Tichys Einblick
Fachtagung in Stuttgart

Bilanz nach 20 Jahren Energiewende – die Illusion von Europa als Energietauschraum

Zur grünen Vorstellung gehört, dass quer über Europa Energien ausgetauscht werden können, um die Stromversorgung zu sichern. Doch Europa ist nicht dafür ausgerüstet, so Energieverteilungsexperte Harald Schwarz bei der Fachtagung »20 Jahre Energiewende«.

Abschaltorgien in Deutschland – Betteleien im Ausland um Energie. Ob Wirtschaftsminister Habeck mit Bückling in Katar oder Außenministerin Baerbock in Tokio: Hoffen auf das Ausland – das ist das Prinzip, nach dem die Energiewende funktionieren soll.

Die eigenen Kraftwerke werden abgeschaltet, Windräder sollen es richten – das können sie aber nicht. Der Hauptbetriebszustand eines Windrades ist der Stillstand. Ein Rad kommt auf durchschnittlich 1800 Vollaststunden von insgesamt 8760 Stunden des Jahres – ziemlich wenig. Dazu kommen noch immer windärmere Jahre mit entsprechend geringeren Strommengen, wie Fritz Vahrenholt nachgewiesen hat.

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Woher also künftig Strom nehmen? Kupferplatte Europa – das ist die rettende grüne Vorstellung, dass quer über Europa Energien ausgetauscht werden können. Gewaltige Strommengen aus französischen Kernkraftwerken, aus Spanien oder gar von marokkanischen Wüstenstromkraftwerken nach Deutschland sollen so locker verschoben werden wie spanische Tomaten nach Hamburg.

Die allerdings werden mit dem LKW auf Autobahnen transportiert, Strom kann nur über Leitungen weitergeleitet werden. Wobei Energietransport über Stromleitungen eine ineffektive Lösung ist, weil sehr verlustreich: Viel Strom geht dabei verloren, das kostet Geld. Nicht umsonst bauten die früheren Ingenieure große Kraftwerke und Netzsysteme in die Nähe der Zentren, in denen viel Strom gebraucht wurde. Die Umkreise waren dabei nicht einmal besonders groß: Rund 400 km groß sollten die Radien für zum Beispiel eine 400 kV Leitung sein. Als unsinnig hätten sie die Pläne von »Stromautobahnen« von der Nordsee nach Bayern abgetan. Unterirdisch verlegte HGÜ Leitungen sind dabei nette Kosmetik.

Doch heute gelten andere Regeln. Der Import von Strom ist die letzte Rettung der Energiewender. Allerdings harmoniert diese Vorstellung nicht unbedingt mit der Realität. Der Strom muss ebenso Grenzen überqueren wie die Tomaten auf dem Lastwagen. Dafür gibt es nur wenige Übergänge.

Aus dem Vortrag des Leiters des Lehrstuhls »Energieverteilung und Hochspannungstechnik«, Prof. Dr.-Ing. Harald Schwarz, bei der Fachtagung »20 Jahre Energiewende« des Instituts für Energiespeicherung der Universität Stuttgart ging hervor, dass dies bei näherer Betrachtung Illusion ist. Denn das Verbundnetz in Europa wurde in den 1960er und -70er Jahren unter anderen Voraussetzungen errichtet.

Das aktuelle europäische Verbundnetz sei immer dazu gedacht gewesen, die Versorgungssicherheit zu erhöhen, so Schwarz im Gespräch mit TE. »Aber es galt immer der Grundsatz ‚jedes Land kümmert sich um sein eigenes Land‘«.

Jedes Land sorgt also für eigene Energieproduktion. »Wenn durch irgendwelche Defekte, Kraftwerksausfälle oder was auch immer plötzlich Leistung ausfällt, dann waren die Leitungen über die Grenze hinweg in der Lage, etwa 2000, 3000 MW pro Leitung zu liefern. Damit konnte man den Ausfall von einem oder zwei großen Kernkraftwerksblöcken zum Beispiel verkraften. Das ist das heute existierende System.« Heute werde das System ebenfalls dazu genutzt, um Energie zu handeln. Schwarz: »Wenn ich irgendwann gerade temporär Überkapazitäten habe und irgendeiner was kaufen will, ist das ja okay. Was eben heute definitiv nicht geht, ist, dass sich ganze Länder in hohen Größenordnungen aus dem Ausland versorgen, weil die Leitungen das gar nicht können.«

Deutschland – so heißt es häufig – habe rund 20 Gigawatt oder vielleicht etwas mehr an Grenzkuppelleistung. Das sind allerdings alle Leistungen über Grenzen in Länder rund um Deutschlands Netz zusammengerechnet. Schwarz: »Hilft ja auch nicht unbedingt, man muss ja auch die Netze in Polen, in Österreich, in Frankreich so weit so ertüchtigen, dass überhaupt die Leistung über die Leitungen kommen kann.« Diese Länder müssten also ihre Netze zu den Grenzen hin erst einmal ausbauen, sodass die viel mehr Leistungen durchleiten könnten.

