Tichys Einblick
Angeblich bis zu 70% höhere Ansteckungsgefahr

Der große Wirbel um die angeblich brandgefährliche Corona-Mutante

Das Virus ist mutiert, neue Panik macht sich breit. Was ist dran, an den angeblichen Gefahren? Was wissen wir? Vor allem kann man erkennen, wie schräg die Corona-Öffentlichkeit funktioniert.

imago images / ZUMA Wire

„Es denkt, es fühlt und ja: es ist böse und will uns alle töten. Jetzt hat sich der Generalissimus Sars eine neue perfide Strategie ausgedacht, die es bis zu 70 Prozent ansteckender macht.“ So ähnlich scheint die Vorstellung vom Corona-Virus zu sein. Sofort stellt das Gesundheitsministerium Feldbetten, sperrt Flughäfen und Tunnel, kappt Fährverbindungen, man wartet nur noch auf die Wiederinbetriebnahme des Atlantikwalls. Die Corona-Politik und besonders die Berichterstattung über die Pandemie erinnern an einen Acht-Jährigen, der seine Playmobil-Ritterburg mit Indianerfiguren gegen Dinosaurier verteidigt, statt an die angebliche Herrschaft der Wissenschaft.

Ein kleines Einmaleins der Evolutionstheorie zur neuen brandgefährlichen Corona-Mutante: Mutationen geschehen zufällig, ungerichtet und gerade bei Viren sehr häufig, da sie sich ja auch besonders schnell vermehren. Eine Richtung bekommen sie erst durch Selektionsdruck – survival of the fittest. Der Selektionsdruck sorgt aber nicht unbedingt  dafür, dass ein Virus gefährlicher für Menschen wird.
Das Kriterium, nachdem im Evolutionsprozess die Auslese stattfindet, ist die Widerstandsfähigkeit gegen Abwehrmittel, also das Immunsystem und Medikamente.
Die Selektion sorgt also dafür, dass resistente Varianten fortbestehen, die von den Abwehrmitteln nicht vernichtet werden. Die können gefährlicher oder harmloser für das Überleben des Wirtes sein als frühere.

Heft 01-2021
Tichys Einblick 01-2021: Wer schützt unsere Demokratie vor Corona?
Bei Sars-Cov-2 wurden bisher über 4.000 Mutationen allein an den sogenannten Spikes gefunden, also den in Darstellungen gut erkennbaren roten Punkten auf der Kugel, die für das Andocken an der Wirtzelle zuständig sind. Mutationen geschehen so zuverlässig, dass ihre Untersuchung gar ein üblicher Weg ist, die Verbreitung eines Virus zu verfolgen. 

Wir reden jetzt über die Variation des Virus mit dem kryptischen Namen VUI – 202012/01 bzw. B.1.1.7. Die verfügt über 23 Mutationen, von denen sechs synonym sind, also die produzierten Aminosäuresequenzen nicht modifizieren. 13 Mutationen betreffen jeweils eine einzige Aminosäure. Und davon soll eine Punktmutation jetzt brandgefährlich sein, weil ein Laborexperiment gezeigt haben will, dass diese Mutation an den Spikes dazu führt, dass das Virus einfacher an menschliche Zellen andocken kann. Wie sich das allerdings quantifiziert, ist nicht zu sagen. Ob sich das überhaupt nennenswert auf die Infektiosität auswirkt, ebenfalls nicht, schließlich spielen viele weitere Faktoren beim Ansteckungsprozess eine Rolle, nicht nur das Eindringen des Virus in die Zelle.

Die Mutation wurde erstmals in einer Probe des britischen Covid-Genetik-Konsortiums im September entnommen, erst im Oktober fiel das aber auf, und jetzt im Dezember geht die Panik los. Erinnern sie sich noch an die rasante Verbreitung des Virus im Frühjahr? Und jetzt soll nach drei Monaten (wahrscheinlich sogar noch länger) ein angeblich noch-infektiöseres Virus noch nicht in Deutschland angekommen sein? Und jetzt machen wir die Flughäfen dicht, was im Frühjahr noch undenkbar war, als Spahn erklärte, das Virus mache an Grenzen nicht halt. 

