Tichys Einblick
Nachbarschaftstreff zu Drogenproblem

Berlin ist die Hauptstadt der Kapitulation

Das Bezirksamt Berlin-Tempelhof hat Nachbarn eingeladen, um mit ihnen über das Drogenproblem vor Ort zu reden. So richtig helfen können oder wollen die Vertreter nicht. Gegenüber dem eigentlichen Problem haben sie längst kapituliert.

IMAGO / Emmanuele Contini

Der Yorckbrückenkiez ist kein Problemviertel. Eigentlich. Lehrer leben hier. Fahrradläden, Bio-Supermärkte und Restaurants mit betont veganem Angebot zeugen von linker Bourgeoisie. Auch die Kita-Dichte ist hoch. Mitarbeiter internationaler Unternehmen wohnen hier unter der Woche, ebenso Journalisten und andere Mitarbeiter des Regierungsviertels. Vom Bahnhof Yorckstraße sind es nur zwei S-Bahn-Stationen bis zum Potsdamer Platz, drei bis zum Brandenburger Tor und vier bis zur Friedrichstraße.

Doch genau dieser Bahnhof, der den Übergang von der Yorck- in die Katzlerstraße bildet, ist für die Anwohner zum Problem geworden. Drogensüchtige haben den Platz in Besitz genommen. In der öffentlichen Toilette haben sie sich eingebunkert. Ihre Notdurft verrichten sie auf dem Platz. Im überschaubaren Gebüsch oder gleich am Zaun eines kleinen Bolzplatzes. Wer als Kind in der Katzlerstraße aufwächst – und das sind gar nicht so wenige –, hat mit ziemlich großer Sicherheit schon mal aus der Nähe zugesehen, wie sich ein heruntergekommener Mensch einen Schuss setzt.

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Die Bezirksverwaltung Tempelhof-Schöneberg hat nun die Anwohner eingeladen, um mit ihnen über die Situation zu reden. Die sind auch gekommen. Der Raum ist zu klein, um alle Interessierten aufzunehmen. Nun redet die Polizei und hat eine Botschaft mitgebracht. Sie verstehe den Ärger der Anwohner, kümmere sich um die Kriminalität, verhafte immer wieder Dealer, doch gegen die Sucht könne sie nichts machen. Auch die Stadt und ihre Drogeninitiativen sind da. Sie verstünden den Ärger der Anwohner, doch Verdrängung aus dem Kiez bringe nichts, weil sich dann die Süchtigen andere Plätze suchen müssten und damit sei keinem geholfen. Eine Vertreterin des „Notdiensts für Suchtmittelgefährdete und -abhängige“ sagt sogar: „Unsere Klienten haben eine Berechtigung, hier zu sein.“

Das ist nun die Botschaft, für die sich die Anwohner an einem Tag mit 30 Grad Celsius Außentemperatur in einen zu kleinen Raum gezwängt haben: Gegen Drogensucht kann man nichts machen. Verdrängen wollen wir die Süchtigen auch nicht. Ist also ihr Problem. Pech gehabt. So sagen es Polizei, Stadt und Drogenberater nicht. Sie sagen stattdessen: „Wir verstehen ihren Ärger“. Das klingt viel empathischer – meint aber letztlich das Gleiche.

Der Ärger der Anwohner kommt nicht von der reinen Präsenz der Süchtigen: Gebrauchte Spritzen liegen auf Platz und Wegen. Die Süchtigen reinigen sich am Wasserständer gegenüber der Bahnhofstoilette – oder an den Wasserspielplätzen in der Nachbarschaft. Wenn die Droge ihre Sinne vernebelt hat, interagieren sie mit den Anwohnern. Betteln ist noch das Harmloseste. Andere wanken verwirrt durch die Gegend. Schreien vor sich hin oder Passanten direkt ins Gesicht. Wer darauf eingeht, muss mit gewalttätigen Übergriffen rechnen – bis hin zu Messerattacken. Und wenn der Chefdealer einen säumigen Kleindealer abstrafen will, pöbelt er Spaziergänger auch mal an, dass sie den Platz zu räumen haben.

