Tichys Einblick
Corona: Was wissen wir?

Ein harter Lockdown bei dieser Gefährdungslage bedeutet: nie wieder Normalzustand

Wir werden überschwemmt von Daten, Gerüchten und Prognosen zu Corona und dieser und jener Einschätzung eines Virologen. Doch eine so extreme Maßnahme wie ein harter Lockdown darf nur auf harte Fakten gebaut werden - wie sehen die aus?

imago images / Future Image

In der Pandemie verlässt man sich auf die Wissenschaft. Journalisten müssen sich oft anhören, sie würden mit ihrem Geschwätz die Erkenntnisse der Wissenschaft bloß relativieren; daher beschränken sie sich zunehmend darauf, die Wissenschaft nachzuerzählen. Dabei ist die Relativierung wissenschaftlicher Erkenntnisse genau die Aufgabe des Journalisten – denn erst, wenn man Erkenntnisse ins Verhältnis setzt, kann man daraus politische Entscheidungen ableiten. Ich bin kein Wissenschaftler, aber es ist meine Aufgabe mir anzumaßen, die Erkenntnisse, die wir über Covid-19 haben, in Relation zu setzen. Denn unbenommen haben wir eine verheerende Krankheit, die täglich Menschenleben kostet. Aber das Leben ist brutal. Die Frage, wie außergewöhnlich die Maßnahmen sein dürfen, hängt davon ab, wie außergewöhnlich die Bedrohung ist. Denn natürlich ist alles gesellschaftliche Leben, wenn man es in der herrschenden, zynischen Logik zu Ende denkt, eine einzige Triage. Wir können bei allen Dingen bei der Frage enden: Rette ich auf der einen oder auf der anderen Seite Leben. 

Die Frage, ob der jetzt verhängte Lockdown eine gerechtfertigte Ausnahmeregelung ist, hängt in erster Linie an der Frage, inwiefern wir es beispielsweise im Vergleich mit den Grippewellen der letzten Jahre überhaupt mit einer besonderen Ausnahmesituation zu tun haben. Wagen wir einen Kahlschlag der Gerüchte, Spekulationen und Hochrechnungen: was wissen wir?

Die Infektionen

Täglich schauen wir gebannt auf die Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Fein säuberlich werden uns Kurven aufbereitet: R-Wert, 7-Tage-Inzidenz, Neu-Infektionen etc. Aber was sagen uns diese Zahlen wirklich? Die Datengrundlage ist dünn.

Sie basieren auf dem PCR-Test, der viele bekannte Probleme aufweist. Falsch-Positive Ergebnisse, zu hohe Sensivität, die Tatsache, dass der Test nur nach einer Sequenz des Virus sucht und Doppelt-Testungen, die nicht herausgerechnet werden. Und natürlich die Frage: Was bedeutet es schon, wenn jemand infiziert ist, wenn die Krankheit aber nie ausbricht und der Betroffene auch nie ansteckend wird?
Dennoch haben wir keine anderen Werte als die PCR-Test-basierten RKI-Zahlen. Die können uns vielleicht nicht direkt etwas über die tatsächliche Quantität der Pandemie sagen, aber – setzen wir sie ins Verhältnis mit den durchgeführten Tests – schon etwas über die relative Verbreitung im Vergleich zum Frühjahr. 

Und diese Daten zeigen uns: Wir erleben eine zweite Welle. Wieviel größer die aber im Vergleich zur ersten Welle ist, ist hinterfragbar. Zwar haben wir doppelt soviele positive Tests heute wie im Frühjahr, aber eben auch rund fünf mal so viele Tests. Die Quote der positiven Tests ist heute ungefähr die gleiche wie damals. Wieviele Infektionen festgestellt werden, hängt zu einem maßgeblichen Teil an der Anzahl der Tests. 

Die Ursache dafür bringt uns zu einem Punkt, der viel zu selten ausgeleuchtet wird: Es gibt eine extrem hohe Dunkelziffer. Wir testen bei weitem nicht flächendeckend. Wieviele Infektionen, bei denen die Krankheit nicht weiter schlimm ausbricht, bleiben unentdeckt? Wieviele Menschen vermeiden es gar, sich testen zu lassen, aus Angst vor der Quarantäne? 

