Tichys Einblick
Ein Wort, nicht von dieser Welt

Wie die Amtskirche in der Corona-Zeit ihre uralte Pflicht zum Beistand vergaß

Zum Rückblick auf die autoritären Corona-Maßnahmen gehört das Verhalten der Amtskirche. Sie stand stramm an der Seite von Staat und Medien. Und vergaß ihre uralte Pflicht: Einsamen und Kranken beizustehen. Bei aller Weihnachtsmilde: Es gibt keinen Grund, dieses moralische Desaster zu vergessen.

Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Katholikentags und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

IMAGO / epd

Seit dem 20. Dezember 2022 steht ein Beitrag auf der Facebook-Seite der Sängerin Julia Neigel, der möglicherweise der am häufigsten gelesene nichtjournalistische Text des Jahres werden könnte. Sie schrieb ihn zum ersten Todestag eines nahen Verwandten, der Ende 2021 wegen einer Routineoperation und mit einem negativen Coronatest in ein Krankenhaus kam, dort unter die totale Besuchssperre fiel, und nach dreiwöchiger Isolation an Einsamkeit zugrunde ging. Neigels Text wirft zum einen ein grelles Licht auf das Corona-Regime in Deutschland, das noch vor einem Jahr herrschte, getragen von einem Selbstbestätigungszirkel aus Politikern, Medienverantwortlichen und Technokraten. Den Kern dieser Coronapolitik bildete die Entscheidung dieser drei Parteien, Menschen vor allem als eine Art biomechanischen Virenträger wahrzunehmen und die gesamte Gesellschaft dem zu unterwerfen, was damals die Zahlen genannt wurde.

Zum zweiten zeigt ihr Text die immer noch strikt getrennten Sphären in der Gesellschaft. Auf den Plattformen Facebook und Twitter findet er Tausende Leser. Viele von ihnen beschreiben ähnliche Erfahrungen in ihrer Familie. In den allermeisten klassischen Medien spielt Neigels Text bisher keine Rolle. Und auch nicht bei einer Institution, deren Vertreter sich in diesen Tagen nach seiner Lektüre am besten still zurückziehen sollten – der Amtskirche.

Zunächst soll an dieser Stelle Neigels Text ausführlich zitiert werden.