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Eine Polizistin verweist darauf, dass die Anwohner in solchen Situationen die Polizei rufen sollen. Auch aus politischen Gründen. Denn nur wenn die Fallzahlen steigen, wachse der Druck auf die Politik, etwas zu tun. Die Anwohner schildern ihr, wie unrealistisch das sei: Wenn sie Vorfälle meldeten, dauere es ewig, bis die Polizei komme. Die Täter seien dann weg und sie müssten lange am Tatort warten – auch wenn sie zum Beispiel eigentlich auf dem Weg zur Arbeit seien. Eine andere Polizistin schlägt ihnen vor: Sie könnten anrufen, dabei ihre Daten hinterlassen, weitergehen und für eine spätere Befragung zur Verfügung stehen. Es ist der einzige konkrete Vorschlag, den die Offiziellen in den Nachbarschaftstreff mitgebracht haben. Der Rest ist: „Wir verstehen ihren Ärger.“

Aber der Treff reduziert die Bürger nicht darauf, brav zur Arbeit zu gehen, Miete zu zahlen und Steuern für Polizei, Stadt und Suchtberatung. Sie sollen sich auch selbst um die Süchtigen kümmern. Gleich zwei Broschüren erhalten sie auf dem Treff, wie sie Süchtigen helfen können und sollen. Nicht dass es keine Beratung gäbe. Nein. Da wäre das Streetwork-Projekt. Die Suchthilfekoordination. Der Drogennotdienst. Die Krisenwohnung. Der Fixpunkt. Die Nachtläufer. Das Drogenkonsummobil. Der Sozialpsychiatrische Dienst. Oder das Team Dropout.

Doch obwohl die Anwohner mit ihren Steuern all diese hauptberuflichen Drogenberater finanzieren, sind sie aufgefordert, vor Ort zu helfen. Schließlich gammeln die Süchtigen vor ihrer Tür rum. Also sind sie ihr Problem. Klar: „Wir verstehen ihren Ärger.“ Aber ein Bürger der Katzlerstraße hat zu wissen, wie einem Süchtigen zu helfen ist.

Besonders hübsche Tipps, wie das geht, bietet eine Broschüre des Vereins „Fixpunkt“. So sollen Anwohner rumliegende Spritzen nur mit einer Pinzette aufgreifen. Die Bürger Berlins teilen sich dann demnächst in zwei Gruppen auf: Die einen haben Messer bei sich – die anderen Pinzetten. Haben sich die Anwohner trotzdem an der Spritze gestochen, sollen sie ihr Blut erstmal nicht abstillen. Es spült die Keime aus der Wunde.

Ist eine Person eingeschlafen, könnte das laut Fixpunkt der Anfang einer Vergiftung sein. Der Passant solle den Herumliegenden wachhalten, mit ihm sprechen, zum Gehen bewegen und ans Atmen erinnern. Eine Atemspende kann in manchen Fällen einem Herzstillstand vorbeugen. Zwar bestehe dann ein Ansteckungsrisiko mit Covid, aber: „Eine Impfung gegen Covid-19 schützt!“

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Das Problem ist nur: Es liegen halt sehr viele Menschen im Kiez rum. Sie liegen auf den Spielplätzen für Kinder. Auf den Zugängen zur U-Bahn oder zur S-Bahn. Sie liegen in der öffentlichen Toilette. Und die Sparkasse schließt mittlerweile ihr Service-Zentrum in der Großgörschenstraße über Nacht, weil da zu viele drin gelegen haben. Wer die alle wachhalten und beatmen will – und es gesund übersteht –, der muss morgens sehr früh aufstehen, wenn er rechtzeitig zur Arbeit kommen will, um die Steuern zu erwirtschaften, die den Fixpunkt mitfinanzieren. Aber der Verein ist auch für etwas gut: Die Mitarbeiter verstehen den Ärger der Anwohner vollkommen.