Einen realistischeren Blick auf die Infizierten, wenn wir sie retrospektiv betrachten, geben sicherlich die Toten, denn diese Zahl ist – wenn auch durchaus hinterfragbar (dazu kommen wir noch) – auf jeden Fall deutlich solider als die Infektionserhebung mittels Test. Setzen wir also die Toten mit den Infizierten ins Verhältnis, sehen wir ein extrem schwankendes Ergebnis. Teilweise ergibt sich eine Sterberate von fast 15 Prozent der positiv Getesteten.  

Schwankt die Tödlichkeit einer Krankheit tatsächlich von Monat zu Monat? Hier kann etwas nicht stimmen.

Die WHO gibt die Letalität von Covid-19 mit nur 0,23% an. Setzt man diese Zahl mit den gemeldeten Totenzahlen in Deutschland in Verbindung, kommt man auf eine sechs mal so hohe Infiziertenzahl wie die, die das RKI misst. Grafisch stellt sich das so dar (bei einem Corona-Toten tritt der Tod durchschnittlich 11 Tage nach den ersten Symptomen ein, das heißt man rechnet die Totenzahlen heute gegen die Infektionszahlen von vor 11 Tagen). 

Vermutlich haben wir also deutlich mehr Infektionen, als die bisher insgesamt vom RKI erhobenen gut 1,3 Millionen Fälle. Das spricht aber wiederum nicht dafür, dass wir eine gefährliche Seuche haben – im Gegenteil. Bei einer normalen Grippesaison schätzt das RKI die Fälle auf zwischen 2 und 14 Millionen.

Zu den Infizierten kann man also sagen: Auf Deutsch wissen wir gar nichts. Die RKI-Zahlen sind einerseits aufgrund der Testqualität evtl. zu hoch, andererseits scheint das alles im Vergleich zur Dunkelziffer aber irrelevant. Jedenfalls ist rätselhaft, wie das RKI zu der Meinung gelangen kann, dass ihre täglichen PCR-Testergebnisse das jeweils aktuelle Infektionsgeschehen auch nur annähernd abbilden, wenn auf der anderen Seite doch klar ersichtlich ist, dass eine Erhöhung der Testanzahl auch eine Erhöhung der Positiven erbringt.

Wenden wir uns der Frage zu, was das Virus für einen Schaden anrichtet – kommt man hier zu eindeutigeren Ergebnissen? 

Die Toten

Ebenfalls nicht unumstritten ist die Zahl der Toten, die das RKI täglich übersendet. Das RKI definiert einen Corona-Toten ziemlich schwammig auf seiner Homepage: „In die Statistik des RKI gehen die COVID-19-Todesfälle ein, bei denen ein laborbestätigter Nachweis von SARS-CoV-2 (direkter Erregernachweis) vorliegt und die in Bezug auf diese Infektion verstorben sind.“ Es werden ausdrücklich auch Fälle gezählt, bei denen Covid-19 nicht die alleinige Todesursache ist. Doch auch das ist ein schwieriges Argument. Angenommen jemand kommt nach einem schweren Motorradunfall ins Krankenhaus, kämpft um sein Leben, holt sich eine Corona-Infektion und stirbt dann. Natürlich stirbt er dann nicht allein an Corona, sondern hauptsächlich an seinen Verletzungen, die sein Immunsystem geschwächt haben – aber hätte er sich nicht mit Covid infiziert, wäre er vielleicht noch am Leben. Andererseits hat Corona möglicherweise auch schlichtweg gar nichts mit seinem Tod zu tun gehabt. 

Auch bei den Toten gilt: Aufgrund der kaum stattfindenden Obduktion von Corona-Toten wissen wir sehr wenig. Die bisher großflächigste Obduktion von Corona-Toten des Bundesverbands Deutscher Pathologen ergab, dass 86% der gemeldeten Corona-Toten tatsächlich an und nicht nur mit Corona gestorben sind. Gehen wir mal davon aus, die Corona-Totenzahl stimmt grob – was bedeutet das?  