„Heute, vor einem Jahr, starb ein uns nahestehender und geliebter Mensch. Er gehörte zu uns. Er gehörte zu mir. Er ist nicht vergessen.
Er war ein lebensfreudiger, geselliger, agiler Rentner, der noch selbst Auto fuhr, täglich Zeitung las, für sein Leben gern feierte, Tiere hielt, sich selbst versorgte, seinen Garten selbst pflegte und ständig an der frischen Luft war. Er war äußerst robust. Er gehörte der Generation derer an, die den Krieg überlebten und das Land wieder aufgebaut haben. Ich kannte ihn mein halbes Leben lang und ich habe ihn sehr geliebt. (…)
Er kam wegen eines Routineeingriffs und mit negativem PCR-Test in eine Klinik und wurde einen Tag später Opfer eines Besuchsverbots aller Patienten. Bis dahin war er von seiner Lebenspartnerin und seinem häuslichen und familiären Umfeld nie länger als ein paar Stunden getrennt. Dann verschwand er vor unseren Augen für Wochen hinter verschlossenen Türen, ohne dass wir erfahren durften, was mit ihm dort genau geschieht. Ich hatte als Künstlerin zu diesem Zeitpunkt schon berufliches Tätigkeitsverbot, und dann kam das. Sie nahmen uns die Kontrolle der Fürsorge über uns geliebte Menschen weg.
Für dieses dauerhafte Besuchsverbot gab es keine Ermächtigungsgrundlage:
In §28 a Abs. 2 Satz 2 IfSG steht:
„Schutzmaßnahmen (…) dürfen nicht zur vollständigen Isolation von einzelnen Personen oder Gruppen führen; ein Mindestmaß an sozialen Kontakten muss gewährleistet bleiben“
Mit sozialen Kontakten ist nicht das Klinikpersonal gemeint, sondern das eigene, persönliche Umfeld des Patienten. Selbst ein Strafgefangener darf keiner dauerhaften Isolation seines sozialen Umfelds unterzogen werden, denn diese Methode fiele unter die Definition der psychischen Folter und Körperverletzung und die des staatlichen Machtmissbrauchs von Personen, durch Vertreter in einer Garantenstellung und anhand der Fürsorgepflicht.
Das Verbot der totalen Isolation eines Patienten in Kliniken oder Pflegeheimen besteht schon seit dem Frühjahr 2021, um seelische Verletzungen und das Brechen des Lebenswillens alter, oder kranker Menschen zu vermeiden. Das aber gebietet sich schon allein anhand Empathie, Menschlichkeit und Achtung der Würde. Doch es interessierte in dieser Klinik im Herbst/Winter 2021 offensichtlich niemanden – wie offenbar auch in manch anderen Kliniken und Seniorenheimen in der Bundesrepublik Deutschland zu dieser Zeit. Es ist leicht, alte Menschen quasi schon im Leben für tot zu erklären und durch Unterlassen diese sterben zu lassen, wenn kein Nahestehender dabei kontrollieren kann, was mit diesen hinter verschlossenen Türen geschieht. (…)
Er war schwerhörig, konnte deshalb nicht telefonieren und ohne Hörgerät dann gar niemanden mehr verstehen, als nach einer Woche in der Klinik seine Hörgerätbatterien versagten und er nur noch mit den Augen seine Umgebung vollständig wahrnehmen konnte. Über 3 Wochen wartete er auf uns, wohl ohne zu wissen, warum wir nicht bei ihm waren, ihn nicht pflegten, seine Hand hielten, ihn fütterten, für ihn da waren, ihm menschliche Wärme, Liebe und Lebensmut gaben, was wir sofort getan hätten, wenn ein Klinikchef es nicht verboten hätte. Es ginge ihm gut … er habe die OP gut überstanden … er lässt Grüße ausrichten … er wolle nach Hause … er würde nichts essen wollen … es ginge ihm schlechter … er wäre krank… erzählten uns die Pfleger am Telefon, während wir immer nervöser wurden. Obwohl er offensichtlich nach Hause wollte, ließ man ihn einfach nicht raus. Wir kämpften deshalb um seine Rechte und zogen vor Gericht.
Als wir, nur mit Hilfe eines Anwalts, endlich zu ihm durchdringen konnten, lag er schon dreieinhalb schrecklich lange Wochen allein in einem stickigen Raum, flach auf dem Rücken ans Bett gefesselt, ohne Thrombosestrümpfe, konnte sich kaum noch rühren, war ohne Lesestoff, Telefon und Fernseher, das Wasser stand eineinhalb Meter weg, bei dauerhaft zugesperrtem Fenster, durfte seit 3 Wochen sein Zimmer nicht eine Minute verlassen und konnte schon lange nicht mehr aufstehen. Er hatte Tage nichts gegessen und getrunken, bekam keine Infusionen, starrte mit eingefallenen Augen die Wand an und hatte eine Lungenentzündung. Es war offensichtlich, dass niemand ihn wenigstens gefüttert, oder ihm genügend Flüssigkeit zugeführt hatte, ihn regelmäßig mobilisiert hatte – man habe dafür keine Zeit, hieß es. Er lag weder auf der geriatrischen Station, oder Intensivstation, oder Palliativstation. Ich erkannte ihn nicht wieder. Er hatte gerade noch die Kraft 2 leise nuschelnde Sätze zu uns zu sagen: „Wochen“ und „Hab gewartet“. Obwohl es hieß, dass er nichts essen wolle, ließ er sich dennoch von uns füttern. Als ich mit der Ärztin sprach und Akteneinsicht wollte, stellte sie fest, dass ich ihn wohl sehr lieben würde, so, als ob ein alter Mensch es nicht wert wäre? Natürlich, was denn sonst? Trotzdem bekam ich keine Einsicht in die Arztakte. Es war wohl die letzte Nahrung, die er bekam, nämlich durch uns.
Seiner Lebensgefährtin wurde dann 2 Tage später, am Tag seines Todes, wegen allgemeinem Besuchsverbot erneut der Zugang zu ihm verweigert. Sie stand stundenlang in der klirrenden Kälte vor der Kliniktür und weinte bitterlich, während man ihm schon Morphium verabreichte, was atemdepressiv macht und ihn endgültig tötete. (…) Sie sagt bis heute: Was man ihm und ihr angetan habe, das erinnere sie an die Demütigungen des Krieges, den sie als junges Mädchen erlebt habe. Der Rechtsbetreuer, der per Gericht 2 Tage zuvor eingeschaltet wurde, kam genau einen Tag zu spät. Er starb also, ohne dass seine Partnerin bei ihm sein konnte und der beauftragte Betreuer sah, welchen Zuständen er ausgesetzt worden war. Auf seinem Totenschein stand eine andere Diagnose, als die tatsächliche Todesursache.
Unser geliebter Mensch kam wegen eines Zipperleins in eine Klinik rein und dreieinhalb Wochen und mit 10 Kilo weniger später tot wieder heraus, ohne dass wir ihn vor Einsamkeit und Vernachlässigung schützen konnten – ohne dass wir sein Wohlbefinden, als seine Liebsten, kontrollieren konnten, ohne zu wissen, wie mit ihm umgegangen wurde und ohne uns verabschieden zu können. Die Klinik verschluckte ihn und spuckte ihn tot wieder aus. Das war’s. Er war stark – denn sonst hätte er diesen beklemmenden, stickigen, schrecklichen, abgeschotteten Raum, in dem er praktisch gefangen gehalten wurde, keine dreieinhalb Wochen ertragen. Ich vermisse ihn jeden Tag, denn er wurde uns entrissen.
Als seine Habseligkeiten, zusammengewürfelt in einem blauen Müllsack, zurückgegeben wurden, lagen die neuen Hörgerätebatterien immer noch ungeöffnet und seit 2 Wochen in der Tasche. Niemand hatte sie ausgetauscht, obwohl telefonisch zugesichert.
Der Schmerz um sein Leid und seinen Verlust ist unermesslich, vor allem, weil es vermeidbar gewesen wäre und er das nicht verdient hat. Er war zu jedem immer freundlich, hat immer gearbeitet, hat sein Leben lang in die Kasse einbezahlt, um eben gerade nicht so behandelt zu werden und so zu enden – so zum Sterben einfach abgelegt. (…)
Es war der extreme Lockdown-Fanatismus und deren aggressivsten Verfechter, dem keine Grenzen geboten wurden, weswegen unsere Gesellschaft in den Zustand der emotionalen Taubheit und Blindheit für all das Leid anderer Menschen verfiel. (…)
Verzeiht die Länge des Textes, doch es ist nicht nur ein Nachruf von einem mir geliebten Menschen, sondern auch der Appell an uns alle, dass das nie mehr, nie mehr passieren darf und wir alle dazu beitragen können. Beendet das Schweigen, macht auch eure Erlebnisse publik. Dann wird sich auch etwas grundlegend ändern.“


