Tichys Einblick
Virus und Willkür

Corona als Regierungsform

Die Staatsorgane probieren gerade aus, mit wie wenig Freiheit die Menschen eigentlich so auskommen – und welche Begründungen gut ankommen, um die Bürgerrechte immer weiter einzuschränken.

imago Images

Am vergangenen Samstag passiert das Undenkbare. In Berlin versammeln sich etwa 40 Menschen, um für bürgerliche Freiheiten zu demonstrieren. „Grundrechte verteidigen – nein zur Diktatur“ heißt der Mini-Aufmarsch. Protestiert wird symbolträchtig auf dem Rosa-Luxemburg-Platz.

„Man muss nicht nur entschlossen gegen das Virus kämpfen – sondern auch gegen eine Stimmung, die die Grund- und Bürgerrechte in Krisenzeiten als Ballast, als Bürde oder als Luxus betrachtet, den man sich in diesen Zeiten nicht leisten könne.“

(Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung)

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Die Veranstaltung ist korrekt angemeldet und behördlich genehmigt. Das hält die Polizei nicht davon ab, mit – von Teilnehmern gezählt – zehn Mannschaftswagen anzurücken. Deren Passagiere wollen, so viel ziviles Engagement vor Augen, offenbar nicht einfach untätig im Abseits stehen bzw. sitzen. Jedenfalls wird die absolut friedliche Versammlung aufgelöst – angeblich wegen Verstößen gegen die Corona-Abstandsregeln.

Wie rüde die beflissenen Ordnungshüter dabei gegen absolut gewaltlose, auch erkennbar ältere Menschen vorgehen, kann sich jeder auf Augenzeugenvideos zwecks eigener Urteilsfindung selbst ansehen: hier.

Die Polizei gibt später offiziell bekannt, dass von insgesamt 31 Personen die Personalien festgestellt und Strafanzeigen bzw. Anzeigen wegen Ordnungswidrigkeiten (Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz) angefertigt wurden.

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„Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ (Art 8., Abs. 1 GG)

Die Versammlungsfreiheit ist ein zentrales Recht des freien Bürgers in der Demokratie – ein sogenanntes Grundrecht, das nicht geändert werden darf (auch dann nicht, wenn es im deutschen Parlament dafür eine ausreichende Mehrheit gäbe). Trotzdem können auch Grundrechte gewissen Einschränkungen unterliegen. Für die Versammlungsfreiheit zum Beispiel bestimmt die deutsche Verfassung:

„Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ (Art. 8, Abs 2 GG)

Um das für die Demokratie elementare Grundrecht der Versammlungsfreiheit maximal beschränken zu können, hat sich der Deutsche Bundestag nun einen für diesen Zweck doch eher exotischen Weg ausgesucht: das Infektionsschutzgesetz (IfSG). Das wurde im Zuge der Corona-Notstandsgesetzgebung massiv verändert. Dort heißt es jetzt:

„… kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten. (…) Die Grundrechte der Freiheit der Person, der Versammlungsfreiheit, der Freizügigkeit und der Unverletzlichkeit der Wohnung werden insoweit eingeschränkt.“ (§ 28 Abs. 1 IfSG)

Das ist nichts anderes als eine Generalvollmacht zur beliebigen Aussetzung der wichtigsten Errungenschaften unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft – durch die Änderung einer „Vorschrift, die bis vor kurzem niemand kannte“, wie der Jura-Professor und Rechtsanwalt Niko Härting angemessen entgeistert schreibt.

Er ruft zum Widerstand auf:

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„Sie kennen mich.“

Das war der zentrale Satz, mit dem Angela Merkel im Jahr 2013 Wahlkampf machte. Es war die Botschaft: Ihr wisst doch, wie ich die Dinge so angehe. Ich mache bestimmt nichts Schlimmes. Vertraut mir.

Nun mag man gutgläubig sein und Politikern und Bürokraten nichts Böses unterstellen wollen. Aber wenn alles immer glatt liefe, bräuchte es gar keine Regeln. Gesetze sind für den Konfliktfall gemacht – auch für den Konflikt zwischen Bürgern und Staat.

Wie wenig zurückhaltend und umsichtig die Staatsorgane tatsächlich mit einem nahezu unbegrenzten Machtzuwachs umgehen, hat in diesen Tagen sehr eindrucksvoll der Landkreis Germersheim in Rheinland-Pfalz demonstriert. Dort wurde eine Demonstration für mehr Flüchtlingshilfe verboten, an der zwei (in Zahlen: 2) Menschen teilnehmen wollten. Begründung: Es könnte sich ja ein nichtangemeldeter Dritter der Mini-Demo anschließen (keine Satire).

Früher wäre hier die Polizei dafür zuständig gewesen, etwaige Auflagen und Beschränkungen (Mindestabstand, Mundschutz, …) vor Ort durchzusetzen. In Zeiten der bürokratischen Corona-Allmacht wird der Einfachheit halber jetzt eben gleich ein Totalverbot wegen Masseninfektionsgefahr erlassen.