Der Fixpunkt ermahnt die Leser seiner Broschüre zu Toleranz: „Es reicht nicht, das Problem einfach an die Polizei zu übergeben.“ Das Problem selbst in die Hand zu nehmen – am Ende sogar „auf die autoritäre Art“ – sei auch „kontraproduktiv“. Aber was löst dann das Problem? Das steht nicht in der Broschüre. Wäre genauso kontraproduktiv: Gäbe es keine Drogenszene, gäbe es keinen Fixpunkt. Kein Streetwork-Projekt. Keine Nachtläufer. Kein Drogennotdienst und so weiter.

In der Broschüre des Fixpunkts sind die Süchtigen nette Menschen, mit denen man gut sprechen kann und die für vernünftige Lösungen offenstehen. Der Alltag sieht anders aus. Vollkommen anders. Der Verwaltungsmitarbeiter, der für die öffentliche Toilette am Bahnhof Yorckstraße zuständig ist, erzählt: Die Süchtigen verbarrikadieren sich in der Toilette. Kommen Techniker oder Reinigungskräfte, um sich um das Gebäude zu kümmern, greifen sie diese an. Auch gäbe es mutwillige Sachbeschädigungen, um die Toilette für andere unbrauchbar zu machen.

Für ihren eigentlichen Zweck fällt diese Toilette aus. Trotzdem halten Stadt und ihre Drogenberater sie für wichtig. Denn diese Toilette sei „perfekt“ für ihre „Klienten“, um sich zurückzuziehen, sagt die Mitarbeiterin des „Notdienstes für Suchtmittelgefährdete und -abhängige“. Damit hat sie die Drogenpolitik, für die sie und die Stadt Berlin stehen, unwillentlich auf den Punkt gebracht – mit der Toilette als perfekten Ort für Drogensüchtige.

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Es ist eine Politik der Kapitulation. Eine Kapitulation gegenüber denen, denen die Stadt vermeintlich helfen will: Der Süchtige ist demnach letztlich ein Mensch, der auf der öffentlichen Toilette genau richtig aufgehoben ist. Das würde man so nie sagen. Dann wären die ganzen Etats für Fixpunkt, Notdienst, Nachtläufer, Krisenwohnung und so weiter kaum noch zu erklären. Aber letztlich zählen Taten. Und da wünscht sich die Stadt Berlin, dass die Süchtigen von den öffentlichen Toiletten ihrer Wahl nicht verdrängt werden.

Das wiederum ist eine Kapitulation gegenüber den Bürgern. Die müssen mit Spritzen auf ihren Straßen leben – „wir verstehen ihren Ärger“. Wenn sie von Unzurechnungsfähigen angegriffen werden, können sie die Polizei anrufen – für die Statistik – und dann fliehen. Liegt da aber auf dem Weg zur Arbeit jemand in seiner Rotze, stinkend, mit Kot und Urin überzogen, dann soll man den wiederbeleben, ans Atmen erinnern und beatmen. Nur die Covid-Impfung dabei nicht vergessen. Der Fixpunkt kann gerade nicht. Der sitzt an seiner nächsten Broschüre.

Am Tag, an dem der Nachbarschaftstreff stattfand, hat das Columbiabad verkündet, dass es vorläufig schließen muss. Aus Personalmangel. Die Mitarbeiter haben keine Lust mehr, für wenig Geld verzogene Muttersöhnchen mit Machoallüren zu hüten – um sich nach der Arbeit von ihnen den Schädel einschlagen zu lassen. Warnsignale gesendet hatten die Mitarbeiter zuvor mehr als genug. Aber Berlin ist die Hauptstadt der Kapitulation.

So geht denn auch der Nachbarschaftstreff in der Katzlerstraße auseinander. Eine Anwohnerin hat zwar gesagt, sie werde jetzt alle zwei Stunden die Polizei anrufen. Dass sie den Vorsatz aber wirklich umsetzen wird, glaubt sie wohl selber nicht so recht. Die Besucher sind nicht mal sauer. Eher resigniert. Sie haben sich an die Kapitulationen der Stadt längst gewöhnt. In Berlin im Juli 2023: „Wir verstehen ihren Ärger.“


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