Neigel weist in einem folgenden Eintrag darauf hin, dass die Totalisolation von Kranken zu dem Zeitpunkt, da ihr Verwandter in die Klinik kam, gegen das geltende Recht verstieß. Die Verantwortlichen konnten sich also schon damals nicht auf Coronaregeln berufen. Und heute erst recht nicht mit der Formel‚ ‚das war damals eben so‘ herauswinden. Sie schützten damals Menschen zu Tode – in Krankenhäusern wie in Pflegeheimen –, weil ein politisch-medial-technokratischer Komplex täglich auf allen Kanälen die Botschaft herunterhämmerte, nur mit den allerhärtesten Maßnahmen ließe sich die in diversen Kurven modellierte Katastrophe noch aufhalten. Weil Kommentatoren des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der wohlgesinnten privaten Medien in einem Wettbewerb standen, wer die härtesten Maßnahmen forderte. Und weil sie über die Folgen ihrer Maßnahmen, von der Schulschließung bis zur vereinsamenden Isolation tausender Kranker und Pflegebedürftiger, nicht nachdenken wollen. Übrigens bis heute. Die warnenden und differenzierten Stimmen, die es durchaus gab, kreischte dieser Komplex mit Begriffen wie SchwurblerLeugner und anderen Textbausteinen routiniert nieder.

Und das führt geradewegs zu der Frage, ob damals nicht schon allein wegen ihres Auftrags zumindest eine Institution ihr Wort hätte erheben und es verhindern müssen, dass der Staat Schutzbefohlene buchstäblich zu Tode schützte. Wo war die Kirche?

Wo ihre Funktionäre standen, lässt sich an ihren Äußerungen ziemlich gut nachzeichnen. Die folgende Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es gab durchaus eine Reihe von Pfarrern und Priestern, die versuchten, Einsamen und Kranken Zuwendung zu geben. Aber diejenigen, die an der Spitze des Apparats standen und immer noch stehen, postierten sich fest an der Seite des autoritären Maßnamenstaates. Beispielsweise in der Frage der Impfpflicht, die immerhin nichts weniger bedeutete als den Versuch, das Recht auf körperliche Unversehrtheit im Namen der Seuchenbekämpfung beiseitezuwischen. Als die Impfpflicht Anfang 2022 im Bundestag scheiterte, kommentierte die Präsidentin des Zentralkomitees der Katholiken (ZdK) Irme Stetter-Karp, das sei „eine verpasste Chance in einer ernsten Lage“. Denn: „Spätestens jetzt“ hätte für eine Impfpflicht entschieden werden müssen, so Stetter-Karp, „um endlich vor die nächste Welle zu kommen“.

