deutschen Vertreter, da es ja die Feststellung in einer Regierungserklärung von 2006 gab: „Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas“…

Nicht zu vergessen: Zwischen dem Eingang der Anfrage zum Vorabentscheid und dem Urteil vom 14.03.2017 lagen die Attentate Bataclan Paris, Strandpromenade Nizza, Flughafen Brüssel und Weihnachtsmarkt Berlin.

Der EuGH entschied, dass die Neutralitätsregel des Arbeitgebers der belgischen Muslima greift und sie deshalb den Hidjab während der Arbeitszeit nicht tragen darf. Er stellte die unternehmerische Freiheit über die der Religionsfreiheit.

Über 22 Mio. Arbeitgeber in 27 EU-Ländern konnten jetzt eine Neutralitätsregel aufstellen und ihren Mitarbeitern mit Sichtkontakt zu Kunden der Firma verbieten:
„Am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen“.

Die Brisanz dieses Urteils lag für Deutschland nicht im Tragen sichtbarer Zeichen (Kopftuch, Tschador, Salafistenkleidung) sondern im Verbot von Riten, wie Beten und Fasten.

In allen EU-Ländern, außer Deutschland und dem Vereinigte Königreich, ist es bisher schon immer Sache des Arbeitgebers, zu erlauben, ob während der Arbeitszeit gebetet oder gefastet wird. Nur in Deutschland gibt es eine ausführliche Rechtsprechung, die nach BGB § 616 dem Arbeitgeber auferlegt, die Minderleistung im Fasten zu tolerieren (und zu bezahlen) sowie das Gebet zu erlauben (Leistungshindernisse mit Anspruch auf bezahlte Freistellung).

Die 2-3 täglichen Pflichtgebete sowie die Minderleistung im Fastenmonat können sich auf bis zu 40 Arbeitstage im Jahr aufaddieren – bei 250 Arbeitstagen im Jahr wären das bis zu 16 %.

Allein bei Zahlung des Mindestlohns sind das (einschließlich der Abgaben des Unternehmens) schon fast 4.000 € im Jahr, die ein religiöser Muslim mehr kosten kann, im Vergleich mit einem nicht-muslimischen Arbeitnehmer. Jene, die das wissen, sind bei der Einstellung von religiösen Muslimen zurückhaltend.

Als das Urteil am 14.03.2017 verkündet wurde, passierte in Deutschland folgendes: Die Chefin der Anti-Diskriminierungsstelle der Bundesregierung, Frau Lüders, lieferte den einzigen amtlichen Kommentar zum EuGH-Urteil. 150 Worte der Ablehung waren die offizielle Stellungnahme der Bundesregierung zum EuGH-Urteil, das auch in Deutschland geltendes Recht ist.

Im Duktus einer ostelbischen Gutsbesitzerin von 1850 mokierte sich die politische Beamtin, deren Dienststelle in einem, von der SPD geführten Ministerium angesiedelt ist:

„Zukünftig kann sich jede Arztpraxis, jede Eisdiele oder jeder Großbetrieb für weltanschaulich neutral erklären – und damit de facto Frauen mit Kopftuch ausschließen … Ich kann nur hoffen, dass die Arbeitgeber begreifen, dass sich hinter dem Gedanken der „weltanschaulichen Neutralität“ im Klartext der Ausschluss einer ganzen Gruppe verbirgt. Das aber kann und darf nicht im Interesse einer vorausschauenden und inklusiven Personalauswahl sein!“

Der EuGH verkündete das Urteil am 14. MÄRZ 2017. Zur Gleichschaltung der deutschen Medien erfolgte die obige Stellungnahme von Frau Lüders bereits am 18. FEBRUAR 2017, also 25 Tage vor der Veröffentlichung, so dass genügend Zeit verblieb, das deutsche Medienecho zu orchestrieren. Offenbar hatte sie vergessen, das Datum auf den 14.03.2017 zu ändern und stellte das Original ins Netz – oder wollte sie eine subtile Message senden?

Es gab – wen wundert’s – am 14.03.2017 nur zwei unterschiedliche Varianten der Aufmacher in den deutschen Massenmedien, was Sie bei Google schnell nachprüfen können.

  • • Mitteilungen der empörten Islamverbände (Diskriminierung!), eine dpa-Meldung.
    Das Handelsblatt z. B. vertrat die Interessen der Islamverbände, nicht der Unternehmen.• Bekundungen lininentreuer Unternehmen, wie die von Kaufland: „Wir respektieren unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren unterschiedliche Kulturen, Religionen sowie die damit verbundenen Traditionen. Für uns ist es daher selbstverständlich, dass unsere muslimischen Mitarbeiterinnen ein Kopftuch tragen.“

Andere Kommentare gab es – wie weiland in der DDR bei ähnlichen Akklamationen – nicht.

Jetzt wird verständlich, weshalb deutsche Behörden, Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Wirtschaftsverbände und Medien nicht über die dramatischen Auswirkungen des EuGH-Urteils auf die Integration von fast 6 Millionen Muslimen informierten. Wenn sie auf deren Webseiten nach dem Urteil suchen, finden Sie – nichts. Dieses Urteil gilt auch in Deutschland, aber man informierte nicht und dachte vermutlich darüber nach, es zu unterlaufen. Was jetzt passierte.

Am 27.03.2018 hat nun das Landesarbeitsgericht Nürnberg ein Urteil in ähnlicher Sache, aber mit anderem Ergebnis gefällt (Az. 8 Ca 6967/14).

Die Legal Tribune online meldete

„Einer Vorlage an den EuGH ging man bewusst aus dem Weg, indem man sich ein Hintertürchen offen hielt: Auch wenn europarechtlich betrachtet keine Diskriminierung vorliege, so das LAG, verstoße die Weisung dennoch gegen die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit, die trotz der EuGH-Rechtsprechung Geltung behalte.
Schließlich gehe es nicht um die Auslegung von Gemeinschaftsrecht, sondern von § 106 Gewerbeordnung (GewO), der dem Arbeitgeber ein Weisungsrecht einräumt …
So befand man schlussendlich die Weisung für rechtswidrig und bestätigte die Nachzahlung der zwischenzeitlich angefallenen Vergütung.“

Ob man mit diesen Tricks aber die Beschäftigungsquote von religiösen Muslimen aus den unterentwickeltsten Ländern ab sofort in die Höhe treiben kann, bleibt abzuwarten.

Schauen wir uns die Historie „Arbeit – Sozialhilfe“ bei den Flüchtlingen aus den 8 islamischen Herkunftsländern (Afghanistan, Pakistan, Iran, Irak, Syrien, Eritrea, Somalia, Nigeria) an:

Da kann man sich sehr gut vorstellen, wie die Tabelle fortgesetzt wird.

Man wird sehen, ob die Drogeriekette das Urteil vor das Bundesarbeitsgericht bringt oder ob es andere LAG gibt, die anders urteilen. Sichtbar wird wieder die Zerissenheit bei der Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört.

Die EU-Generalanwältin hatte 2016 im Schlussantrag festgestellt:

„Letztlich stehen die Rechtsprobleme rund um das islamische Kopftuch stellvertretend für die grundlegendere Frage, wie viel Anderssein und Vielfalt eine offene und pluralistische europäische Gesellschaft in ihrer Mitte dulden muss und wie viel Anpassung sie umgekehrt von bestimmten Minderheiten verlangen darf.“


Rainer M. Wolski veröffentlichte 2017 das Buch bei Amazon:

Das „Kopftuch-Urteil“ des EuGH und seine Auswirkungen auf die Integration von 6 Mio. Muslimen in Deutschland.