Schaut man sich die wöchentlichen Corona-Toten im Verlauf an, sieht man, dass die Zahl der Toten nach wie vor steigt und zwar stärker als in der 1. Welle. In der letzten Kalenderwoche hatten wir knapp über 3.000 Tote in Deutschland. Dem gegenüber sterben aber 19.000 Menschen in einer durchschnittlichen Dezemberwoche. Wie sehr spiegeln diese 3.000 sich in der entscheidenden Gesamtzahl der Toten wieder? 

Die Ludwig-Maximilians-Universität München hat in einer Studie gezeigt, dass wir vermutlich keine Corona-bedingte Übersterblichkeit haben. Das heißt: Die Grippewellen der letzten Jahre kosteten ähnlich viele Opfer. Das zeigt sich auch in der Grafik. Der Ausschlag im Frühjahr der Grippewellen 2017/2018 übersteigt die Corona-Fälle um Längen. Corona-bedingte Ausschläge gab es bisher kaum, die im Jahr 2020 erhöhten Totenzahlen im Sommer (besonders der Peak im August) können aufgrund der damals geringen Infektionen nicht auf Corona, sondern laut Statistischem Bundesamt auf eine um 20% stärkere Hitzewelle zurückgeführt werden.

Zu den Grippewellen der letzten Jahre hat man wieder eine sehr schlechte Datenlage. Auf Grundlage der Übersterblichkeit in der Grippesaison lässt sich aber schätzen, dass 2018 in der schlimmsten Woche über 7.000 Menschen an Influenza gestorben sind – also mehr als doppelt soviele wie heute an Corona. Das RKI schätzt die Zahl der Toten der Grippewelle 2017/2018 auf über 25.000 – also ungefähr soviel wie bis heute in beiden Wellen an Corona gestorben sind.
Auch hier zeigt sich 2020 als kein Extremfall. 

Die Belastung des Gesundheitssystems

Der Punkt ist doch der: Bei allem, was sich bisher realisiert hat, haben und hatten wir keinen Extremfall. Selbst Jens Spahn hat das ja nachträglich im Sommer zugegeben, als er eine erneute Schließung der Geschäfte beim damaligen Wissensstand ausschloss. Die Corona-Diskussion dreht sich nach wie vor allein um die Sorge, was noch kommen kann.

Und hier geht es in erster Linie um die Krankenhäuser. „Flatten the curve“ war noch das Motto aus dem Frühjahr. Damals war man noch überraschend ehrlich, indem man sagte: Wir können ohnehin keine Toten verhindern, wir können die Kranken nur gleichmäßig verteilen, um eine Triage in den Krankenhäusern zu verhindern. Das ist die eigentliche Argumentationslinie hinter dem Lockdown.

Und in der Tat werden in den Medien immer wieder Statistiken gezeigt, die eine rückläufige Zahl der freien Intensivbetten zeigen. Das stimmt in gewissem Umfang auch, die Ursache liegt nur eben nicht im dramatischen Anstieg der Corona-Intensivpatienten.

Wir sehen: Die Zahl der belegten Intensiv-Betten 2020 (in der Grafik gelb) steigt, aber so langsam, dass sich damit keine Ausschöpfung der Kapazitäten ankündigt. Die Zahl ist bis jetzt auch nicht höher als die durschnittliche Intensivbettenbelegung der Jahre 2016, 2017, 2018 (für das Jahr 2019 liegt der entsprechende Report des Statistischen Bundesamtes nicht vor). Eine Analyse, die auf der Website des Bundesgesundheitsministeriums abzurufen ist, zeigt aber für den gesamten Zeitraum der erste Welle, dass die belegten Intensivbetten in jeder einzelnen Woche unter den Werten von 2019 und 2018 lagen, teilweise bis zu 20% niedriger. 