Auch der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick dekretierte eine „moralische Impfpflicht“.

screenshot katholisch.de

Wie viele andere kirchliche Würdenträger verbreitete er an vorderster Front die Mär, die Impfung diene auch oder sogar vor allem dem Fremdschutz – eine Behauptung, die noch nicht einmal die Hersteller der Impfstoffe selbst aufgestellt hatten.

Schick gehörte auch zu den Erstunterzeichnern der „Bamberger Erklärung“ gegen „rechtes Gedankengut und Verschwörungstheorien rund um die Corona-Proteste“. Darin hieß es: „Wir rufen alle Mitbürgerinnen und Mitbürger auf, ihre Teilnahme an Demonstrationen und ‚Spaziergängen’ abzusagen, wenn dort demokratiefeindliche oder rechtsextreme Meinungen durch Anwesenheit solcher Kräfte vertreten werden oder diese als Veranstalter auftreten.“ Die Behörden rief Schick zusammen mit anderen Kirchenfunktionären auf, „die Einhaltung von Auflagen bei Versammlungen sicherzustellen und auch konsequent durchzusetzen“.

Dem Staat und seinen Maßnahmen gehorchen, sie nicht kritisieren, individuelle Rechte der imaginierten Gemeinschaft unterordnen: So lautete auch das fromme Credo des Militärbischofs Franz-Josef Overbeck im Januar 2022. In einer Predigt im Kölner Dom sagte Overbeck damals, bei der Entscheidung über eine Impfung gehöre es „zur Pflicht eines jeden, nicht nur sich selbst und seine Individualrechte, sondern auch die Rechte der Gemeinschaft genauso zu erwägen und in Anschlag zu bringen“.

Im Dezember 2021, also in der Zeit, als Julia Neigels Verwandter im Krankenhaus lag und an Vereinsamung zugrunde ging, rechtfertigte die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Annette Kurschus den faktischen Ausschluss Ungeimpfter von Gottesdiensten durch die 2G- und 3G-Regel in den allermeisten Kirchen. „Alle, die in diesem Jahr zu Weihnachten einen Gottesdienst feiern wollen, werden dazu die Gelegenheit haben“, sagte Kurschus in einem Interview der Welt, fügte aber gleich an: „Dies allerdings nach 2G- beziehungsweise 3G-Regeln, inklusive Prüfung von Impfzertifikaten.“ Auf den Einwand, die Kirche sollte erstens für alle offen sein, und zweitens würden gesunde Ungeimpfte andere nicht mehr oder weniger gefährden als Geimpfte, antwortete Kurschus im Politikerduktus: „Darauf antwortete ich: Gerade weil Jesus alle einlädt, muss sich jeder und jede Einzelne so verhalten, dass wirklich alle kommen können – auch die besonders Gefährdeten, ohne sich einem erhöhten Risiko auszusetzen. Wir wissen längst: Wer sich impfen lässt, schützt auch andere.“

Der Rottenburger Bischof Gebhard Fürst schloss Ende November 2021 „Impfverweigerer“ und Kritiker von Corona-Maßnahmen sogar ausdrücklich aus den kirchlichen Fürbitten aus. Sie „nehmen nicht nur das Risiko in Kauf, selbst zu erkranken“, behauptete er bei einem Gottesdienst in der Evangelischen Stadtkirche in Ludwigsburg: „Den eigentlichen Schaden fügen sie damit den Schwächsten zu.“ Und weiter: „Die Unvernünftigen und Uneinsichtigen“ raubten den Kindern „eine unbeschwerte Kindheit“ und nähmen alten Menschen die letzten Jahre. „Als Christen können wir nicht tatenlos zusehen. Querdenkern kann unser ‚Hosanna’ nicht gelten.“ Dass Kinder massenweise von der Schulbildung ausgeschlossen wurden, dass Alte vereinsamt starben – das war laut Fürst also Schuld der Ungeimpften und Falschdenker.

Diese rigorose Exklusion von Menschen gab es nicht nur in der deutschen Amtskirche. Noch im Januar 2022 schloss der Bischof der westitalienischen Diözesen Teano-Calvi und Alife-Caiazzo, Giacomo Cirulli, Ungeimpfte vom Austeilen der Eucharistie aus. „Ungeimpften Priestern, Ordensleuten und Laien ist es untersagt, den Gläubigen die Eucharistie zu spenden“, teilte er mit – unabhängig von deren Gesundheitszustand.