Und schließlich ist es sogar möglich, dass sich dieses mutierte Virus eher in den oberen Luftwegen als in der Lunge manifestiert und damit harmloser wird, gibt der Mediziner Jochen Maas, Vizepräsident des House of Pharma and Healthcare, zu bedenken. Selbst Drosten sagt, es sei positiv zu werten, dass der neuen Variante ein bestimmtes Gen fehle, das die Krankheitsschwere verstärkt. Die um 70 Prozent höhere Ansteckungsgefahr, von denen nun überall die Rede ist, sind für Boris Johnson ein willkommenes Argument, um die Schuld an der weiteren Ausbreitung dem Virus zuzuschieben und um ohne Gesichtsverlust sein Versprechen – an Weihnachten kein Lockdown – brechen zu können. 

Corona-Update 21.12.2020
Lockdown ohne Wirkung, Antworten auf die echten Probleme in der Warteschleife
Diese 70 Prozent beruhen auf statistischen Hochrechnungen über die Verbreitung in England. Das ist schon aberwitzig: Einerseits hat man eine sehr geringe Datenmenge – ein normaler Test kann die Mutation schließlich nicht erkennen -, andererseits hat man doch noch nicht einmal über das „alte“ Coronavirus nennenswert belastbare Fakten zur Übertragbarkeit. Und wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie wenigstens Christian Drosten: Die Zahl sei „einfach so“ genannt worden, sagte er am Montagmorgen im Deutschlandfunk. Politiker würden solche Zahlen nennen, Medien nähmen diese auf. „Plötzlich steht so ein Wert im Raum – 70 Prozent – und keiner weiß überhaupt, was damit gemeint ist.“

Am Sonntag twitterte er noch: „Weitere unklare Mutationen. Ursprungsvirus/Mutante noch nicht im Labor verglichen. Verbreitung kann Zufall sein, nicht zwingend Selektionsvorteil, aber möglich.“ Nur um dann eine Kehrtwende zu machen: „Das sieht nicht gut aus“, die er aber jetzt wieder relativiert hat.

Auch der andere Virologen-Papst Streeck sagt: „Dass Viren mutieren, ist zunächst nichts Außergewöhnliches. Die B.1.1.7 Variante von SARSCoV2 hat viele Mutationen in der Oberfläche, mit der es an die Zielzelle andockt. Daten aus dem Computer und Labor suggerieren, dass es dadurch leichter übertragen werden könnte, aber viel wichtiger ist, ob der Impfstoff noch wirken kann und die Immunantworten auch noch die neue Variante des Coronavirus erkennen, wenn man bereits einmal infiziert war. Erste Daten aus dem Labor sagen: ja!“. 

Mitglied der Teflon-Fraktion
Jens Spahn: Seit 2002 im Bundestag und im Geschäft
Dass eine Mutation auftritt und sich verbreitet, ist nichts Ungewöhnliches und kann auch ohne weiteren Selektionsvorteil geschehen. Genauso denkbar wie eine höhere Infektiosität wäre auch eine geringere Gefahr, die vom Virus ausgeht, da weniger schwere und damit erkannte Verläufe die Verbreitung ungehinderter vonstatten gehen lassen. Die Corona-Panik wurde hier in diesem Szenario auf die Spitze getrieben. Vor einigen Wochen war die Idee, wir hätten gar nicht mehr Covid-19, sondern schon Covid-20, und müssten somit eine neue Zählung der Fälle starten, noch eine rechts-relativierende Verschwörungstheorie. Inzwischen scheint die Politik den Gedanken aber sexy zu finden mit einem „neuen Virus“ wieder neue Begründungen für ihre Maßnahmen gefunden zu haben. Bei den Medien gilt leider nur noch: „panic sells!“, und Politiker können all ihr Versagen abermals auf eine neue Gefahr schieben. 

Man könnte es als belustigendes Lehrstück über die abgefahrene Dynamik unserer Öffentlichkeit betrachten, wäre nicht eines dabei so tragisch: Eine Sau nach der anderen wird durchs Dorf getrieben und lenkt zuverlässig davon ab, die wirklich lebensrettenden Maßnahmen zur Stabilisierung des Gesundheitssystems und zum effektiven Schutz von Pflegeheimen endlich zu ergreifen. Es scheint mittlerweile die politische Linie dieses Landes zu sein: maximale Einschnitte plus kontrollierte Durchseuchung der Risikogruppen. 

Anzeige