Die Abnahme der freien Intensivbetten in den letzten Wochen kommt durch die Abnahme der gesamten Intensivbetten-Kapazität und die wiederum vermutlich durch die zunehmende Krankschreibung und Quarantänisierung des Pfelegepersonals, sodass physisch vorhandene Betten nicht mehr einsatzfähig sind. Auch hier liegt die Zahl aber immer noch etwa in der Durchschnittsgröße der Vorjahre. (Siehe Grafik). 

Nun soll das in keinem Falle heißen, dass die Lage auf den Intensivstationen vielerorts nicht dramatisch wäre, dass dort Corona-bedingt keine Notlage zu finden ist. Aber die Ursache dafür ist nicht die unendlich bedrohliche Pandemie, sondern die offensichtlich desolate Lage des Gesundheitssystems. 

Schon 2019 kam ein Text im Ärzteblatt zu dem Schluss: „Eine Umfrage unter Intensivpflegenden zeigt nun, dass sich die Situation in den nächsten Jahren weiter zuspitzen wird. Um den Status der intensivmedizinischen Versorgung zu halten, sind grundlegende Änderungen notwendig.“ Der Normalbetrieb sei in Spitzenzeiten wie der Grippewelle 2017/2018 „häufig nicht mehr aufrechtzuerhalten“. Umfragen unter Pflegepersonal zeigten, dass über 95% angaben, die Arbeitsbelastung habe in den letzten Jahren deutlich zugenommen und sage und schreibe 37,3% gaben an, den Beruf in den nächsten fünf Jahren verlassen zu wollen. 

Wenn unser Gesundheitssystem aufgrund dieser Zahlen überlastet ist, kann die Lösung doch nicht sein: In Zukunft machen wir wegen jeder Grippe- (oder gleich jeder Hitzewelle?) einen Lockdown. Im großen und ganzen doch durchschnittliche Grippeinfektionen zu verhindern, kann nicht zum obersten Ziel menschlichen Zusammenleben gemacht werden. Auch hier zeigt sich nämlich keine Ausnahmesituation, die durch Corona in erster Linie verursacht wurde. 

Das ewige Szenario

Fassen wir zusammen: Wir haben eine undurchsichtige Infektionslage, wir haben viele Tote und Intensivpatienten, aber nicht mehr als in den letzten Jahren durch die Grippewellen auch. Dazu kommt: Der Anteil der unter 50-Jährigen an den Corona-Toten liegt bei 1,2%. Es sind fast doppelt so viele über 90-Jährige an Corona verstorben wie unter 70-Jährige. Das heißt wir sprechen von einer Krankheit, die für den übergroßen Teil der Bevölkerung nicht tödlich ist.

Wir haben eine schlimme Situation, aber mit einer solchen Situation muss man jährlich rechnen, die werden wir so schnell nicht los. Auch nicht mit einer Impfung, denn es ist von Jahr zu Jahr ein anderes Virus, was zu diesen Schäden führt. Wenn die Antwort auf diese Probleme ein harter Lockdown ist, dann wird der harte Lockdown mit all seinen katastrophalen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und psychologischen Folgen zum alltäglichen Mittel der Politik werden müssen.

Der besondere Extremfall ist bisher nicht eingetreten, wir reden immer nur von sich abzeichnenden Szenarien. Aber diese Szenarien zeichnen wir schon seit einem dreiviertel Jahr. Es ist gut und richtig, dass Mediziner uns ein Extremszenario aufzeigen. Aber wir können unsere Politik nicht daran allein ausrichten. Es ist die Aufgabe der Politik, alle Extremszenarien in Gesundheit, Wirtschaft, Gesellschaft etc. abzuwägen, letztendlich kann man sich aber nur an der faktischen Realität orientieren. Schließlich braucht eine so extreme Maßnahme wie ein Lockdown eine felsenfeste Begründung und darf nicht einfach mal so spekulativ verhängt werden. Das Diktat des medizinischen Tunnelblicks muss enden, denn einseitige Betrachtungen führen zu absoluten Antworten, und absolute Antworten sind das Ende der Demokratie. 

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