Doch warum sollten sie sich auf dieses teure Unterfangen einlassen? Das hat noch niemand beantwortet. »Also es ist noch viel, viel, ich sage jetzt mal Wunschdenken dabei, wenig ingenieurtechnische Realität, und die Gefahr ist, dass die negativen Realitäten schneller hochkommen als die Wünsche erfüllt werden können, die man sich so im Moment macht.«

Bereits jetzt belasten die plötzlichen starken Schwankungen aufgrund der sehr volatilen Einspeisung der Windräder, Windparks und Solarenergie, deren Leistungen schlagartig entweder zunehmen oder absacken, die Netze. Schwarz: »Man braucht sich ja bloß die Energy Charts angucken. Fraunhofer ISE macht ganz schöne Bilder, wo man sich das Portfolio angucken kann; wo man auch sieht, was ist die Last, was ist die Einspeisung? Dann sieht man natürlich auch, dass plötzlich tagelang kein Wind vorhanden ist. PV ist nachts sowieso nicht da, und Wind ist dann auch tagsüber nicht da.«

»Also es gibt viele, viele Tage, wo man merkt, die ›Regenerativen‹ aus Wind und PV können rein physikalisch oder meteorologisch eben nicht. Wir haben jetzt durch den zunehmenden Ausstieg aus fossilen und aus Kernkraftwerken die Situation, dass wir unser Land selbst nicht mehr versorgen können. Es gibt Tage, wo Sie merken, in Größenordnungen fehlt da was, was eingekauft werden muss, und man sagt OK, wenn ich dieses Gap, das übrig bleibt, immer mehr vergrößere – wann kommt der Punkt, dass wir nicht mehr können?«

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Bilanz nach 20 Jahren deutsche Energiewende: Die Lage ist kritisch
Beispiel Januar 2021. In Deutschland waren ebenso wie in Frankreich nicht alle Kraftwerke in Betrieb. Auch Spanien musste intensiv Energie in Rumänien und Bulgarien kaufen. Diese gewaltigen Energiemengen mussten quer durch die europäischen Netze geschickt werden. »Es waren irgendwo 6000, 7000 Megawatt quer durch Europa unterwegs. Also erst mal von Bulgarien, Rumänien Richtung Nordwesten, dann Deutschland rein und Frankreich nach Spanien runter.« TE berichtete darüber. Schwarz weiter: »Plötzlich gab es an einer kleinen Schaltanlage irgendwo in Kroatien einen Defekt, weil die einfach überlastet war. Die fiel raus und dann ist Gesamteuropa aufgerissen in zwei Teile, einmal mit einer extremen Überproduktion und einmal mit einer extremen Unterproduktion. Dummerweise waren wir in dem Bereich, wo die Frequenz nach unten schoss.«

»Es ist an dem Tag nichts passiert. Aber man sieht eben: Europa ist nicht dafür ausgerüstet, 6000, 7000, 8000 MW zu transportieren. Wenn wir es einmal aus Kohle und Kernenergie rausgeht, reden wir über 20.000, 30.000, 40.000 MW, die uns fehlen. Und damit merkt man, da ist einfach eine Lücke, die ist so nicht auf die Schnelle geschlossen werden kann.« »Alle Lösungen, die im Moment in der Diskussion sind, dieses Problem zu lösen, dauern furchtbar lange und kosten wahnsinnig viel Geld.«

»Man kann natürlich wie gesagt über viele Technologien Energie speichern, in die Sektorkopplung gehen und auf den Gassektor und wieder zurück – das kann man alles tun. Nur bis ich das auf 10, 20, 50 Gigawatt habe, da haben wir locker, also Bauchgefühl – 25 Jahre zu tun – und müssen auch richtig Geld in die Hand nehmen. Nur in acht Jahren wollen wir aus der Kohle raus sein und aus Kernenergie dieses Jahr.«

Das Fazit von Schwarz: »Damit merken wir also: Die Geschwindigkeit des Ausstiegs ist viel, viel größer als die Geschwindigkeit des Umsteuerns auf was Neues, und da wird uns der Spagat irgendwann mal ziemlich wehtun.«