Wer sich bei der Rettung der zentralen Bürgerrechte auf die Gerichte verlassen sollte, ist verlassen. Die deutsche Justiz ist traditionell ohnehin nicht eben für Bürgernähe bekannt. Diese obrigkeitshörige Neigung schlägt jetzt voll durch.

Die Verwaltungsgerichte decken den übergriffigen Staat mit Begründungen, die irgendwo zwischen naiv und fadenscheinig liegen und die bei zahllosen Juristen nur noch für Kopfschmerzen vom vielen Kopfschütteln sorgen.

In den Urteilsbegründungen heißt es, die Beschränkungen würden ja „nur noch für kurze Zeit“ gelten (als würde irgendjemand ernsthaft an einer Verlängerung auf unabsehbare Zeit zweifeln). Die Maßnahmen seien „noch rechtmäßig“, „noch verhältnismäßig“… und so weiter, und so fort.

Typische Beispiele (gesammelt vom Berliner Staatsrechtler Clemens Arzt) finden Sie hier und hier.

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Wenn Sie jetzt dachten, schlimmer ginge es nicht mehr, haben Sie sich leider geirrt.

Es ist halt einfach so: Reicht man dem Staat den kleinen Finger, reißt der einem gleich den ganzen Arm ab. Gesetze regeln nicht nur das Miteinander der Bürger. Sie regeln auch, ja sogar vor allem, den Umgang des Staates mit den Bürgern: Was er darf – und was nicht. Gesetze beschränken die Macht der Bürokratie.

Diese Machtbegrenzung verschwindet – nicht zuletzt deshalb, weil Parlamente freiwillig für die Selbstentmächtigung stimmen.

Die Regierungsfraktionen von SPD, CDU und Bündnis‘90/Grünen in Brandenburg haben dem Potsdamer Landtag einen Gesetzentwurf vorgelegt, der dem zuständigen Minister erlauben soll, von Vorschriften der Kommunalverfassung (das ist ein förmliches Gesetz) durch eine einfache Rechtsverordnung abzuweichen – die liegt allein im Ermessen des Ministers. (Gesetz zur Sicherstellung der Handlungsfähigkeit der brandenburgischen Kommunen in außergewöhnlicher Notlage – Brandenburgisches kommunales Notlagegesetz – BbgKomNotG)

Ähnliche Regelungen zur Aushebelung von Gesetzen durch Ministerialverordnungen gibt es auch zum Beispiel in Berlin und in Rheinland-Pfalz.

Als sendungsbewusstes schlechtes Vorbild hatte schon der Deutsche Bundestag eine analoge Kastration an sich selbst verübt: Im schon beschriebenen, inzwischen berüchtigten Infektionsschutzgesetz sind ebenfalls Abweichungen von gesetzlichen Regelungen allein durch Verordnung eines Ministers (also noch nicht einmal des ganzen Bundeskabinetts) erlaubt. (§ 5 Abs. 2 Satz 3 IfSG)

Die Corona-Krise ist zu einer quasi-totalitären Regierungsform geworden.

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Wohin das führt, wenn sich die Staatsorgane eigentlich nur noch selbst ihre eigenen Regeln machen, konnte man am vergangenen Freitag besichtigen – wiederum in Berlin:

Da versammeln sich nach offizieller Schätzung etwa 300 (fast ausschließlich Männer und erkennbar Muslime) vor der zwielichtigen Dar-Assalam-Moschee im berüchtigten Berliner Bezirk Neukölln – obwohl die Corona-Maßnahmen des Senats das ausdrücklich verbieten (wie Gebete in christlichen Kirchen auch).

Dass Verfassungsschützer Verbindungen dieser Moschee und ihres Imams zur islamistischen Muslim-Bruderschaft vermuten, spielt hier ausnahmsweise nur eine untergeordnete Rolle.

Der Imam findet den verbotenen Menschenauflauf, Zitat: „toll“ – die Polizei weniger. Als sie eingreifen will, kommt es zu handgreiflichen Tumulten und Übergriffen auf die Beamten:

Anders als bei der zu Beginn dieses Textes geschilderten friedlichen Demonstration von 40 Anhängern des Rechtsstaats ist die Polizei bei dieser Zusammenrottung von mehr als 300 teilweise gewalttätigen jungen Männern nach Augenzeugenberichten nur mit maximal vier Mannschaftswagen präsent.

Und sie tut – nun ja, eigentlich nichts. Es werden, anders als bei der viel kleineren Bürgerrechtsdemo, keine Personalien festgestellt. Es gibt keine Anzeigen.

Genau das ist es, wovor die Bürger durch die Grundrechte und durch die Gesetze eigentlich geschützt werden sollen.

Man nennt es: Willkür.

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