Großzügigkeit zeigten führende Kirchenvertreter vor allem dann, wenn es darum ging, sich anschließend Absolution zu erteilen. In einem Interview mit Cicero sagte Kurschus im Februar 2022 auf die Frage, ob die Kirche denn nicht hätte einschreiten müssen, als Tausende in Krankenhäusern und Heimen wegen der Coronamaßnahmen härter isoliert wurden als Strafgefangene: „Wer stirbt, wünscht sich den Sohn oder die Tochter, die Eltern, die Ehefrau oder den Partner an seinem Bett. Hier waren wir – so schätze ich es im Rückblick ein – womöglich zu vorsichtig. Im Nachhinein bereue ich, nicht lauter gesagt zu haben: ‚Wir müssen sofort alles tun, um verantwortliche Ausnahmeregelungen zu schaffen.‘ Inzwischen ist das ja Gott sei Dank längst viel besser geregelt. Wir haben gelernt.“

Alles geregelt. Ein bisschen Reue im Nachhinein. Gott sei Dank alles vorbei. Ihre bürokratisch-staatsfromme Position bezogen die meisten Kirchenoberen schon im ersten Coronajahr. Unvergessen, wie die EKD-„Luther-Botschafterin“ und frühere EKD-Ratsvorsitzende im Dezember 2020 dozierte, es gebe „kein Recht auf Weihnachten“. Hier noch einmal das ausführliche Zitat aus dem Interview im Deutschlandfunk vom 21. November vor zwei Jahren:

„Tobias Armbrüster: Frau Käßmann, haben die Menschen in Deutschland ein Recht auf ein Weihnachtsfest im Kreis der Großfamilie oder im großen Freundeskreis?
Margot Käßmann: So ein Recht auf so ein Weihnachtsfest gibt es nicht, und ich denke, dass wir sagen müssen, dass Weihnachten dieses Jahr anders sein wird. Das ist ganz klar unter Corona-Bedingungen und damit müssen wir uns abfinden. Wir dürfen uns da ja auch nichts vormachen, als sei am 23. Dezember die Welt auf einmal eine andere, eine ohne Corona, und jetzt können wir richtig feiern. Dann wachen wir alle auf am 28. Dezember und die Infektionszahlen gehen dramatisch in die Höhe.“

Im gleichen Jahr schrieb Christian Stöcker im Spiegel flankierend: „Jesus hätte Oma nicht besucht“.

Screenshot spiegel.de

Von diesen Kirchenvertretern und ihren medialen Begleitmusikern durfte sich der Verwandte von Julia Neigel nichts erwarten. Die Amtskirche stand stramm zur Impfpflicht, gegen Ungeimpfte und Maßnahmenkritiker. Sie wiederholte und verstärkte bis auf wenige Ausnahmen die staatlichen Parolen inklusive aller Falschbehauptungen. Sie tummelte sich auch ansonsten auf den politisch-medialen Plätzen, auf denen großes Gedränge der Wohlmeinenden herrscht, vom neu designten gendergerechten Namen Gottes („Gott Plus“) über den Transfer von Migranten nach Europa bis zur Unterstützung der „Letzten Generation“. Für isolierte Kranke – also die von der Bibel gemeinten Nächsten – fühlte sie sich unzuständig.

In dem christlichen Glauben steckt immer noch ein Stachel und eine Provokation. Wäre er gleichgültig, dann ließe es sich nicht erklären, warum Kulturstaatsministerin Claudia Roth dermaßen darauf brennt, den Bibelspruch an der Kuppel des Berliner Schlosses durch eine „künstlerische Intervention“ zu überblenden (wobei sie nicht mitteilte, wodurch er eigentlich überblendet werden soll; wichtig scheint ihr nur zu sein, dass er verschwindet).

Von Gilbert Keith Chesterton stammt der Satz, auch in der Gottesverleugnung stecke noch Glauben – man sollte nur einmal versuchen, probehalber einen blasphemischen Witz über Thor zu machen. Das Bedürfnis nach Trost und Transzendenz ist also höchst lebendig. Nur die Amtskirche stirbt. Ihre Vertreter haben die gleichen Biografien wie die meisten Politiker und Medienvertreter, sie benutzen die gleichen Textbausteine, sie pflegen die gleichen Feindbilder. Wer sich auf den evangelischen Kirchentag begibt, kann auch einem Parteitag der Grünen beiwohnen und umgekehrt.

Wahrscheinlich ist das Bedürfnis von sehr vielen heute sogar größer als vor Corona, ein Wort zu hören, das nicht von dieser Welt ist.

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