Tichys Einblick
Karlsruher Urteil

Bundesverfassungsgericht verlangt Ergänzung der Triage-Kriterien

Das Triage-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein Erfolg für alle Bürger. Der Gesetzgeber muss nun regeln, wie im Falle nicht ausreichender Ressourcen über die Behandlung von Patienten entschieden wird. Geklagt hatten neun Menschen mit Behinderungen.

IMAGO / photothek

Es kommt selten vor, dass das Oberste Gericht der Bundesrepublik die „unverzügliche Umsetzung“ eines Urteils der Verfassungsrichter anordnet. Normalerweise wird dem Gesetzgeber eine Zeitspanne von bis zu zwei Jahren eingeräumt. Doch diesmal geht es im wirklichen Sinne um Leben oder Tod!

Geklagt hatten neun behinderte Menschen, die die Sorge umtrieb, im Falle nicht ausreichender Ressourcen – wie Intensivbetten oder Operationskapazitäten – aufgrund ihrer Beeinträchtigungen von der Behandlung ausgeschlossen werden zu können. Eigentlich hätte man davon ausgehen müssen, dass Karlsruhe diesen Antrag von vornherein als nicht „realitätsrelevant“ abweisen würde. So hätte allein der Artikel 1 des Grundgesetzes, der die „Würde des Menschen für unantastbar“ erklärt, ein solches Vorgehen ausschließen müssen. Denn was verletzt die Würde mehr als die Verweigerung medizinischer Hilfe – gerade für Behinderte? Eine körperliche Behinderung gilt allgemein nicht als Krankheit.

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Doch siehe da, das Verfassungsgericht bewertete dies anders. Es forderte den Gesetzgeber auf, unverzüglich die Rechte der Behinderten entsprechend des Gleichheitsgrundsatzes (Artikel 3 GG) der Verfassung zu stärken.

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Wozu gibt es eigentlich den dauernd in Corona-TV-Talks vertretenen Ethikrat, wenn er nicht schon längst auf diesen Missstand aufmerksam gemacht haben müsste? Aufgekommen ist die Diskussion in dem Augenblick, als befürchtet werden musste, dass nicht ausreichend Plätze zur Behandlung von schwer an Corona Erkrankten auf den Intensivstationen zur Verfügung stehen könnten und darüber hinaus die Kapazitäten zur Behandlung anderer Krankheitsbilder knapp würden. Dann nämlich stellt sich das Problem der Triage, bekannt eigentlich nur aus den Frontlazaretten in Kriegszeiten, bei der die Ärzte im Einzelnen entscheiden, wer Hilfe bekommt und wer nicht. Es handelt sich dabei um die wohl schmerzlichste Entscheidung eines Arztes während seines Berufslebens.

Auch während der zwei Jahre andauernden Corona-Krise in Deutschland ist dieser Zustand noch nie eingetreten. Plötzlich aber entfaltete sich eine makabere Debatte. Es wurde gefragt, ob Impfverweigerer, die sich unsolidarisch gegenüber der Gemeinschaft verhielten, bei einer Erkrankung nicht ihr Recht auf Behandlung verlieren sollten. Im konkreten Falle käme dies einem Todesurteil wegen Nicht-Inanspruchnahme von staatlichen Impfleistungen gleich. Denn bekanntlich existiert in der Beachtung des Rechts auf Selbstbestimmung des Einzelnen, auch über seinen Körper, hierzulande keine gesetzliche Impfpflicht – noch bis vor Kurzem wurde eine solche auch konsequent ausgeschlossen!

Aufgrund zu geringer Impfbereitschaft wird jetzt jedoch erwogen, eine solche Pflicht einzuführen. Dabei wird Wert darauf gelegt, dass auch diese noch keinen Impfzwang mit sich bringen werde. Verfahren dieser Art sind gerade ins Karlsruhe aufgrund der Bedeutung kompliziert und meist sehr umstritten.

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Jedenfalls stieß das Gericht bei seinen Recherchen auf einen Katalog der Kriterien, die bei einer Triage den Ausschluss von der Behandlung rechtfertigen können. In der Regel ist es der Gesamtzustand des Patienten unter Würdigung von Vorerkrankungen und der Funktionsfähigkeit der wesentlichen Organe, die letztlich die Entscheidung begründen. Eines allerdings ließ die Richter aufhorchen: Denn unter diesen Kriterien ist auch die „Gebrechlichkeit“ des Betroffenen aufgeführt. Ist eine Behinderung also auch eine Gebrechlichkeit, die früher oder später unweigerlich zum Tode führen wird, die letztlich das „Todesurteil“ begründet? Hier muss der Gesetzgeber jetzt schnell Abhilfe schaffen. Unmittelbar nach Urteilsverkündung hat die Bundesregierung das auch zugesagt.

Uns alle erschrecken muss aber die Tatsache, dass allein das Nicht-Befolgen staatlicher Aufforderungen zur Verweigerung von Hilfe in der Not ernsthaft in der öffentlichen Debatte erwogen wurde. Erinnerungen an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte werden wach, in denen während des Nationalsozialismus geistig und körperlich Behinderte als „minderwertige und unnütze“ Existenzen eingestuft wurden. Dies galt auch für politische Gegner.

Manches ist so ungeheuerlich, dass man es gar nicht für möglich hält – und dann ist es plötzlich da. Die in Karlsruhe geklagthabenden Behinderten haben mit diesem Urteil auch einen Erfolg für uns alle erzielt!

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